Komplexität ist in unserer gegenwärtigen Welterfahrung deutlich spürbar: Im technischen Fortschritt insbesondere innerhalb des Internets, der internationalen Migrationsströme, der Ausbildung transkultureller Identitäten und vielem mehr – kurz: der allgemeinen Zunahme von Informationen, Lebensentwürfen und Wahlmöglichkeiten. Blickt man auf die künstlerischen Ideen im Umfeld dieser Ausdifferenzierungsprozesse, ist die „Postmoderne“ ein Schlüsselbegriff: Literatur wagt sich hier grenzüberschreitend an naturwissenschaftliche Themen heran, das Heterogene soll verbunden werden. Eine adäquate Darstellungsform, die Heterogenes vereint, die Pluralismus und Polyphonie darstellt, bietet in dieser Hinsicht das multiperspektivische Erzählen, welches in der Literatur seit jeher eingesetzt wird und mittlerweile auch im Film zunehmende Verwendung findet.
Da die übliche Forschungsliteratur zu der relativ jungen Darstellungsform des multiperspektivisch erzählten Films mit ihren mannigfaltigen und sich zum Teil widersprechenden Begriffen mehr Verwirrung produziert als beseitigt, steht im Zentrum dieser Arbeit die Analyse zweier Spielfilme (RASHOMON aus dem Jahr 1950 und SYRIANA aus dem Jahr 2005), die beide, auf sehr unterschiedliche Weise, multiperspektivisch erzählen.
Die Verfasserin will anhand dieser beiden Filme die Bandbreite wie die Funktionalisierungen dieses Erzähltypus erkunden, sowie am Rande auf die historischen Hintergründe und Entwicklungen desselben eingehen.
Am Ende steht die Einsicht, dass RASHOMON und SYRIANA sich nicht nur sehr unterschiedlicher Formen multiperspektivischen Erzählens bedienen, welche auf gewisse Weise zwei Extrempunkte auf einer Linie bilden.
Darüber hinaus wird argumentiert, dass multiperspektivisches Erzählen in den beiden Filmen unterschiedlich, ja diametral entgegengesetzt funktionalisiert wird. So wird in RASHOMON multiperspektivisches Erzählen zur Destabilisierung
von Gewissheiten über die Darstellbarkeit der Welt eingesetzt, währenddessen im Fall von SYRIANA multiperspektivisches Erzählen zur Vertrauensbildung in diese Darstellbarkeit fungiert.
Inhalt
1 Einleitung: Multiperspektivität als zeitgemäße Form des Erzählens
1.1 Problemstellung: Die spezifische Komplexität von multiperspektivisch erzählten Filmen
1.2 Zielsetzung: Analyse der Erzählstrategien/ Mittel des Komplexitätsaufbaus
2 Konzepte/ Begriffe und Methoden
2.1 Räume, Grenzen und Ereignisse
2.2 Komplexität
3 Filmanalyse
3.1 Multiperspektivität in „Rashomon“
3.1.1 Räume, Grenzen und Ereignisse
3.1.2 Erzählstrategie und Komplexitätsaufbau
3.1.3 Wahrheit und Sinn
3.2 Multiperspektivität in „Syriana“
3.2.1 Räume, Grenzen und Ereignisse
3.2.2 Erzählstrategie und Komplexitätsaufbau
3.2.3 Wahrheit und Sinn
4 Resümee
5 Anhang
6 Literaturverzeichnis
7 Erklärung zur ordnungsgemäßen Abfassung der vorliegenden Arbeit
1 Einleitung: Multiperspektivität als zeitgemäße Form des Erzählens
Komplexität ist im 21. Jahrhundert allgegenwärtig. Die Globalisierung von Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur bestimmt unser Denken und Handeln, unterschiedlichste Informations- und Kommunikationstechnologien versorgen uns mit Informationen aus aller Welt und vernetzen uns, transkulturelle Identitäten bilden sich durch Migration, neue Technologien entwickeln sich rasch und bleiben in ihrer Entstehung für den Laien mehr und mehr undurchschaubar – eine Liste, die sich beliebig weit fortführen ließe. All diese Phänomene stellen eine Art Komplexitätssteigerung bzw. Grenzüberschreitungen dar oder thematisieren sie. Doch nicht nur im täglichen Leben werden wir mit ihnen konfrontiert, sondern auch in der reflektierenden Darstellung von bzw. Beschäftigung mit ihnen – in Literatur und Film. Mit Beginn der Postmoderne Mitte der 1960er Jahre wenden sich Literaturschaffende Pluralismus und Polyphonie zu, um der Vielgestaltigkeit von Welt und Weltbildern gerecht zu werden: „Sie beschreiben Umbruchphänomene, stellen Verschiebungen und Verwerfungen fest, argumentieren gegen die Unhaltbarkeit von totalistischen Vorstellungen und verweisen auf die veränderte Wirklichkeitswahrnehmung und -aneignung.“[1] Insofern fordert die Postmoderne grenzüberschreitendes und vernetzendes Denken, was inhaltlich zum Beispiel durch „[…] die Öffnung der Literatur hin zu naturwissenschaftlichen Fragestellungen und Modellen […]“[2] geschehen kann.
Eine adäquate Darstellungsform dieser Verbindung des Heterogenen bietet das multiperspektivische Erzählen, welches in der Literatur allerdings sehr viel weiter zurückreicht als bis in die Postmoderne und mittlerweile auch im Film zunehmende Verwendung findet. Als relativ unscharfer Begriff, für welchen auch „Polyperspektivität“ synonym verwendet wird, ist „Multiperspektivität“ bzw. das „multiperspektivische Erzählen“ in seiner gebräuchlichsten Verwendung meist bezogen auf die Narration bzw. die Art und Weise des „storytelling“, wobei multiple und sich oft wiedersprechende Perspektiven etabliert werden.[3] Nach einer Definition von Kerstin Stutterheim und Silke Kaiser steht beim multiperspektivischen Erzählen ein Geschehen oder Thema im Vordergrund, das durch die Perspektiven zweier oder mehrerer Figuren geschildert wird, wobei diese Perspektiven sich ergänzen oder brechen können[4] – in dieser Weise repräsentiert Multiperspektivität auch die Relativität und notwendige Beschränktheit einzelner, subjektiver Perspektiven. Bezogen auf den Film kann dies beispielsweise bedeuten, dass „[…] ein Ereignis mehrfach ausgeführt wird und sich jeweils aus der Perspektive des Erzählers entwickelt.“[5] Oder aber es existiert ein zentrales Thema, das verschiedene Handlungsstränge bzw. Perspektiven unterschiedlicher Personen symbolisch miteinander verbindet, selbst wenn diese nicht in Beziehung zueinander stehen oder sich im Verlaufe des Films treffen.[6] Ersteres ist bei Rashomon der Fall, ein klassisches frühes Beispiel für einen multiperspektivisch erzählten Film, letzteres gilt etwa für Syriana.
1.1 Problemstellung: Die spezifische Komplexität von multiperspektivisch erzählten Filmen
Ein Spezifikum der beiden Filme ist also das multiperspektivische Erzählen. Beide entfalten durch diese spezifische Erzählstrategie bestimmte Elemente von Komplexität, die denen nicht-multipel erzählter Spielfilme ähneln mögen oder sich auch komplett von ihnen unterscheiden. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welches die spezifischen Elemente sind, die in multiperspektivisch erzählten Filmen Komplexität aufbauen, besonders vor dem Hintergrund der zunehmenden Zahl mehrsträngiger Filme in den letzten Jahren,[7] sowie der Frage nach der adäquaten Darstellung von komplexen Zusammenhängen – denn es ist naheliegend, dass „[…] die Zunahme von Komplexität in nahezu allen Bereichen des menschlichen Wissens und Handelns eine solche Erzählweise geradezu herausfordert, denn wie sonst ließen sich komplexe Zusammenhänge […] anders, will sagen angemessener, darstellen als durch eine Pluralisierung der Perspektive?“[8]
Bezüglich der Zunahme mehrsträngiger Filme gilt bis in die 1980er hinein, dass Multiperspektivität im Film als nicht massentauglich, als zu komplex, als zu viel Aufmerksamkeit und Integrationsleistung fordernd gesehen wird.[9] Einige Hollywoodproduktionen lassen sich ab Ende der 1980er-Jahre finden, von einem regelrechten Trend kann man ab Mitte der 1990er sprechen, der sich bis heute fortsetzt, auch außerhalb des US-amerikanischen Marktes.[10] Mittlerweile ist Multiperspektivität also längst im Mainstream angekommen. In diesem Zusammenhang steht auch die Auswahl der Filme, die in dieser Arbeit analysiert werden sollen: Rashomon stellt ein klassisches, frühes Beispiel eines mehrsträngigen Films aus dem Jahr 1950, wenn nicht sogar den Startpunkt des multiperspektivischen Erzählens dar.[11] Zum einen soll er zusammen mit Syriana, einem US-amerikanischen, mehrsträngigen Film aus dem Jahr 2005 analysiert werden, um die Entwicklung hin zum nachhaltigen Erfolg dieser Form nachzeichnen zu können, zum anderen, um einen (natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebenden) Möglichkeitsraum dessen zu eröffnen, was Komplexität im multiperspektivisch erzählten Film bedeuten kann. In dieser Hinsicht soll eine große Bandbreite, ein möglichst großes Spektrum aufgezeigt werden. Rashomon ist dabei ein klassisches Beispiel, in dem ein einziges Ereignis aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird. Damit wird mit Rashomon erstens eine andere Art des multiperspektivischen Erzählens aufgefahren als in Syriana, zweitens wird diese nicht verwendet, um ein großes Ganzes mit Hilfe verschiedener Stimmen darzustellen, sondern um genau dieses „Ganze“ in Frage zu stellen – den einzelnen Stimmen im Film kann man nicht trauen, sie erzählen sich widersprechende Geschichten. Syriana dagegen hat ein großes Thema zum Gegenstand, das die ansonsten voneinander abgetrennten Protagonisten miteinander verbindet. Ihre Perspektiven werden dargestellt, um einen komplexen Sachverhalt „realistischer“ wiederzugeben, sie konstruieren also ein „Ganzes“, anstatt verschiedene Versionen davon aufzuzeigen – eine komplett andere Strategie als in Rashomon. Bezüglich der beiden Filme könnte man insofern sogar von zwei Extrempunkten sprechen, die das multiperspektivische Erzählen im Film darstellen.
1.2 Zielsetzung: Analyse der Erzählstrategien/ Mittel des Komplexitätsaufbaus
Diese verschiedenen Strategien des Erzählens, mit denen unterschiedliche Arten von Komplexität aufgebaut werden, sollen im Hauptteil der Arbeit analysiert werden. Da multiperspektivisch erzählte Filme ersichtlicher Weise mit verschiedenen Räumen arbeiten (allein schon durch die Vielzahl unterschiedlicher Episoden bzw. Stories und die jeweiligen Personen, mit denen diese „gefüllt“ sind) und diese Räume sich durch bestimmte Grenzen definieren, soll den Räumen, Grenzen sowie auch möglichen Grenzüberschreitungen im Sinne der Konzepte von Hans Krah und Jurij M. Lotman in beiden Filmen nachgegangen werden. Dies erleichtert die spätere Analyse der Komplexitätselemente. Diese sollen nach dem Versuch einer allgemeinen Definition durch Niklas Luhmann und Albert Kümmel anhand verschiedener Merkmale, die sich durch das multiperspektivische Erzählen ergeben, dargelegt werden: Charakter- und Raumvielfalt, spezifische Formen von Zeitlichkeit, eine Zunahme von Information in Form komplexer Plots bzw. auch von Informationslücken („Leerstellen“ nach Wolfgang Iser), sowie spezifische Genres oder Themen der Filme wie beispielsweise Globalität in Syriana, die durch ihre jeweiligen Inhalte Komplexität aufbauen. Am Ende soll das sich in der Konsequenz ergebende Schema von Wahrheit und Sinn betrachtet werden – mit den beiden Möglichkeiten der Gesamtschau durch verschiedene Perspektiven oder einem Verlust des „Gesamten“, weil die Wahrheit nicht aufspürbar ist. Dieser letzte Punkt ist insofern interessant, da er Aufschluss gibt über die „Weltanschauungen“ der Filme: Der Verlust einer objektiven Wahrheit bzw. die Relativität der Perspektiven und die Gültigkeit subjektiver Wahrheiten – ein Teil des Moderne-Konzeptes[12] – steht der Erklärbarkeit und Darstellbarkeit der Welt in ihrer Komplexität, der Gültigkeit und Aufspürbarkeit einer objektiven Wahrheit gegenüber.
2 Konzepte/ Begriffe und Methoden
Im Folgenden sollen nun die für die spätere Analyse wichtigen Konzepte bzw. Begriffe und Methoden definiert und erklärt werden.
2.1 Räume, Grenzen und Ereignisse
Rashomon sowie Syriana operieren mit vielen unterschiedlichen Räumen. Dabei kann man mit Hans Krah zwischen topographischen – das heißt im wörtlichen Sinne geografisch existenten Räumen – und topologischen Räumen differenzieren. Letzteres bezeichnet solche Formen, „[…] bei denen räumlich konkrete Sachverhalte über semiotische Operationen als Träger für nicht-räumliche Sachverhalte fungieren.“[13] Was den topographisch-geographischen Aspekt angeht, existiert in Rashomon beispielsweise ein „typischer“ Wald als Schauplatz der Vergewaltigung und des Mordes – ein sog. Topos.
Laut Hans Krah handelt es sich bei Topoi um „Gemeinplätze“, „[…] Räumlichkeiten, deren individuelle Ausprägung […] von einer mythisch-kulturellen Bedeutungsebene überlagert und überformt [sind] […].“[14] Diese mythisch-kulturelle Bedeutungsebene stellt im Falle des Waldes das „Verborgene“ und das „Geheime“ dar, was später noch genauer ausgeführt wird. Auch bei Syriana kommen solche Topoi vor: Den großen, unspezifischen und funktionalisierten Konferenz- sowie Büroräumen könnte man ebenfalls diesen „Gemeinplatzcharakter“ zuschreiben, sie dienen allein der Besprechung und tragen keine individuellen Züge. Das Rashomon-Tor kommt in Rashomon als Ort der Rahmenhandlung vor – es besitzt einen „kulturell-referentialisierenden Aspekt“, das heißt es stimmt mit dem außertextuellen, in der Wirklichkeit bestehenden Rashomon-Tor in Kyoto überein und besitzt dementsprechend ein Bedeutungspotenzial, das im Film nutzbar gemacht wird.[15] Auch in Syriana wird dieser kulturell-referentialisierende Aspekt in Form geografisch tatsächlich existierender Räume Thema, wobei gleich zu Beginn des Films ein Raum sichtbar wird, der schon auf der auditiven Ebene durch den Ruf eines Muezzins zum Gebet angedeutet wird. Auf der Bildebene bestätigt sich dann die getätigte Verortung auf der tonalen Ebene, nämlich im Nahen bzw. Mittleren Osten durch eine Kulisse der Wüstenei, die mit Figuren gefüllt ist, die Turbane oder Kopftücher tragen. Neben diesen geografischen Aspekten sind die in beiden Filmen angesprochenen Räume auch semantische Räume, denn ein jeder „[…] besitzt semantische[r] Merkmale, die in ihrer spezifischen Kombination nur er und kein anderer Raum hat;“[16] In Rashomon sind zudem abstrakt semantische Räume denkbar – d.h. Räumen mit Merkmalsbündeln, die von einer topographischen Ordnung gelöst sind.[17] Ein Beispiel hierfür ist der Holzfäller, der vom abstrakt semantischen Raum der „Lüge“, mit dem seine Erlebnisse im Wald verbunden sind in den der „Wahrhaftigkeit“ tritt, als er am Ende das Rashomon-Tor mit dem Neugeborenen verlässt.
In Syriana dagegen sind vor allem medienspezifisch präsentierte Räume Thema, die unter den sog. „perzeptiven Aspekt“ fallen, d. h. von der Wahrnehmung eines Subjektes abhängen.[18] Dieses „Subjekt“ bezeichnet in diesem Fall verschiedene Medien, durch deren Darstellung sich Räume voneinander unterscheiden – Syriana operiert in dieser Hinsicht mit besprochenen Räumen (über das Medium Telefon), sowie mit dargestellten Räumen (durch Berichte im Fernsehen).[19] Mit der Wahrnehmung von Räumen geht auch einher, dass diese in bestimmten Modi zur Darstellung kommen können, das heißt beispielsweise, dass Räume wie in Rashomon imaginiert, erinnert oder auch möglicherweise erlogen sind und in ihren dargestellten Merkmalen nicht existieren, oder aber wie in Syriana real gesetzt sind.[20] Ereignisse sind laut Krah definiert als Grenzüberschreitungen, als „‘Versetzung[en] einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes‘“[21], die auftreten, wenn „[…] das tatsächlich praktizierte Verhalten dem durch das Textparadigma postulierte Verhalten widerspricht […].“[22]
Dabei kann es beispielsweise zu sog. „Metaereignissen“ kommen, die die Grenzen der Räume aufheben, verschieben oder neu konstituieren.[23] Oder aber es treten Ereignisse auf, die den Verlust des konstitutiven Merkmals bzw. die Annahme des oppositionellen bedeuten – dies meint ganz einfach gesagt, dass sich die Merkmalsmenge der Figuren verändert.[24] Was die Ereignisse in Rashomon und Syriana angeht, so lassen sich vor allem solche finden, bei denen es zu ebendiesem Verlust des konstitutiven Merkmals bzw. zur Annahme des oppositionellen kommt. Ein Beispiel wäre die Ehefrau des Samurai, die sich zur Mörderin und Lügnerin entwickelt oder aber der Anwalt Holiday in Syriana, der sich vom moralischen Juristen zum amoralischen Liebesdiener der Ölindustrie mausert und am Ende in diesem korrupten Gegenraum aufgeht. Was Letzteres betrifft, muss es laut Krah bzw. Lotman nämlich immer auch zur Ereignistilgung kommen, um die Narration zu vollenden: Ein ereignishafter Zustand ist nach dem sog. „Konsistenzprinzip“ in einen ereignislosen zu überführen.[25] Dabei kommt es auch in Rashomon vor allem zu einem „Aufgehen im Gegenraum“, d.h. zu einem Verlust früherer Merkmale und „[…] der Annahme der nun konstitutiven.“[26] Der Holzfäller beispielsweise entwickelt sich durch das Baby vom grüblerischen, melancholischen Dieb zum neue Hoffnung schöpfenden Stiefvater. In Syriana kommen zusätzliche Ereignistilgungen nach dem sog. „Beuteholerschema“[27] vor, wobei „[…] mit der Rückkehr in den Ausgangsraum ein Element des Gegenraumes zurück gelangt […].“[28] Einem solchen Schema könnte man etwa das Handeln von Bob Barnes oder auch das von Prinz Nasir zuordnen: Sie versuchen ihr jeweils erlangtes Wissen aus dem Gegenraum – im Falle Nasirs z.B. eine amerikanische Universität, auf welcher er einige Zeit verbrachte – in ihrem Ausgangsraum – Nasir möchte als neuer Emir einen demokratischen Staat in seinem Land errichten – anzuwenden.
2.2 Komplexität
Um mit der Filmanalyse beginnen zu können, muss noch das hierfür wichtigste Konzept im Allgemeinen und im Speziellen definiert werden. „Komplexität“ ist ein schwer zu fassender Begriff, er lässt sich auf unterschiedliche Arten und Weisen, in unterschiedlichen Fachrichtungen denken. Die gesamte Komplexitätsforschung speist sich aus den Erkenntnissen verschiedener Denkansätze aus Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften und stellt fest: Komplexe Systeme weisen eine nichtlineare Dynamik auf.[29] Dies bedeutet, dass sie sich zum einen in der Zeit verändern können – sie sind dynamisch – und zum anderen beschreiben „[…] deren dynamische Gleichungen Rückkopplungen von vielfältigen Ursachen und Wirkungen“[30] – sie sind nichtlinear. Eine ähnliche Konzeption, nur einfacher ausgedrückt, bietet Niklas Luhmann. Komplexität ist hier quasi gleichzusetzen mit einer Zunahme von Elementen und deren Relationen.[31] „Das läßt sich ausarbeiten, wenn man die Elemente nicht nur zählt, sondern qualitative Verschiedenheiten berücksichtigt, und weiter wenn man die Zeitdimension hinzunimmt und auch Verschiedenheit im Nacheinander, also instabile Elemente zuläßt.“[32] Noch abstrakter formuliert könnte man auch von Komplexitätssteigerung als einer Informationszunahme sprechen. In seinem Konzept einer mathematischen Medientheorie spricht Albert Kümmel von Information als Inhalt eines Wortes, als dessen Mitteilung und als Charakterisierung einer Sache, sie formt also die Sache, die sie beschreibt, sie macht einen Unterschied.[33] Des Weiteren besitzt die Information technische sowie semantische Aspekte:
Dabei wählt eine Nachrichtenquelle aus einem Repertoire wählbarer Elemente, denen jeweils eine bestimmte Auftrittswahrscheinlichkeit eignet, eine Nachricht aus, die mittels eines Senders zu einem Signal umgeformt und über einen Kanal und einen das Signal in die Nachricht rückübersetzenden Empfänger an ein Nachrichtenziel übertragen wird. Während der Übertragung ist das Signal verschiedenartigen Störungen ausgesetzt, die es verzerren.[34]
Diese „Störungen“ sind natürlich umso größer, je höher der Informationsgehalt von Nachrichten ist[35]: Je mehr Informationen in einem Text gegeben sind, desto größer werden die Interpretationsmöglichkeiten, desto undeutlicher und ungeordneter ist also der Text selbst. Angewendet auf die filmische Analyse erfordern diese Definitionen eine Präzision – ein Kriterienkatalog, der erfassen kann, was Komplexität im multiperspektivisch erzählten Film bedeutet, wird deshalb im Folgenden festgelegt.
Mögliche Elemente bzw. Informationen in den Filmen könnten sein: Eine Raum- und Charaktervielfalt, die in beiden Filmen allein durch die episodische Struktur gegeben ist. Unterschiedliche Räume – in Rashomon beispielsweise der Ort der Rahmenhandlung, vor Gericht oder der Ort der Haupthandlung im Wald, in Syriana gar auf unterschiedliche Kontinente verteilte Orte – sind voneinander abgetrennt, zahlreiche verschiedene Protagonisten halten sich in den jeweiligen Räumen auf. Zeitkonfusionen stellen ebenfalls eine Informationszunahme dar – in Rashomon wären hier beispielsweise Zeitsprünge von Ebene zu Ebene zu nennen. Die Plots beider Filme sind komplex und bieten dem Zuschauer geballten Stoff – mit einer Charakter- und Raumvielfalt geht logischerweise auch eine Zunahme an Information im Plot eines Films einher-, allerdings fehlen ebenso oft Storyinformationen bewusst, um den Zuschauer aktiv zum Nachvollzug der filmischen Handlung zu bewegen – diese „Leerstellen“ nach Wolfgang Iser können ebenfalls als solche „Störungen“ im Kontext der Informationszunahme interpretiert werden. Auch spezifische Themen steigern Komplexität – Globalität und Vernetzung in Syriana, oder die Untersuchung eines Mordes in Rashomon, der nicht aufgeklärt wird .
3 Filmanalyse
3.1 Multiperspektivität in „Rashomon“
Vor Beginn der eigentlichen Analyse sollen hier, wie in Kapitel 1.1 angesprochen, die historischen Hintergründe von Rashomon und seine Bedeutung für weitere Filme seines Stils kurz umrissen werden, um dann später bei der Besprechung von Syriana auf die Entwicklung zum Erfolg des multiperspektivischen Erzählens eingehen zu können.
Rashomon spielt zeitlich im zwölften Jahrhundert, zum Ende der japanischen Heian-Dynastie.[36] Umso erstaunlicher erscheint es da, dass er mit diesem historischen Stoff und seinen impliziten kulturellen Codes der erste japanische Film war, der kommerziellen Erfolg im Westen hatte, obwohl sich Kurosawa schon damit abgefunden hatte, „[…] sein Lebtag ‚kalten Reis‘ zu essen“.[37] Mit seinen multiplen Perspektiven und seiner Nicht-Linearität kann Rashomon als der erste Film seiner Art beschrieben werden: „Critics had never seen a commercial feature which so successfully abandoned the conventional, objective narrative form. Such experimentation was virtually unheard of.”[38]
Er brachte nicht nur das Konzept der Moderne in das japanische Kino, sondern öffnete mit dem Gewinn des Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig 1951 “[…] die Türen der europäischen Filmkunsttheater für japanische Filme.”[39] Aber auch in den USA erhielt Rashomon große Anerkennung: Beispielsweise gewann er im Jahr darauf den „National Board of Review prize“ und den Oscar für den besten ausländischen Film.[40] Seine geschichtliche Bedeutung wird im Allgemeinen dementsprechend hoch eingeschätzt: Mit Rashomon habe Kurosawa den Weg für Filme wie The Killing, Letztes Jahr in Marienbad oder auch aktuelle Filme wie Lola rennt bereitet.[41] Sogar ein durch den Film entstandener Begriff hat sich etabliert und wird noch heute verwendet: Der „Rashomon-Effekt“ bzw. das „Rashomon-Prinzip“ meint die sich durch das Nebeneinander unterschiedlicher Perspektiven auf einen Vorfall ergebenden multiplen Wahrheiten: Es gibt keine objektive Realität, nur relative, d.h. subjektive Wahrheiten[42]:
Alle vier Erzählungen berichten von demselben Ereignis, dessen Ablauf jedoch von dem Gesichtspunkt und den Interessen des und der einzelnen direkt oder indirekt Beteiligten aus gesehen wird. Das empirische Korrelat, das Ereignis, wird dadurch in seinen grundsätzlichen Zügen nicht in Frage gestellt, doch die Haltung der Einzelnen dazu ist verschieden und damit auch die abweichende Art der Erschließung und Verarbeitung von Information.[43]
3.1.1 Räume, Grenzen und Ereignisse
Versucht man, mögliche Räume in Rashomon zu detektieren, so bietet sich eine große Vielfalt, obwohl die Schauplätze und Figuren in quantitativer Hinsicht überschaubar sind. Zunächst kann man von drei Zeit-Räumen sprechen. Der Raum der Rahmenhandlung fasst die drei Erzählerfiguren: Einen Holzfäller, einen Mönch sowie einen Landstreicher bzw. namenlosen Bürger. Letzterer befragt die beiden nach ihren Zeugenaussagen und den Aussagen des Samurai, der Frau und des Banditen vor Gericht, an welche sie sich in Rückblenden erinnern. Diese in der Vergangenheit liegende Gerichtssituation kann man als zweiten Zeit-Raum bezeichnen, wobei wiederum in Rückblenden das Geschehen im Wald erinnert wird, was den dritten Zeit-Raum darstellt. Insofern ergibt sich eine „doppelt gestaffelte Erzählsituation“.[44] Diese Konstellation kann allerdings noch weiter ausdifferenziert werden: Jede einzelne Figur, die sich an das Geschehen aus ihrer Perspektive erinnert, schafft einen eigenen, subjektiven erinnerten Raum, der sich von denen der anderen erzählenden Figuren unterscheidet: Jeder schreibt den beteiligten Charakteren andere Eigenschaften hinzu, die Ereignisse unterscheiden sich in ihren Verläufen voneinander, lediglich topographische Aspekte bleiben gleich.
Beginnen wir mit dem Raum der übergreifenden Rahmenhandlung. Dieser erhält eine klare Verortung: Die ersten Bilder des Films zeigen das halb zerstörte Tempeltor „Rashomon“ in Kyoto.[45] Insofern kann man von einem topographischen Raum mit kulturell-referentialisierendem Aspekt sprechen: Rashomon war das größte Tor in Kyoto, erbaut als dieses noch die Hauptstadt Japans war. Mit dem Verfall der Stadt begann sich auch Rashomon mehr und mehr in eine Tempelruine zu verwandeln. „Später wurde es zu einem Versteck für Räuber und Diebe, es diente als Lagerstätte für Verstorbene.“[46] Diese Konnotationen lassen sich auch inhaltlich im Film wiederfinden: Der Holzfäller und der Landstreicher beispielsweise stellen sich letzten Endes als Diebe heraus, und auch Tajomaru wird als ein berüchtigter Bandit beschrieben. Regen prasselt während des gesamten Films an diesem Schauplatz herunter, der verfallene Tempel ragt hoch auf, die Charaktere sitzen melancholisch versunken unter dem Dach.[47] Der semantische Raum wird insofern nicht nur von gewissen historischen Bezügen charakterisiert, sondern ist auch bestimmt von zusätzlichen Konnotationen wie Grübelei und Stillstand. Denkt man ihn im Gegensatz zu den anderen Räumen im Rahmen einer Hierarchie, so stünde er in dieser ganz oben: Durch die Figuren Holzfäller und Mönch und deren Erinnerung kommen die restlichen Räume erst zur Darstellung, erst durch deren Erzählungen und Reflexionen, begleitet von den Fragen des Landstreichers, kommen die direkt Beteiligten des Geschehens zu Wort: „Die Frau, ihr Ehemann und natürlich der Räuber – sie werden allein lebendig durch die Projektion dieser beiden, deren Urteil ebenso in Zweifel gezogen werden darf.“[48] Der semantische Raum um das Tempeltor ist also der wichtigste Raum, der Rahmen, der die Story zusammenhält und in der Gegenwart situiert ist.
Außerdem ist er ein dynamischer Raum: Die Kamera wechselt von nahen und halbnahen Einstellungen zu Totalen, von Auf- zu Untersichten[49] und setzt die Protagonisten „[…] in immer wieder neuen Konstellationen […] ins Bild.“[50] Der zweite Zeit-Raum am Gerichtshof dagegen ist schon etwas in die Vergangenheit geschoben, bezüglich seines Modus ist er ein erinnerter Raum, und nur durch diese Erinnerung existent. Holzfäller und Mönch beispielsweise erinnern sich an ihre eigenen Aussagen und die des Banditen, der Frau und des (Geistes des) Samurai.[51] Im Gegensatz zum Ort der Rahmenhandlung ist der Gerichtshof unspezifisch, sehr reduziert und funktionalisiert – würde man ihn nicht als solchen benennen, er könnte auch für einen beliebigen anderen Raum stehen, da er fast leer ist.[52]
Zudem ist er vollständig hell ausgeleuchtet, Schatten, wie im Wald oder beim Tempel gibt es keine, die Kamera bleibt statisch und wechselt nur manchmal von einer Halbnahen zu einer Nahaufnahme, die Einstellungen selbst sind lang.[53] Auch die jeweiligen Zeugen, die zur Sprache kommen, bewegen sich nicht. Sie sprechen alle einen unspezifischen Richter an, der selbst nicht antwortet oder zur Darstellung kommt, die Einstellungen sind jedoch aus seiner Perspektive gefilmt. All dies macht den Raum zu einem nicht verorteten, zweckhaften und abstrakten Raum. Damit wird der Fokus auf die bloße Interpretation der Ereignisse gelegt: „Their [die Szenen; BS] stylistic abstractness serves to identify the courtyard as an entirely theoretical realm, one designed expressly to serve as the setting for the interpretive drama and for no other. And in entering this realm, in assuming the position of the magistrate, we are ourselves defined in an exclusively interpretive role.”[54] Der rein leere Raum, so könnte man somit interpretieren, soll keine Ablenkung schaffen, damit sich die Aufmerksamkeit (des Zuschauers) ausschließlich auf den Akt der Interpretation der Geschehnisse konzentrieren kann. Bestätigt wird diese Annahme durch einen abschließenden Befund von Julika Griem:
Der Eindruck, daß Kurosawas Erzählung durch diese visuelle Strategie die Aufgabe der Relationierung der verschiedenen Figurenperspektiven an den Zuschauer delegiert, wird am Ende des Prozesses bestätigt, indem gerade kein Urteil gefällt wird: Die Aufklärung des Verbrechens kann nicht innerhalb der diegetischen Welt geleistet werden, sondern bleibt dem Zuschauer überlassen.[55]
Der dritte Zeit-Raum fasst die Geschehnisse im Wald[56], reicht also noch ein Stück weiter in die Vergangenheit zurück und steht am Ende der interpretativen Kette: „[…] as members of the film audience, we interpret the attempt at the gate to interpret the attempt in the courtyard to interpret the events in the woods.“[57] Auch er ist somit ein erinnerter Raum sowie ein topographischer Raum, jedoch ist er weder so abstrakt wie der Gerichtshof, noch mit historisch-kulturellen Bezügen aufgeladen wie das Tempeltor. Man könnte von ihm als einem Topos sprechen: Es handelt sich um einen typischen, unspezifischen Wald: Die Figuren sind im Gegensatz zum Gerichtshof dynamisch, laufen durch Geäst und Blättergewirr, sind oft davon verdeckt und der Schauplatz wird in starken Licht- und Schattenkontrasten gezeigt.[58] Auch die Kamera ist, wie am Rashomon-Tor, mobil. „Sie wechselt zwischen Vogelperspektive und Untersichten, schnellen und langsamen Fahrten […].“[59] Die Charaktere werden zudem nicht wie während den Prozess-Szenen aus einer Perspektive – nämlich der des unsichtbaren Richters – gezeigt, sondern aus verschiedenen Perspektiven[60], der Zeit-Raum „Wald“ bietet uns damit „[…] verschiedene Identifikationsmöglichkeiten und Revisionsmöglichkeiten an […].“[61] Blickt man nun noch auf die metaphorische Komponente dieses Raums, ist es naheliegend, den Wald – eine anarchische, wilde Landschaft, fernab der Zivilisation – als ein Symbol für das Verborgene und Geheime zu deuten, als einen Ort, an dem menschliche Normen und Werte außer Kraft gesetzt sind: In vielen Einstellungen wird die Sonne gezeigt, die nur teilweise ihren Weg durch das Geäst findet[62] und die Figuren sind wie erwähnt oft verdeckt von Bäumen oder umgeben von Schatten.[63]
Fasst man diese Befunde also nun für die drei Zeit-Räume und deren Funktionen zusammen, so steht ein Raum der Gegenwart, rahmenden Erzählung und melancholischen Grübelei neben einem abstrakten, statischen Raum der Interpretation, verhaftet in der nahen Vergangenheit und einem noch weiter in der Zeit zurückliegenden dynamischen Raum der möglichen Wahrheiten oder Lügen, des Verborgenen. Im Detail lassen sich hieraus noch weitere Räume festmachen, denn jede Figur eröffnet mit ihrer Erzählung einen neuen Raum, der zur Darstellung kommt. Jeder will etwas anderes gesehen haben und bewertet das Geschehen sowie die vorkommenden Charaktere dementsprechend individuell.
Zunächst wäre da zum Beispiel die „Zeugenaussage“ des Holzfällers zu Beginn des Films zu nennen: Die Kamera begleitet ihn bei seinem Gang durch den Wald. Nach und nach tauchen Indizien wie der Hut der Frau, ein Beutel aus Seide sowie ein Strick auf. Schließlich findet der Holzfäller die Leiche und rennt schockiert davon, um, wie er berichtet, dem Gericht das Gesehene sofort mitzuteilen.[64] Später stellt sich heraus, dass dieser „Raum“, diese erste Geschichte des Holzfällers komplett erlogen ist – denn wie er im Verlauf zugibt, wollte er nur nicht in die Geschehnisse involviert werden. Dies könnte man nun mit der Aussage des Mönchs, der den Samurai und seine Frau vor dessen Tod auf der Straße von Sekiyama nach Yamashina gesehen haben will (dies ist ebenfalls ein ländlicher Raum mit Wald, nur mit dem Unterschied, dass eine Straße hindurchführt), sowie mit dem Bericht desjenigen, der den angeklagten Banditen fand und dem Gericht übergibt (der Raum kommt als ein unspezifischer Strand an einem Fluss zur Darstellung)[65], weiterspinnen, jedoch sind diese Räume für den Plot nicht von großer Bedeutung – allerdings steigern sie die Komplexität, da der Zuschauer sie mit den weiteren Versionen der Geschehnisse synchronisieren muss, wie später noch zu zeigen sein wird.
Wichtiger an dieser Stelle ist die Perspektive des ersten direkt Beteiligten auf die Ereignisse, des Banditen Tajomaru, der den Samurai getötet haben will. In seinem semantischen Raum trägt die Frau indirekt die Schuld am Tod des Samurai, denn wie er berichtet, wollte er mit ihr schlafen, ohne ihren Mann töten zu müssen.[66] Der von ihr heraufbeschworene Kampf zwischen ihm und dem Samurai sei allerdings ehrbar gewesen, von der Kampfkunst des Samurai sei Tajomaru immer noch beeindruckt[67] – seine eigene Ehre bleibt in dieser Version somit unangetastet. Die Frau beschreibt er als kindlich aussehend, als „wild“ und „ungestüm“, sowie als begehrenswerte „Göttin“ – und neben ihr ist auch der Raum in letzterer Hinsicht inszeniert: In einigen Einstellungen ist der Hintergrund dunkel und sie hebt sich mit ihrem weißen Gewand strahlend davon ab, unnahbar und unantastbar scheinend, da sie ihr Kimono und Hut mit einem langen Schleier daran komplett verdecken.[68] Als sie am Ende davonläuft, habe Tajomaru den Eindruck gewonnen, dass sie doch „wie alle anderen Frauen“ sei.[69]
Als der Mönch von ihrem Auftritt am Gericht erzählt, sagt er, er habe keineswegs den Eindruck von „Wildheit“, eher von Jämmerlichkeit und Gefügigkeit gehabt.[70] Auch sie selbst stellt sich in ihrem semantischen Raum in dieser Art und Weise dar: Sie tut alles, um den Samurai auf ihre Seite zu ziehen, sie weint, schämt sich offensichtlich für das, was Tajomaru mit ihr tat, und verlangt von ihrem Mann, der sie mit verabscheuenden Blicken straft, sie zu töten. Sie erträgt seine Ablehnung nicht und laut ihrer Aussage sei das nächste, was sie gesehen habe, ihr Dolch in der Brust ihres Mannes gewesen. Sie weint während dieser Erzählung beständig und stellt sich als „arm“ und „hilflos“ dar, als nicht zurechnungsfähig während der Tat und als reuevoll, was ihre missglückten Selbstmordversuche danach beweisen sollen.[71] Sie ist in ihrer Version die geschändete Frau, „unschuldige[s] Opfer einer brutalen Männerwelt.“[72]
Beides sind also, um dies noch einmal deutlich zu machen, nur durch die Erinnerung existente Räume – die von Tajomaru und der Frau auf einer ersten Ebene, wiedergegeben jedoch von Holzfäller und Mönch – genauer genommen also doppelt erinnerte Räume, was sie noch ein Stück weiter weg von der Situation, wie sie sich wirklich zugetragen haben mag, entfernt. Denn mit jeder erneuten Wiedergabe der Erzählung kommen erfahrungsgemäß noch ein wenig mehr Auslassungen oder auch Hinzudichtungen hinzu – und man darf nicht vergessen, dass beispielsweise der Mönch nicht direkt anwesend war, insofern könnte es sich auch um imaginierte Räume handeln, die er sich aus den Berichten der beteiligten Charaktere vorstellt. Eine weitere Besonderheit kommt mit dem semantischen Raum des ermordeten Samurai hinzu, denn dieser kommt erst durch eine Totenbeschwörerin, die das Ritual der Anrufung vor Gericht vollzieht, zur Sprache. Erst durch sie als Medium wird sein semantischer Raum dargestellt – insofern ist er auch ein Grenzraum, der sich zwischen Leben und Tod konstituiert, und der Samurai sowie die Totenbeschwörerin stellen beide in diesem Sinne Grenzüberschreiter dar. Ansonsten kommt er wie die anderen Räume nur durch die Beobachtung von Holzfäller und Mönch und deren Erinnerung daran zur Sprache. In der Version des toten Samurai ist es wiederum Tajomaru, der trotz seiner Tat immer noch als ehrenvoller bewertet wird als die Frau des Samurai: Sie stellt sich hier als gehässig dar, als berechnende Verführerin – nicht nur, dass sie plötzlich an der Seite des Banditen steht, ihm sagt er „könne sie haben, wo er wolle“, sie verlangt auch von ihm, ihren Mann zu töten – nur so könne sie mit ihm gehen.[73] Der Bandit stellt sich in dieser Version auf die Seite des Samurai, er ist nun ebenso angewidert von der Frau und ist bereit zu tun, was der Samurai verlangt – die Frau jedoch entkommt, der Samurai ersticht sich mit ihrem Dolch.
[...]
[1] Wrobel 1997, S. 14
[2] Ebd., S. 16
[3] Vgl. http://wikis.sub.uni-hamburg.de/lhn/index.php/Multiperspectivity
[4] Vgl. Stutterheim/Kaiser 2009, S. 224
[5] Stutterheim/Kaiser 2009, S. 225
[6] Vgl. ebd., S. 227
[7] Vgl. Krützen 2010, S. 337
[8] Steiner 2011, S. 102
[9] Vgl. Krützen 2010, S. 363
[10] Vgl. ebd., S. 358 f., S.362
[11] Vgl. Stutterheim/Kaiser 2009, S. 223 f., vgl. Galbraith 2002, S. 129
[12] Vgl. Nowell-Smith 2006, S. 675
[13] Krah 1999, S. 4
[14] Ebd., S. 4
[15] Vgl. ebd., S. 4
[16] Krah 1999, S. 4
[17] Vgl. ebd., S. 4
[18] Vgl. ebd., S. 5
[19] Vgl. ebd., S. 5
[20] Vgl. ebd., S. 6
[21] Ebd., S. 6
[22] Ebd., S. 6
[23] Vgl. ebd., S. 7
[24] Vgl. ebd., S. 6
[25] Vgl. Krah 1999, S. 6
[26] Ebd., S. 6
[27] Vgl. Lotman 1993, S. 339
[28] Krah 1999, S. 8
[29] Vgl. Mainzer 2008, S. 10 ff.
[30] Ebd., S. 110
[31] Vgl. Baraldi et al. 2011, S. 96
[32] http://de.scribd.com/doc/25878166/Luhmann-Die-Gesellschaft-Der-Gesellschaft
[33] Vgl. Kümmel 2000, S. 207
[34] Ebd., S. 218
[35] Vgl. ebd., S. 223
[36] Vgl. Richie 1972, S. 3; vgl. www.bpb.de/gesellschaft/kultur/filmbildung/filmkanon/43563/rashomon
[37] www.bpb.de/gesellschaft/kultur/filmbildung/filmkanon/43563/rashomon
[38] Galbraith 2002, S. 129
[39] Nowell-Smith 2006, S. 675
[40] Vgl. Harrington 1972, S. 61
[41] Vgl. Galbraith 2002, S. 129
[42] Vgl. Richie 1972, S. 4 u. www.bpb.de/gesellschaft/kultur/filmbildung/filmkanon/43563/rashomon
[43] http://www.fb06.uni-mainz.de/user/kupsch/rashomon.html
[44] Vgl. Griem 2000, S. 316
[45] Vgl. Rashomon 1950, 00:00:15 – 00:02:10
[46] http://www.hdm-stuttgart.de/~curdt/Rashomon.pdf
[47] Vgl. Abb.1 u. 2
[48] www.bpb.de/gesellschaft/kultur/filmbildung/filmkanon/43563/rashomon
[49] Vgl. Rashomon 1950, 00:02:00 – 00:07:40
[50] Griem 2000, S. 317
[51] Vgl. Rashomon 1950, ab 00:11:35
[52] Vgl. Abb. 3
[53] Vgl. Rashomon 1950, 00:13:32 – 00:14:19
[54] Boyd 1989, S. 61
[55] Griem 2000, S. 317
[56] In topographischer Hinsicht ist er, wie erwähnt, in allen Geschichten der Figuren gleich und deshalb an dieser Stelle als ein einziger Raum gefasst – wobei es sinnvoll ist, jeder einzelnen Figur und ihrer Geschichte in diesem Wald einen eigenen semantischen Raum zuzuweisen.
[57] Boyd 1989, S. 54
[58] Vgl. Rashomon 1950, 00:07:50 – 00:11:30 u. 00:22:50 – 00:24:30
[59] Griem 2000, S. 317
[60] Vgl. Abb. 4-6
[61] Griem 2000, S. 317
[62] Vgl. Abb. 7
[63] Vgl. Abb. 8 u. 9
[64] Vgl. Rashomon 1950, 00:07:41 – 00:11:32
[65] Vgl. ebd., 00:12:25 – 00:15:15
[66] Vgl. ebd., 00:31:00 – 00:32:15
[67] Vgl. Rashomon 1950, 00:34:56 – 00:35:15
[68] Vgl. Abb. 10 u. 11
[69] Vgl. Rashomon 1950, 00:35:20 – 00:36:10
[70] Vgl. ebd., 00:38:30 – 00:39:05
[71] Vgl. ebd., 00:39:10 – 00:48:50
[72] www.bpb.de/gesellschaft/kultur/filmbildung/filmkanon/43563/rashomon
[73] Vgl. Rashomon 1950, 00:53:30 – 00:54:45