Das filmische Schaffen Éric Rohmers bietet einen ausgesprochen nährreichen Boden für verschiedenste Forschungsbereiche, zu denen nicht nur Film- und Medienwissenschaft, sondern auch Kulturwissenschaft und Soziologie zählen. Unabhängig von ihrer thematischen Ausrichtung beschränkt sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Werken Rohmers vornehmlich auf seine frühen Filme und Zyklen. Die vorliegende Arbeit soll mit der Auseinandersetzung mit "Conte d'été", dem vorletzten Werk seines letzten Zyklus, einen Beitrag zur neueren Rohmer-Forschung leisten.
Dass Eric Rohmer mit seinem filmischen Werk einen Thesaurus unserer Sprache der Liebe vorgelegt hat, ist keine neue Erkenntnis und eben dieser Thesaurus stellt den Forschungsgegenstand vieler Arbeiten zu Rohmer dar. Allerdings gehen auch diese vor allen Dingen auf die Filme ein, die in den achtziger Jahren oder früher entstanden. In "Figures du désir" widmet Felten "Conte d'été" einen kurzen Abschnitt, der jedoch die Zirkulation des Begehrens, Deleuze und Melville in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen rückt. Bereits zu Anfang stellt sie fest: "In keinem anderen Film von Rohmer wird die Fraktalität der amourösen Codes so deutlich wie in 'Conte d'été'". Amouröse Codes werden nicht nur deutlich, sondern sind entscheidend für den Verlauf der Handlung - ebenso wie andere Aspekte der Kommunikation. Aus diesem Grund stellt "Conte d'été" für das Feld der Interkulturellen Kommunikation einen besonders interessanten Untersuchungsgegenstand dar. In welcher Weise amouröse Codes nach Niklas Luhmann, amouröse Figuren nach Roland Barthes und sonstige Kommunikationsformen im Film zu Tage treten und welche Rolle sie für den Handlungsverlauf und die Rezeption spielen, soll die vorliegende Arbeit aufzeigen, näher erläutern und somit verdeutlichen.
Zu diesem Zweck wird der Forschungsgegenstand, "Conte d'été", zunächst in seinen zyklischen Kontext eingeordnet und seine wichtigsten filmischen Merkmale werden festgehalten. Anschließend werden die Werke Luhmanns und Barthes kurz umrissen, bevor der Film auf die (amouröse) Kommunikation innerhalb der einzelnen Beziehungen des Protagonisten untersucht wird. Anhand der sowohl innerhalb einzelner Beziehungen als auch beziehungsübergreifend vorkommenden Codes, Figuren und Kommunikationsformen soll schließlich festgestellt werden, inwiefern sie die Handlung und deren Ausgang sowie die Rezeption des Films durch den Zuschauer beeinflussen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Eric Rohmers „Conte d’êtê“
1.1 Les „Contes des quatres saisons“
1.2 Filmische Merkmale
1.2.1 Mikroebene
1.2.1.1 Bild
1.2.1.2 Ton
1.2.2 Makroebene
1.2.2.1 Struktur
1.2.2.2 Erzähler
1.2.2.3 Zeit
1.2.3 Entstehender Eindruck
1.3 Figurenkonstellation
2 Codierungen der Liebe
2.1 Roland Barthes „Fragments d’un discours amoureux“
2.1.1 Struktur
2.1.2 Inhalt
2.2 Niklas Luhmanns „Liebe als Passion - zur Codierung von Intimität“
2.2.1 Struktur
2.2.2 Inhalt
3 Kommunikationsformen, Codes und Figuren in Gaspards Beziehungen
3.1 Margot
3.1.1 Arten der Kommunikation
3.1.1.1 Tiefsinnige Gespräche
3.1.1.2 Ehrlichkeit
3.1.2 Codes
3.1.2.1 Freundschaft
3.1.2.2 Passion
3.1.3 Figuren
3.1.3.1 Gêne
3.1.3.2 Scène
3.2 Solène
3.2.1 Arten der Kommunikation
3.2.1.1 Musik und Gesang
3.2.1.2 Nonverbale Kommunikation und Schweigen
3.2.2 Codes
3.2.2.1 Verführung
3.2.2.2 Aufschub des Genusses
3.2.3 Figuren
3.2.3.1 Contacts
3.2.3.2 Induction
3.3 Léna
3.3.1 Arten der Kommunikation
3.3.1.1 Streitgespräche
3.3.1.2 Umgang mit Gedankensprüngen
3.3.2 Codes
3.3.2.1 Romantische Liebe und Zufall
3.3.2.2 Abwesenheit
3.3.3 Figuren
3.3.3.1 Absence & Attente
3.3.3.2 Fâcheux & Jalousie
3.4 Wiederkehrende Muster
3.4.1 Conduite
3.4.2 Absichtliches Meiden des Urlaubsflirts
3.4.3 Zynismus
3.4.4 Rechtfertigung
3.4.5 Idee der remplaçante
4 Fazit
Literaturverzeichnis
Primärquellen
Sekundärliteratur
Filmografie
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis
1 Figurenkonstellation „Conte d’été“
2 Figurenkonstellation „Pauline à la plage“
3 Die Zebrastreifen-Szene: „Gêne“
4 Das Sofa
Einleitung
Das filmische Schaffen Éric Rohmers bietet einen ausgesprochen nährreichen Boden für verschiedenste Forschungsbereiche, zu denen nicht nur Film- und Medien Wissenschaft, sondern auch Kulturwissenschaft und Soziologie zählen. Unabhängig von ihrer thematischen Ausrichtung beschränkt sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Werken Rohmers vornehmlich auf seine frühen Filme und Zyklen. Die vorliegende Arbeit soll mit der Auseinandersetzung mit „Conte d’été“, dem vorletzten Werk seines letzten Zyklus, einen Beitrag zur neueren Rohmer- Forschung leisten.
Dass „Eric Rohmer mit seinem filmischen Werk einen Thesaurus unserer Sprache der Liebe vorgelegt [hat]“1, ist keine neue Erkenntnis und eben dieser Thesaurus steift den Forschungsgegenstand vieler Arbeiten zu Rohmer dar. Allerdings gehen auch diese vor allen Dingen auf die Filme ein, die in den achziger Jahren oder früher entstanden.2 In Figures du désir widmet Felten „Conte d’été“ einen kurzen Abschnitt3, der jedoch die Zirkulation des Begehrens, Deleuze und Melville in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen rückt. Bereits zu Anfang steift sie fest: „In keinem anderen Film von Rohmer wird die Fraktalität der amourösen Codes so deutlich wie in Conte d’été [Hervorhebung im Original]“4.
Amouröse Codes werden nicht nur deutlich, sondern sind entscheidend für den Verlauf der Handlung - ebenso wie andere Aspekte der Kommunikation. Aus diesem Grund steift „Conte d’été“ für das Feld der Interkulturennen Kommunikation einen besonders interessanten Untersuchungsgegenstand dar. In welcher Weise amouröse Codes nach Niklas Luhmann, amouröse Figuren nach Roland Barthes und sonstige Kommunikationsformen im Film zu Tage treten und welche Rolle sie für den Handlungsverlauf und die Rezeption spielen, soll die vorliegende Arbeit aufzeigen, näher erläutern und somit verdeutlichen.
Zu diesem Zweck wird der Forschungsgegenständ, „Conte d’été“, zunächst in seinen zyklischen Kontext eingeordnet und seine wichtigsten filmischen Merkmale werden festgehalten. Anschließend werden die Werke Luhmanns und Barthes kurz Umrissen, bevor der Film auf die (amouröse) Kommunikation innerhalb der einzelnen Beziehungen des Protagonisten untersucht wird. Anhand der sowohl innerhalb einzelner Beziehungen als auch beziehungsübergreifend vorkommenden Codes, Figuren und Kommunikationsformen soll schließlich festgesteift werden, inwiefern sie die Handlung und deren Ausgang sowie die Rezeption des Films durch den Zuschauer beeinflussen.
1 Éric Rohmers „Conte d’été“
Im Folgenden soll Éric Rohmers Film „Conte d’été“, den Koebner als „Tragikomödie“ (2010:5) bezeichnet, kurz in seinen zyklischen Kontext eingeordnet werden, was der Orientierung dienen soll. Anschließend folgen ein Abriss der wichtigsten und auffälligsten Merkmale und die Präsentation der Figurenkonstellation des 1996 entstandenen Films.
1.1 Les „Contes des quatres saisons“
Neben den Filmen „Conte de printemps“ (1990), „Conte d’hiver“ (1992) und „Conte d’automne“ (1998) gehört „Conte d’été“ (1996) zu Rohmers Zyklus der „Contes des quatres saisons“. In diesem Zyklus ist der Protagonist stets auf der Suche nach etwas (einer Frau, der Liebe, ... ) - ist sich jedoch oft selbst nicht im Klaren darüber, wonach er sucht. Innerhalb der Strukturen und Problematiken der vier Filme sind Analogien und Symmetrien festzustellen - so bildet „Conte d’été“ bspw. die entgegengesetzte Figurenkonstellation zu „Conte d’hiver“ (ein Mann, drei Frauen - eine Frau, drei Männer).5
1.2 Filmische Merkmale
Da Éric Rohmer seinen Wurzeln in der Nouvelle Vague auch lange nach deren Blütezeit treu blieb, ist „Conte d’été“ trotz seines jungen Altes ein Film, der durch stilistische Merkmale des französichen Autorenkinos geprägt ist. Die auffälligsten filmischen Merkmale sollen im Folgenden kurz aufgezeigt werden.
1.2.1 Mikroebene
1.2.1.1 Bild
Sämtliche Bilder des Films wurden on location gedreht und zeichnen sich daher durch natürliche Licht- und Farbverhältnisse aus, die weder durch zusätzliche Scheinwerfer beim Dreh noch durch entsprechende Änderungen in der Postproduction verändert wurden.
Trotz der Verwendung einer Handkamera wird nicht mit Kamerabewegungen experimentiert. Es gibt kaum Kamerafahrten, bei Schwenks befindet die Kamera sich oft an einem Punkt und kommt mit minimalen Drehungen um die Querachse und langsamen Drehungen um die Vertikalachse aus, die meist den Bewegungen der Figuren folgen. Schiefenwinkel werden nicht eingesetzt. Abgesehen von den leichten Rotationen um die Querachse wahrt die Kamera ihre Horizontalsicht; in „Conte d’été“ gibt es keinerlei starke Auf- oder Untersichten.
Eine Partikularität des Films zeigt sich bei näherer Betrachtung der zum Einsatz kommenden Einstellungsgrößen: Rohmer bedient sich während des Hauptteils des Films lediglich eines eingeschränkten Repertoires der ihm zur Verfügung stehenden Auswahl. Der Film besteht zum größten Teil aus Einstellungsgrößen des Spektrums Amerikanisch-Nah6, halbnahe Einstellungen wechseln sich häufig mit den erstgenannten ab. Weit und Total finden sich in der Hauptsache in der ersten sowie den letzten beiden Einstellungen. Groß- und Detailaufnahmen kommen, bis auf eine Ausnahme (Gaspards Blick auf den Wecker [1:40:23]), nicht im Film vor.
Wie für Rohmer typisch, ist der Einsatz von Schnitten sparsam, was die Länge der einzelnen Einstellungen erhöht.7 Harte Schnitte dominieren und der Übergang zwischen verschiedenen Tagen der gezeigten Handlung wird dem Zuschauer zusätzlich durch den Einsatz von Zwischentiteln (bestehend aus Wochentag und Datum) verdeutlicht.
1.2.1.2 Ton
Der Dialog des Films setzt erst nach ca. sieben Minuten (mit der Bestellung eines jungen Mannes in der Crêperie du Clair de Lune) ein. Vorher besteht die Tonspur lediglich aus Hintergrundgeräuschen. Die Geräuschkulisse ist insgesamt sehr natürlich, da sie sich mit der Dialogspur vermischt und ihr nicht untergeordnet ist.
Der Dialog wirkt oft frei und improvisiert statt einstudiert, insgesamt also sehr natürlich und fast zufällig festgehalten. Dies ist vor allen Dingen bei Dialogen mit oder zwischen Laienschauspielern der Fall.
Der zu vernehmende handlungsrelevante Ton kommt nicht immer aus dem On, seine Quelle ist aber trotzdem immer bekannt und daher im Raum einzuordnen, wodurch beim Zuschauer keine Verwirrung entsteht.
Besonders auffällig ist die für Rohmer typische Verwendung von Musik: Er benutzt keine Filmmusik zur Untermalung seiner Bilder. Dennoch gibt es Musik im Film (z.B. Tanzmusik, Gesang, Gitarrenspiel), allerdings nur wenn sie in Bezug zur Handlung steht und sie kommt nicht aus dem Off. Die einzigen Ausnahmen bilden Gaspards Pfeifen während des Vorspanns8 und das kurze Einspielen von „Santiano“ bei Gaspards Abfahrt9.
1.2.2 Makroebene
1.2.2.1 Struktur
Der Zuschauer wird nur in den äußersten Rahmen der Handlung - Gaspards Ankunft mit dem Schiff und das Beziehen eines fremden Zimmers - eingeführt, bevor diese beginnt. Er erfährt erst nach und nach die Hinter- und Beweggründe des Protagonisten, indem der Ablauf der Handlung chronologisch, strukturiert durch die bereits erwähnten Zwischentitel, gezeigt wird.
1.2.2.2 Erzähler
Die Kamera begleitet Gaspard als Beobachter, weshalb sie nicht als personaler, sondern als neutraler Erzähler angesehen werden muss - auch wenn die Perspektive an wenigen Stellen die subjektive Gaspards ist10. Die Geschichte wird nicht durch Erzählrede, sondern lediglich durch Bild und Figurenrede erzählt.
1.2.2.3 Zeit
Die Zeitgestaltung ist sehr einfach gehalten: es wird sich auf die Zeitebene der Gegenwart beschränkt - auf Rückblenden oder Zukunftsvisionen wird verzichtet. Die Erzählzeit ist kürzer als die erzählte Zeit; es findet eine Dehnung statt.
1.2.3 Entstehender Eindruck
Durch den dokumentarischen Stil des Films, der sich aus den beschriebenen Elementen zusammensetzt, wirkt der Film sehr realistisch, manchmal amateurhaft, stellenweise zufällig eingefangen - teils wie ein Urlaubsvideo. Damit bleibt Rohmer Techniken und Prinzipien der Nouvelle Vague selbst gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts treu.
1.3 Figurenkonstellation
Die Figurenkonstellation in Éric Rohmers „Conte d’été“ geht, wie oft in seinen Werken, über gewöhnliche Beziehungen hinaus. Wie Abbildung 1 zeigt, handelt es sich eher um ein Dreieck aus Beziehungen als um ein klassisches Beziehungsdreieck. Durch die enge Verkettung von gleich drei Dreiecksbeziehungen (Gaspard-Margot-Léna, Gaspard-Margot-Solòne und Gaspard-Léna- Soléne), in deren Mittelpunkt jeweils der männliche Protagonist steht, schafft Rohmer ein auf den ersten Blick deutich komplexeres Gebilde als häufiger auftretende Konstellationen wie z.B. die Dreiecksbeziehung oder die Beziehung zwischen zwei Paaren.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Figurenkonstellation in Rohmers „Conte d’êtê“: Dreieck aus Beziehungen statt Beziehungsdreieck
Durch die relative Uriwichtigkeit der sich lediglich in der Periphärie der Konstellation befindenden Beziehungen zwischen den weiblichen Personen (in Abbildung 1 gekennzeichnet durch graue Linien), entstellt jedoch letzt endlich eine überschaubare, sternförmige Figur aus von Gaspard ausgehenden Beziehungen (schwarze Linien). Überschaubar ist diese Figurenkonstellation vor allem im Vergleich zu anderen Rohmer-Filmen, in denen mehr als nur vier Personen in Beziehung zueinander stehen. Als exemplarisches Beispiel sei an dieser Stelle „Pauline à la plage“ erwähnt, in dem Rohmer sechs Personen in ein komlexes Netz aus Beziehungen einwebt. Dass die Figurenkonstellation in „Conte d’été“ eine für den Regisseur verhältnismäßig einfache ist, fällt bereits auf den ersten Blick auf (s. Abbildung 2).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Figurenkonstellation in Rohmers „Pauline à la plage“: komplexes Netz aus Beziehungen zwischen sechs Personen
2 Codierungen der Liebe
Die spätere Analyse der in „Conte d’été“ vorkommenden Codierungen der Liebe stützt sich auf die Werke zweier Autoren: „Fragments d’un discours amoureux“ von Roland Barthes und „Liebe als Passion“ von Niklas Luhmann, deren Struktur und Inhalt im Folgenden sehr kurz beschrieben und zusammengefasst werden sollen, um dem Leser einen Eindruck zu verschaffen.
2.1 Roland Barthes „Fragments d’un discours amoureux“
Barthes vertritt die These, dass sich jeder Liebende aller amourösen Figuren bedienen kann, da sie sich in seinem Kopf befinden und diese Figuren je nach Situation und Partner gewählt werden. Die Anordnung der Figuren im Kopf des Liebenden ist dabei stets zufällig und variabel.11
2.1.1 Struktur
Aus diesem Grund wählte Barthes für die Anordnung der Figuren in seinem Buch eine mehr oder weniger willkürliche: das Alphabet. Das Werk hat daher eine enzyklopädische Gestalt, die durch den Aufbau der einzelnen Einträge noch unterstrichen wird: jeder Eintrag ist mit einer Überschrift versehen, es folgen die Nennung der Figur und ein Definitions versuch. Anschließend werden Fragmente aufgezählt, die sowohl aus literarischen Werken, Konversationen Barthes mit seinen Freunden oder aus dem Leben Barthes selbst stammen.12
2.1.2 Inhalt
Bei den nacheinander aufgezählten Fragmenten handelt es sich um Beschreibungen, Gedanken und Situationen, die die entsprechende Figur betreffen. Sowohl allgemein gehaltene Beschreibungen als auch spezielle persönliche Erfahrungen dienen so der Ausführung der Figuren. Aufgrund der Subjektivität und Selektivität der Einträge erhebt Barthes keineswegs Anspruch auf eine etwaige Vollständigkeit seines Werkes, sondern will - im Gegenteil - zum Weiterdenken und -führen anregen.13
2.2 Niklas Luhmanns „Liebe als Passion - zur Codierung von Intimität“
Für den Soziologen Luhmann ist Liebe kein Gefühl, sondern ein System (wie z.B. auch Geld und Macht) - ein symbolischer Kommunikationscode, der sozio-kulturellen Einflüssen unterworfen ist und sich daher über die Jahrhunderte verändert hat. Der Code dient den Menschen der jeweiligen Zeit als Orientierung und Regelwerk in ihrem amourösen Diskurs und Verhalten.14
2.2.1 Struktur
„Liebe als Passion“ zeichnet daher den historischen Wandel nach, den das System der Liebe durchlaufen hat. Die Ordnung des Buches ist daher chronologisch und die Forschungsgrundlage für den Wandel bietet nach dem Merkmal der sprachlichen Eleganz ausgewählte Literatur der jeweiligen Zeit.15
2.2.2 Inhalt
In den einzelnen Etappen der Entwicklung der Liebe als System beschreibt Luhmann vor allen Dingen den sozialen Wandel und dessen Auswirkungen auf die zeitgenössiche Literatur. Er konzentriet sich dabei auf soziale Verhaltensweisen und -muster, die sich gemeinsam mit dem System weiterentwickelten bzw. verschwanden und durch andere Verhaltensweisen ersetzt wurden. Wie „Fragments d’un discours amoureux“ ist auch das Werk Luhmanns geprägt von Subjektivität und soll den Leser zum Weiterdenken animieren.
3 Kommunikationsformen, Codes und Figuren in Gaspards Beziehungen
Im Folgenden werden zunächst die wichtigsten Kommunikationsformen, Codes nach Luhmann16 und Figuren nach Barthes, die Gaspard in seinen drei Beziehungen verwendet näher beleuchtet und an Beispielen aus dem Film verdeutlicht. Hierbei werden lediglich diejenigen Codes usw. berücksichtigt, die von Gaspard ausgehen.17 Anschließend werden beziehungsübergreifend auftauchende Muster in den Beziehungen Gaspards aufgegriffen und anhand des Films erläutert.
3.1 Margot
Die Beziehung zu Margot ist für Gaspard die bedeutungsvollste, nicht nur auf freundschaftlicher Ebene. Die Kommunikation zwischen den beiden führt dem Zuschauer im gesamten Verlauf des Films immer wieder die Wichtigkeit der Beziehung vor Augen, Gaspard selbst wird sich ihrer jedoch erst sehr spät - bei seiner Abfahrt - bewusst, was durch das Einspielen des Liedes „San- tiano“ mit der für ihn bedeutsam gewordenen Zeile „laissant Margot“ filmsprachlich verdeutlicht wird18. Im Folgenden sollen die für den Zuschauer sichtbaren Anzeichen für das Hinausgehen der Beziehung über eine Freundschaft verdeutlicht werden.
3.1.1 Arten der Kommunikation
3.1.1.1 Tiefsinnige Gespräche
Gaspard und Margot führen viele tiefsinnige Gespräche, in denen es oft um ihre jeweilige Auffassung von Liebe und Freundschaft19, ihre Gefühle und Gaspards Probleme20 geht. Zwischen Gaspard und den beiden anderen Frauen bleiben die Gespräche oberflächlicher und er öffnet sich ihnen nicht. Mit Margot spricht er über seine anderen Beziehungen und sie erteilt ihm Ratschläge, hält ihn vom Nachdenken ab, wenn er sich zu viele Sorgen macht und hört ihm stets zu. Sie zeigt Interesse und dass sie den Inhalt ihrer vorangegangenen Gespräche nicht vergessen hat. So auch am Strand von Saint-Lunaire:
MARGOT : Tu es très philosophe.
GASPARD : Ouï.
MARGOT : Et pas follement amoureux.
GASPARD : Tu vois je te l’avais dit... Si elle ne m’aime pas, tant pis. Je ne crois pas que je puisse aimer une fille qui n’est pas amoureuse de moi. Et comme il n’y en a aucune qui m’aime, et bien, je n’aime personne.
(Rohmer 2001:85)
Margot greift zunächst eine Aussage Gaspards auf, die er zwei Wochen zuvor getroffen hat („Enfin, pas amoureux fou...“, Rohmer 2001:81) und Gaspard spricht anschließend offen über seine Gefühle bezüglich der Liebe sowohl zu Léna als auch im Allgemeinen.
Diese Art von Gesprächen zieht sich durch den gesamten Film, ist daher charakteristisch für Gaspards Beziehung zu Margot und verweist auf das Vertrauensverhältnis, welches sich bereits ab ihrer dritten Begegnung (der Fahrt nach Saint-Sulliac) aufbaut und immer weiter festigt.
3.1.1.2 Ehrlichkeit
Eng verknüpft mit der angesprochenen Offenheit Gaspards in seinen Gesprächen mit Margot, ist auch seine Ehrlichkeit. Diese ist ausschließlich Margot Vorbehalten; Gaspard bringt sie keiner der anderen Frauen entgegen und verheimlicht ihnen vieles. Die Ehrlichkeit gegenüber Margot geht so weit, dass er ihr erzählt, was er den anderen beiden verschweigt:
MARGOT : Tu lui a parlé de Solène ?
GASPARD : A Léna ? Non, tu es folle !
MARGOT : Tu es pas mal dissimulateur, toi aussi. [... ] Et de moi ? Tu lui as parlé ? GASPARD : Ben, non.
(Rohmer 2001:115f)
Gaspard erwähnt gegenüber Margot, dass er nicht gerne lügt, er sich aber trotzdem nicht in der Lage sieht, Léna die Wahrheit zu sagen; er will sie nicht provozieren.21 Am Ende des Films ist Margot schließlich die Einzige, die Gaspard von seiner fluchtartigen Abreise in Kenntnis setzt. Er sagt ihr, dass er den beiden Anderen später schreiben wolle, nachdem er die Abreise vor ihnen verheimlicht hat.22 Margot bringt ihm im Gegenzug die selbe Ehrlichkeit entgegen und sagt ihm, dass sie nicht mit ihm, sondern mit ihrem Freund nach Ouessant fahren wird.23
3.1.2 Codes
3.1.2.1 Freundschaft
Der Grund für das Funktionieren der Freundschaft zwischen Gaspard und Margot lässt sich sehr gut mit einer Aussage vereinbaren, die „die Literatur zu Themen der Liebe und Freundschaft bereits am Anfang des 18. Jahrhunderts betontf:] daß (sie] es Individuen sind, die in solchen Beziehungen ihr Glück suchen“ (Luhmann 1994:166). Die beiden kommen deshalb gut miteinander aus, weil sie sich nicht verstellen und ihre Persönlichkeit und Gefühle vor dem Gegenüber verschleiern müssen.
GASPARD :(...] Il n’y a qu’avec toi que je suis moi. Avec Solène non plus, je ne me suis pas senti moi-même [...]. Comme essayant de m’identifier à un personnage qui n’est pas moi.
MARGOT : Et avec Léna ?
GASPARD : Je joue aussi un personnage que je me suis fabriqué pour elle [...]. Alors avec moi tu ne te sens pas à l’aise ?
MARGOT : Si, tout à fait bien.
GASPARD : Tu te sens toi-même ?
MARGOT : Oui. Il y a là rien d’extraordinaire. C’est plus facile d’être soi-même avec un ami qu’un amoureux (Rohmer 2001:116f)
Für Luhmann ist Freundschaft als „Selbstverdoppelung durch Aufnahme des Anderen in sich selbst (das alte: zwei Seelen in einer Brust)“ (1994:178) auch ein Fundament der romantischen
[...]
1 Felten (2010:7)
2 In ihrer Vorbemerkung zu Eric Rohmer - Filmkunst zwischen Liebe und Lüge stellt Rohmer-Expertin Uta Felten bspw. in aller Kürze die amourösen Codierungen in „Pauline à la plage“ vor (2010:8f).
3 mit einer Länge von sechs Seiten
4 Felten (2004:108)
5 vgl. Buchrücken Rohmer (1996)
6 Da es verschiedene, leicht voneinander abweichenden Definitionen von Einstellungsgrößen gibt, sei an dieser Stelle erwähnt, dass sich diese Arbeit an dem Spektrums von acht Einstellungsgrößen ( Weit bis Detail) orientiert, wie es z.B. Lohmeier (1996) vorstellt.
7 für ein Beispiel s. Kapitel 3.2.3.1
8 vgl. Rohmer (1996:[00:03 - 00:28])
9 vgl. Rohmer (1996:[1:47:47 - 1:48:16]), wird aufgegriffen in Kapitel 3.1
10 für ein Beispiel s. Kapitel 3.1.3.1
11 vgl. Barthes (1977:10)
12 vgl. Barthes (1977:12)
13 vgl. Barthes (1977:12)
14 vgl. Luhmann (1994:9f)
15 vgl. Luhmann (1994:llf)
16 Bei den „Codes“ handelt es sich streng genommen nicht um eigenständige Codes, sondern um im Code „Liebe“ auftretende Begrifflichkeiten. Der Einfachheit halber wird in dieser Arbeit dennoch der Begriff des Codes verwendet, um die entsprechenden Begrifflichkeiten nach Luhmann zu bezeichnen.
17 Die von den jeweiligen Frauen ausgehenden Figuren werden jeweils als Fußnote erwähnt, um dem interessierten Leser Anhaltspunkte zur vertiefenden Lektüre zu bieten.
18 vgl. Rohmer (1996:[1:47:47 - 1:48:16])
19 z.B. bei ihrem Spaziergang am Jachthafen (vgl. Rohmer 2001:82f) oder im Wald auf der Pointe de la Latte (s. Rohmer 2001:116f)
20 bspw. Gaspards Schwierigkeit sich in eine Gruppe zu integrieren, vgl. Rohmer (2001:89f)
21 s. Rohmer (2001:116)
22 vgl. (Rohmer 1996:[1:44:32 - 1:45:50]
23 vgl. Rohmer (1996:[1:45:51 - 1:46:20]