Die Entwicklung in der Sozialen Arbeit von der Sozialraumorientierung hin zur Arbeit im und am Sozialraum sowie die gesellschaftlichen Transformationen wirken auf die sozialräumliche Praxis und Theorie zurück. In dieser Arbeit wird nach Selbst- und Fremdverständnissen bei Professionellen und Verantwortlichen der sozialräumlichen Sozialen Arbeit gefragt. Das daraus resultierende Berufsbild der sozialräumlichen Sozialen Arbeit beschreibt das heterogene sozialräumliche Handlungsfeld der Sozialen Arbeit auf der Grundlage eines gemeinsamen Nenners. Ausgangsbasis für diese Übersicht sind eine qualitative Inhaltsanalyse von Organisationsunterlagen der sozialräumlichen Praxis und Experteninterviews mit Professionellen der Sozialraumarbeit. Durch die Gegenüberstellung von empirischen und theoretischen sozialräumlichen Fakten besteht eine breite Absicherung der Ergebnisse. Diese unterstützen die sozialräumlichen Zugänge des St.Galler Modells zur Gestaltung des Sozialraums über Menschen, Orte und Strukturen als Minimalstandard und betonen die hohe Relevanz sozialpolitischer Transformationen und des Sozialkapitals in der Sozialraumarbeit. Das sozialräumliche Interventionsverständnis ist dabei geprägt von der sozialen Produktion von Raum nach Löw. Dass bestehende Berufsbilder der Sozialen Arbeit einer Ergänzung durch die Sozialraumarbeit bedürfen, kann somit bestätigt werden. Unterstrichen wird zudem die Notwendigkeit der transdisziplinären Herangehensweise in der Sozialraumarbeit und der disziplinären Vertiefung der Arbeit an Sozialräumen in der Sozialen Arbeit.
Inhaltsverzeichnis
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Aufbau der Arbeit
1.2 Begriffserklärungen
2 Ausgangslage
2.1 Problemstellung
2.1.1 Das uneinheitliche sozialräumliche Verständnis
2.1.2 Unklare Funktion und Verortung der Sozialraumarbeit
2.1.3 Fehlende Berufsbildentwicklung
2.2 Fragestellungen
2.3 Arbeitsthesen
2.4 Relevanz der Praxisforschung
A Theoretischer Teil
3 Grundlagen der Sozialraumarbeit
3.1 Definitionen
3.1.1 Soziale Räume – Das St.Galler Modell
3.1.2 Sozialraumarbeit/ Sozialräumliche Soziale Arbeit
3.1.3 Sozialraumorientierte Soziale Arbeit
3.1.4 Sozialräumliche Gemeinwesenarbeit
3.1.5 Transdisziplinarität/ Transnationalität
3.1.6 Sozialkapital
3.2 Aktueller Fachdiskurs und Forschungsstand
3.2.1 Forschung zur sozialräumlichen Sozialen Arbeit
3.2.2 Berufsbildbezüge in der Fachliteratur der Sozialraumarbeit
3.3 Sozialpolitische Transformationen
3.4 Kritisch-reflexive Theoriediskussion
3.4.1 Fokus der sozialräumlichen Praxis
3.4.2 Fokus der Sozialen Arbeit
3.4.3 Sozialpolitischer Fokus
4 Berufsbildentwicklung in der Sozialen Arbeit
4.1 Bezüge zur Berufsbildentwicklung
4.1.1 Berufsbild als berufspolitische Kategorie
4.1.2 Das Berufsbild in der Sozialen Arbeit
4.2 Sozialräumliche Paradoxien
B Empirischer Teil
5. Forschungsmethoden und Forschungsdesign
5.1 Das Sampling
5.2 Inhaltsanalyse konzeptioneller Daten
Exemplarische Bildung der Unterkategorien
5.3 Erstellen des Interviewleitfadens
5.4 Durchführung der Experteninterviews
5.5 Narrationsanalyse und Interviewauswertung
6 Ergebnisse der Inhaltsanalyse und Experteninterviews
6.1 Kategorien und Themen
6.1.1 Typen von fokussierten Sozialen Räumen
6.1.2 Funktion und Wirkung der sozialräumlichen Tätigkeiten
6.1.3 Methoden der Sozialraumarbeit
6.1.4 Qualitätskriterien in der sozialräumlichen Sozialen Arbeit
6.1.5 Qualifikation der in der Sozialraumarbeit Tätigen
6.1.6 Sozialräumliche Zielsetzungen und Art der Ziele
6.1.7 Steuerungsprozesse und Bearbeitung des Sozialraumes
6.1.8 Sozialräumliche Arbeit mit Personen und Netzwerken
6.1.9 Verortung der Organisation/ Strukturen/ Ressourcen im Sozialraum
6.1.10 Bedarf und Legitimation der Sozialraumarbeit
6.1.11 Sozialräumliche Interdisziplinarität und Transdisziplinarität
6.1.12 Bearbeitung Sozialer Probleme im Sozialraum
6.2 Selbstverständnisse von Sozialraumarbeit
6.2.1 Entwicklungen und sozialpolitische Transformationen in Organisationen der sozialräumlichen Sozialen Arbeit
6.2.2 Spannungsfelder und Dilemmata in der Sozialraumarbeit
6.3 Fremdverständnisse von Sozialraumarbeit
6.3.1 Entwicklungen und sozialpolitische Transformationen in Organisationen der sozialräumlichen Sozialen Arbeit
6.3.2 Spannungsfelder und Dilemmata in der Sozialraumarbeit
6.4 Diskussion der Ergebnisse und der Forschungsmethoden
6.4.1 Kritische Reflexion des methodischen Vorgehens
6.4.2 Kritische Beurteilung der empirischen Ergebnisse
C Integrativer Teil
7 Gegenüberstellung von Theorie und Empirie
7.1 Theorievergleich und Abstraktionen
7.1.1 Verständnis Sozialraumarbeit und Soziale Räume
7.1.2 Funktion und Verortung der Sozialraumarbeit
7.2 Wirkung und Legitimation der Sozialraumarbeit
7.3 Schnittstelle Sozialraumarbeit/ Soziale Arbeit
7.4 Sozialpolitische Transformationen und Sozialraumarbeit
7.5 Zusammenfassung der Ergebnisse Theorie/ Empirie
8 Berufsbild der sozialräumlichen Sozialen Arbeit
9 Schlussfolgerungen aus Theorie und Praxis
9.1 Kritische Bewertung des Berufsbildes der sozialräumlichen Sozialen Arbeit
9.2 Auswirkungen auf die Berufsbildentwicklung Sozialer Arbeit
9.3 Interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Gouvernementalität
9.4 Umgang mit sozialräumlichen Paradoxien
9.5 Sozialräumlichen Paradigmenwechsel gestalten
9.6 Auswirkungen auf den Diskurs der sozialräumlichen Sozialen Arbeit
10 Fazit
10.1 Theoretische Reflexion
10.2 Zentrale Erkenntnisse
10.3 Berufsbildentwicklung
10.4 Ausblick
10.5 Dank
Literatur- und Quellenverzeichnis
Anhang
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: St.Galler Modell: Denkfigur zur Gestaltung des Sozialraums.
Tabelle 2: Theorien und Modelle sozialräumlicher Sozialer Arbeit
Abbildung 3: Soziale Produktion von Raum.
Tabelle 4: Kategorisierung der Empirieergebnisse nach dem St.Galler Modell
Abbildung 5: Berufsbild der sozialräumlichen Sozialen Arbeit
Abbildung 6: Modell eines erweiterten Quartiermanagements
Abbildung 7: Erweitertes St.Galler Modell: Denkfigur zur Gestaltung des
Sozialraums
1 Einleitung
Der Soziale Raum ist ein Konstrukt, das analog einer Landkarte einen Überblick bietet, einen Standpunkt oberhalb der Standpunkte, von denen aus die Akteure in ihrem Alltagsverhalten ihren Blick auf die soziale Welt richten. (Bourdieu 1987, S. 277)
Wie die Menschen sozial zueinander stehen und wie sich diese Vernetzungen im Raum manifestieren, interessiert Bourdieu und beschäftigt die Professionellen der Sozialen Arbeit. Wie sich diese Verbindungen zwischen Individuen und damit auch Institutionen relativ aufeinander beziehen und wie sich die daraus resultierenden sozialräumlichen Strukturen für die Interventionen der Sozialen Arbeit nutzen lassen beziehungsweise ob überhaupt Sozialer Raum produziert werden kann, sind Kernfragen in der Disziplin “Soziale Arbeit”. Diese Metaperspektive – nach Bourdieu – auf die soziale Landschaft zieht sich durch die vorliegende Arbeit, wenn nach dem aktuellen Bild zur sozialräumlichen Sozialen Arbeit (impliziert Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Soziokultur) und deren professionellen Fachpersonen gefragt wird. Die Masterthesis hat nämlich die Aufgabe, nach einem gemeinsamen Nenner im Verständnis der sozialräumlichen Sozialen Arbeit in der Praxis und in der Theorie zu suchen. Das daraus zu erarbeitende Berufsbild wird im Vergleich zu bestehenden Berufsbildern der Sozialen Arbeit in Bezug auf sozialräumliche Aspekte und Arbeitsfelder gesehen, welche im Anschluss daran auf allfällige Ergänzungen zu überprüfen sind. Die Notwendigkeit der Fokussierung der Tätigkeiten der Sozialen Arbeit in Sozialen Räumen begründet sich vorwiegend aus den verschiedenartigen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit in Sozialräumen und den vielfältigen theoretischen und fachlichen Bezügen der sozialräumlichen Sozialen Arbeit in der Praxis und der Theorie.
Das Verständnis von Sozialraumarbeit und der sozialräumliche Zugang in der Praxis der Sozialen Arbeit mit einer Praxisforschung zu ergründen und die Erkenntnisse mit sozialräumlichen Theorien und sozialpolitischen Entwicklungen abzugleichen, bilden die Kernaufgaben dieser Arbeit. Eigene Praxiserfahrungen in der sozialräumlichen Sozialen Arbeit und einen Beitrag zur Berufsbildentwicklung in der Sozialen Arbeit zu leisten, sind des Weiteren persönliche, einfliessende Aspekte. Die theoretischen Hintergründe der Bezüge von Sozialer Arbeit zu Sozialen Räumen sind vielfältig. Eine sozialräumliche Soziale Arbeit lässt sich daher in der Theorie und Praxis nur bedingt denken und umsetzen, da die Zugänge zu Sozialen Räumen unterschiedlich und die Kausalitäten darin komplex sind. Ein gemeinsamer Nenner in der Beschreibung der Praxen der sozialräumlichen Sozialen Arbeit ist daher wünschenswert. Die Breite des Sozialraumdiskurses macht es notwendig, für die Forschungsfragestellung und Berufs-bildentwicklung eine theoretische Eingrenzung vorzunehmen und ein geeignetes Modell für die Untersuchung des Berufsverständnisses auszuwählen. Das St.Galler Modell wurde mit Blick auf die Praxis entwickelt und trägt durch die drei Zugänge “Ort”, “Mensch” und “Struktur“ eine Mehrdimensionalität bezüglich des Sozialraums bereits in sich (vgl. Reutlinger & Wigger 2010, S. 46). Das Modell ist aus dem Fokus der Sozialen Arbeit heraus entstanden und unterstreicht die Transdisziplinarität der sozialräumlichen Arbeit. Konkret bedeutet dies, dass die Ergebnisse der Berufsbilderforschung in erster Linie in Bezug zum St.Galler Modell reflektiert und differenziert werden. Im theoretischen Teil erfolgt die entsprechende sozialräumliche Diskussion. Die Anschlussfähigkeit für eine Praxisforschung ist beim St.Galler Modell zudem gegeben, da dieses von Experten der Lehre und Forschung erarbeitet wurde.
Eine Berufsbildbeschreibung für ein heterogenes Tätigkeitsgebiet der Sozialen Arbeit zu erstellen, im Bewusstsein, dass es die explizite Organisation der sozialräumlichen Sozialen Arbeit höchstens in der Theorie gibt, ist dabei eine besondere Herausforderung. Der offene Forschungsprozess, mit dem Ziel, den Stand der Berufsbildentwicklung festhalten zu können, beinhaltet überdies das Risiko, nicht genügend oder keine passenden Ergebnisse für die Berufsbildbeschreibung zu erhalten. Die Chance der qualitativen Forschung liegt hingegen im offenen, ungefilterten Erfassen des Feldausschnittes, so dass die Ergebnisse eine dezidierte Gegenüberstellung mit den sozialräumlichen Theorien ermöglicht. Des Weiteren kann dadurch eine gewisse Qualität des Berufsbildes erreicht werden, welches somit eine Gültigkeit über die untersuchten Fälle hinaus haben kann. Den Professionalisierungsprozess der sozialräumlichen Sozialen Arbeit mit zu formen und eine Diskussionsgrundlage für die Berufsentwicklung und Einordnung in der Landschaft der Sozialen Arbeit zu geben, kann ausserdem als sinnvoller Beitrag zum sozialräumlichen Diskurs und der Ausgestaltung der Praxis gesehen werden. So ist ein Plädoyer für das Sich-Einbringen der Sozialen Arbeit in eben diesen Prozess, gleichberechtigt mit anderen Disziplinen, durchaus mit dieser Studie verbunden und bildet gleichsam den Abschluss der Thesis.
1.1 Aufbau der Arbeit
Die Masterthesis gliedert sich im Anschluss an die Beschreibung der Problem- und Fragestellung und die Gegenstandsklärung in drei Teile, die jeweils mit einer Zusammenfassung starten. Im Teil A erfolgt die theoretische Erarbeitung der Definitionen und Inhalte sowie der für die Praxisforschung und deren Auswertung notwendigen Schwerpunkte, Kategorien und Eingrenzungen. Der Teil B beschreibt den qualitativen Forschungsprozess und liefert eine erste Zusammenschau der Ergebnisse. Der abschliessende Teil C widmet sich der Zusammenführung der Forschungsergebnisse mit den theoretischen Erkenntnissen. Daraus wird die Berufs-bildbeschreibung entwickelt und weiterführende Themen bezüglich der sozialräumlichen Sozialen Arbeit werden diskutiert. Die jeweiligen Kapitel sind so gestaltet, dass sie nicht zwingend in dieser Reihenfolge gelesen werden müssen. Die folgenden Hauptthemen ziehen sich durch die Arbeit und bilden den roten Faden: Sozialer Raum, Sozialraumarbeit, Sozialraumorientierung, St.Galler Modell, Berufsbild und Sozialkapital.
1.2 Begriffserklärungen
Sozialräumliche Soziale Arbeit
Der Terminus sozialräumliche Soziale Arbeit bezeichnet die Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit, die explizit im und am Sozialen Raum arbeiten. Die Fundamente der sozialräumlichen Sozialen Arbeit sind die Grundelemente der Demokratie: Partizipation, Kooperation und Dialog sowie eine verlässliche Finanzierungskultur (vgl. Biesel 2007, S. 166). Als Adressaten werden Personen, Netzwerke, Organisationen und Verantwortliche für strukturelle und materielle Gestaltung im entsprechenden Sozialraum. In dieser Arbeit wird die Funktion der sozialräumlichen Sozialen Arbeit in der Optimierung der Konstitutionen und Verhältnisse im Sozialen Raum zur Bearbeitung von sozialen Problemstellungen gesehen. Interventionen hierfür erfolgen oft durch Prozesssteuerung, Empowerment, Initiierung von Projekten und Konfliktmanagement.
Sozialraumarbeit
Die Sozialraumarbeit wird wie die sozialräumliche Soziale Arbeit betrachtet, nur dass sie erweitert inter- und transdisziplinär ausgestaltet ist. Jegliche Akteure im entsprechenden Sozialraum können Funktionen der Steuerung des Sozialraums übernehmen. Dieser Ansatz wird in der vorliegenden Arbeit nicht ausformuliert und differenziert. Wenn jedoch ausdrücklich die Sozialraumarbeit angesprochen wird, wird dieser Begriff verwendet.
Berufsbild
Beschreibt in dieser Arbeit das Bild, das sich aus einem Beobachtungsfokus über einen Beruf ergibt. Dieses Bild hat in einem gesellschaftlichen Kontext eine weitreichende Allgemeingültigkeit und es verändert sich prozesshaft, bedingt durch die Faktoren, die auf den Beruf und die Beobachtenden einwirken. Auch die berufspolitische Kategorie bestimmt das Berufsbild mit. In der Praxisforschung geht es um die Erhebung des Berufsbildes der sozialräumlich tätigen Fachpersonen und eine theoretische Untermauerung desselben.
Sozialer Raum
Der Sozialraumbegriff wird in Anlehnung an Bourdieu (1987) verwendet: Der Sozialraum ist dementsprechend abhängig vom Beobachtungsstandort und der Wahrnehmung der Beobachtenden des Raumes, von den sozialen Vernetzungen im Raum und von der Manifestierung des Sozialen im Materiellen und den Strukturen im Raum. Diese gegenseitige Positionierung der in Relation zueinander stehenden Faktoren bildet den Sozialen Raum (vgl. Barlösius 2011, S. 119-120). Das Sozialkapital wird als die Messgrösse von Sozialen Räumen bezeichnet: Die Menschen und Institutionen besitzen soziales Kapital (Ressourcen), das untereinander in Beziehung gebracht wird und somit verschiedenste Formen von gesellschaftlichem Sozialkapital entstehen lässt (vgl. Putnam 2001).
Sozialraumorientierung
Die Sozialraumorientierung wird in der Fachdiskussion der Sozialen Arbeit oft als Handlungsmethode und Fachkonzept bezeichnet. Folgende Bedeutungszusammenhänge werden in der Fachliteratur wiederholt genannt: Sozialraumorientierung als Arbeitsprinzip des sozialräumlichen fachlichen Handelns, als Lernfeld für Partizipationsprozesse, als Ausrichtung auf nachhaltige Stadtentwicklung und zur Steuerung von Angeboten und Lebenswelten (vgl. Spatscheck 2009, S. 33). Alle sozialen Organisationen können daher sozialraumorientiert handeln, was aber nicht die explizite Tätigkeit in und am Raum bezeichnet.
2 Ausgangslage
Räume sind immer Soziale Räume. Sie sind das Ergebnis sozialer Praktiken verschiedenster Akteure. Gesellschaftliche Entwicklungen wie die stärkere Mobilität, Zersiedelungstendenzen, der demografische Wandel oder die veränderte Thematisierung des öffentlichen Raums setzen neue Herausforderungen und fordern proaktive Gestaltungsformen. Um nachhaltige Lösungen zu entwickeln, vermag ein erweiterter Blick auf räumliche, soziale und steuerungslogische Dimensionen sozialräumliche Herausforderungen vollumfänglich zu erfassen. (FHS St.Gallen 2013, Kompetenzzentrum Soziale Räume, ¶1)
Im geschichtlichen Ursprung der Sozialen Arbeit steht mit der Settlement-Bewegung das Quartier im Zentrum (vgl. Biesel 2007, S. 23). Im aktuellen Umgang der Sozialen Arbeit mit Sozialen Räumen sind ein wachsender Fachdiskurs und eine Zunahme an Interventionen im Sozialraum zu beobachten. Die Sozialraumorientierung entwickelt sich damit tendenziell zu einer Tätigkeit im Sozialen Raum. Diese Sozialraumarbeit hat viele Facetten, erfolgt interdisziplinär und etabliert sich mehrheitlich in urbanen Gebieten und im ländlichen Kontext in Projekten. In der vorliegenden Arbeit wird daher die Frage nach der Berufsidentität und dem Berufsbild der Fachkräfte der Sozialen Arbeit in der Sozialraumarbeit und nach ihrer Funktion und Legitimation im interdisziplinären Setting gestellt. In bestehenden Berufsbildern der Sozialen Arbeit fehlt nämlich diese Ausrichtung auf den Sozialen Raum hin noch weitgehend. Die Intensivierung der Sozialraumarbeit im fachlichen Diskurs hingegen veranschaulicht das Beispiel Schweizerischer Fachhochschulen, für die gilt:
Die internationale und interdisziplinäre neuerliche und explizite Hinwendung zum Raum zeigt sich in verschiedenen strategischen Ausrichtungen Schweizerischer Fachhochschulen, die Raummetaphern wie Community Developement, Sozialplanung, Soziale Stadtentwicklung für übergeordnete Querschnittthemen und Schwerpunkt-bildungen regionaler, nationaler und internationaler Themensetzungen nutzen (Reutlinger & Wigger 2010, S. 7f).
Sozialraumarbeit wird dabei durch Organisationen geleistet. Eine Annäherung an die Funktionsweise der sozialräumlichen Sozialen Arbeit kann versucht und der Optimierungsbedarf benannt werden, auch wenn es die klassische Organisation dafür nicht gibt. Mit Hilfe von Praxisbefragungen und dem Vergleich der Ergebnisse mit der Theorieentwicklung, im Sinne einer Präzisierung der sozialräumlichen Arbeit, lässt sich dieses Handlungsfeld der Sozialen Arbeit jedoch entsprechend analysieren.
Der sozialräumliche Fachdiskurs beschreibt die Sozialraumorientierung und die Sozialraumarbeit in der Sozialen Arbeit. Das Handlungsfeld ‚Sozialer Raum’ ist von transdisziplinären und transnationalen Prozessen geprägt. Mit der sozialräumlichen Sozialen Arbeit stehen der Einbezug des Sozialraums ins sozialarbeiterische Verständnis und das professionelle Wirken im Sozialraum im Mittelpunkt der Betrachtung. Die Wichtigkeit des sozialräumlichen Denkens und Handelns in der Sozialen Arbeit zeigt sich in der interdisziplinären Zugangsweise zum Raum und der Ungleichverteilung der Disziplinen in den Entscheidungsstrukturen über die Gestaltung von Sozialen Räumen. Die Soziale Arbeit könnte sich daher vermehrt an der räumlichen Erkenntnisgewinnung und den Entwicklungsprozessen beteiligen und die Anliegen der Sozialen Arbeit, wie die Prävention, die Integration und die Netzwerkbildung einbringen. Die Globalisierung und die Aufweichung von nationalen Grenzen sowie die weltweiten Kommunikationstechnologien bedingen für die Soziale Arbeit eine Überprüfung der Definition und Sichtweise auf Soziale Räume, deren Funktion und Beschaffenheit. Die Beschaffenheit der Räume und die sozialen Vernetzungen verändern sich fortwährend und fordern eine Definition in Richtung ‚fliessender Räume’ oder ‚sich öffnender Räume’. Der Soziale Raum bildet durch die vielfältigen Dimensionen eine sinnvolle Grundlage und einen Zugang, um soziale und gesellschaftliche Entwicklungen zu beobachten und zu verstehen. In Organisationen, die eine sozialräumliche Soziale Arbeit anstreben, sind daher auch die Tätigkeiten sowie die Berufsrollen der Professionellen vielfältig. Je nach Einbezug des Sozialen Raums und den gewählten Zielsetzungen in der Sozialraumarbeit formieren sich die Anforderungen und methodischen Vorgehen daher unterschiedlich.
Eine breite, differenzierte sozialräumliche Praxis ist in der Sozialen Arbeit nicht vorhanden. Einerseits ist eine Förderung dieser im Sinne der sozialen Integration sinnvoll. Andererseits gibt es in den verschiedenen Disziplinen sehr unterschiedliche berufliche Umsetzungen für die Sozialraumarbeit. Eine Vernetzung unter Professionellen und eine interdisziplinäre Funktions-bestimmung ist daher unabdingbar für eine nachhaltige Praxis. Die Untersuchung der sozialräumlichen Sozialen Arbeit im Rahmen dieser Arbeit ist eine Annäherung an das entsprechende Berufsbild, das kontinuierlich überprüft werden muss. Dabei steht die Soziale Arbeit ausgerichtet auf Netzwerke, das Gemeinwesen, Soziale Räume und Gruppen im Fokus, aber nicht die ausschließlich auf diese Klientel orientierte Praxis.
2.1 Problemstellung
Nach einer einleitenden Benennung von grundlegenden sozialräumlichen Aspekten werden, ausgehend von der Literaturrecherche, drei Problemfelder beschrieben. Das Sozial-raumverständnis und die Funktion und Verortung der Sozialraumarbeit sind wichtige Komponenten der Berufsbildbeschreibung der sozialräumlichen Sozialen Arbeit. In den Fachtexten zur sozialräumlichen Sozialen Arbeit von Christian Reutlinger (vgl. Reutlinger 2011, ¶8) wird daher folgende Transformation als Paradigmenwechsel in der Praxis und Forschung der Sozialen Arbeit bezeichnet: Die Sozialraumorientierung bezogen auf die Klientel oder ein Thema entwickelt sich zur Sozialraumarbeit mit der Ausrichtung auf den Sozialraum an sich mit dessen verschiedenen Längs- und Querschnittdimensionen. Die Gemeinwesen- oder Quartierarbeit in ihrer ursprünglichen Form scheint an ihren Ansprüchen der Sozialraumbezogenheit gescheitert zu sein (vgl. Schubert 2011, ¶1). Die Sozialraumorientierung hat somit in den meisten Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit Einzug gehalten und eine Verwässerung an expliziter Fachlichkeit erfahren. Die Sozialraumarbeit als Handlungsfeld steht in einem Institutionalisierungsprozess mit grossem Entwicklungspotenzial, wobei neue Praxisformen entstehen oder angedacht werden. Die theoretischen Konzepte der Gemeinwesenarbeit, der Sozialraumorientierung und der Sozialraumarbeit funktionieren in der Praxis parallel und ineinander verwoben. Dieser Wechsel der Denkweise ist begründet in sozialpolitischen Transformationen, wie demographischen Veränderungen oder wohlfahrtsstaatlichen Deformationen und einer zusätzlichen Ausrichtungsoption der Sozialen Arbeit auf die Bevölkerung als Ganzes mit ihren Bewältigungsleistungen.
2.1.1 Das uneinheitliche sozialräumliche Verständnis
Mit dem transdisziplinären Zugang (vgl. 3.1.5) ist die Reflexion des gegebenen Kontextes mit vorherrschenden Normen in der Sozialraumarbeit wichtig. Von Bedeutung ist für die Praxis, den sozialräumlichen Diskurs interdisziplinär zu führen und über das notwendige theoretische und methodische Werkzeug zu verfügen. Diese Notwendigkeiten brauchen eine Thematisierung in der Praxiserforschung und eine entsprechende Benennung im Berufsbild. Kessl und Reutlinger (2009, ¶4) vertreten diesbezüglich die Ansicht, dass „im Mittelpunkt ... der Sozialraumarbeit ... [bei den] Fachkräften die Ausbildung einer reflexiven räumlichen Haltung [steht] als Realisierung einer reflexiven Professionalität im Fall raumbezogener Vorgehensweisen“ und die Förderung dieser bei sozialen Organisationen und politischen Verantwortungstragenden auf allen Ebenen. Die von Reutlinger und Wigger (2007) in der Ostschweiz untersuchten Praxen haben Anspruch darauf, den Sozialraum zu gestalten, wobei hier das Fehlen eines relationalen Raumverständnisses oder des Verständnisses von Struktur- und Prozessdimensionen des Sozialen oft in einer Verkürzung oder Vereinfachung der Raumwahrnehmung endet (vgl. Reutlinger & Wigger 2010, S. 51). Dieses Defizit an einem differenzierten Verständnis und der einheitlichen Definition der Funktion der sozialräumlichen Sozialen Arbeit ist eine der Herausforderungen dieser Praxisforschung. Es gilt somit, mit der vorliegenden Studie Klarheit zwischen Berufspraxis und Fachdiskurs bezüglich der Sozialraumarbeit zu schaffen. Der Transfer im Sinne der Theorieentwicklung in der Sozialraumarbeit von der Wissenschaft in die Praxis könnte durch die Beteiligten überprüft und von der Praxis zur Wissenschaft vorangetrieben werden. Selbst- und Fremdeinschätzungen der Sozialraumarbeit durch Professionelle interessieren dabei besonders in Bezug auf das Berufsbild und die Entwicklungen in der Profession der Sozialen Arbeit.
Für eine erfolgreiche sozialräumliche Soziale Arbeit und deren Verständnis braucht es eine Einbindung in gesellschaftliche Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse. Im sozialräumlichen Denken und Handeln wird somit Gouvernementalität (Foucault 2005) wichtig. Die folgenden Auszüge aus der Fachliteratur zeigen dabei die Spannweite dieser Vernetzung: Die Etablierung von sozialräumlichen Governance-Strukturen wird sinnvollerweise von einem kollektiven Lernprozess begleitet, „in dem die Beteiligung der Bürger als Bereicherung und nicht als Kompetenzverlust oder als Gefährdung der Routinen wahrgenommen wird“ (vgl. Holtkamp & Bogumil 2007; zitiert nach Schubert 2011, ¶4). „Durch den Netzwerkcharakter von Governance-Strukturen verschiebt sich sukzessive das Interventionsgefüge“ (Schubert 2011, ¶4). Das politische Mandat der Sozialen Arbeit, der Einsatz für sozialverträgliche Strukturen, ist gefordert. Gleichzeitig sind solche Mitwirkungsmöglichkeiten begrenzt und von politischen Tendenzen und Regierungsformen abhängig: „Das heißt für Soziale Arbeit insgesamt, dass gleichzeitig eine kritische Reflexion der aktuellen Möglichkeiten und Grenzen der Bearbeitung des Sozialen Raums durch die Soziale Arbeit im Sinne der Gestaltung sozialer Prozesse notwendig ist“ (Reutlinger 2011, ¶8). Denn präzise gesehen, gehören Governance-Strukturen, als Teil des Sozialraums, zu den durch die sozialräumliche Soziale Arbeit zu bearbeitenden Systemen. Gemäss Foucault meint die Gouvernementalität das Gesamtsystem der Regierungsinstitutionen mit allen Komponenten und Facetten der Machtausübung. In seinem Konzept der Gouvernementalität bezieht Foucault sich dabei auf drei verbundene Erscheinungen: die politische Rationalität, den Machttypus und die historischen Prozesse (vgl. Foucault 2005, S. 177-179). Mit Blick auf Gemeindestrukturen geht aus Praxisberichten der sozialräumlichen Sozialen Arbeit hervor, dass es sozialräumliche Ansätze schwer haben, sich nachhaltig zu verbreiten, da in Verwaltungen noch immer das territoriale Denken herrscht. Die aktuelle politische Rationalität und historische Prozesse scheinen somit mehr Bedeutung zu haben als gesellschaftliche Entwicklungen im Sozialraum.
2.1.2 Unklare Funktion und Verortung der Sozialraumarbeit
Die Funktionen Sozialer Arbeit sind aus der Sicht des Autors: (Re-) Integration in die Gesellschaft zu fördern, Prävention und stellvertretende Bewältigung von Sozialen Problemen; im Sinne der Gemeinwesenentwicklung die Förderung von Vernetzung und Mitwirkung und die Gestaltung von sozialverträglichen Strukturen und Räumen. Diese gelten grundsätzlich auch für die sozial-räumliche Soziale Arbeit. Es stellt sich daher die Frage, ob die Arbeit mit Sozialen Räumen eine neue Funktion erfüllt oder anders gefragt: Wie begegnet die Praxis der Sozialen Arbeit den vielfältigen Zugängen, der Beschaffenheit und den Anforderungen von Sozialen Räumen und wie interveniert sie bei Sozialraumproblemen?
In Sozialen Räumen wirken gesellschaftliche und politische Prozesse und prägen die Partizipation der Bevölkerung an Raumentwicklungen, die im schweizerischen Raumplanungsgesetz verankert ist. Ein politischer Auftrag, diese Mitbeteiligung herzustellen, schwingt daher für die Sozialraumarbeit mit. Die Soziale Arbeit mit ihrem Auftrag der stellvertretenden Inklusion von Individuen ist doppelt oder mehrfach adressiert und gefordert. Ob das Ziel der sozialräumlichen Sozialen Arbeit politisch ist oder u.a. in der Moderation, Initiierung oder Gestaltung der Sozialraumentwicklung liegt, sind in der Ausgestaltung der Praxis zentrale Entscheide. Um die aus diesen Zielen herleitbaren Funktionen auch kontrollieren und weiterentwickeln zu können, muss auch ein Wirkungsmessungsprozess etabliert werden. Denn die Messung von sozialer Vernetzung oder das Mass der Partizipation könnten damit vorangetrieben und benannt werden. Ist das Sozialkapital (vgl. Bourdieu 2007, S. 63) eine dafür verwendbare Grösse? Der Zusammenhang vom Sozialkapital zur Solidarität im Sozialraum wäre sicherlich ein lohnender Ansatz, der in einer separaten Studie untersucht werden müsste. Für die Berufsbildbeschreibung ist eine Annäherung an diese funktionalen Faktoren in jedem Fall von wichtiger Bedeutung.
Durch die Verbindung verschiedenster Orte und Kontexte rückt die Verortungsfrage ins Zentrum der Sozialen Arbeit. Menschen in transnationalen und transdisziplinären Gesellschaften sind immer mehr an verschiedene und wechselnde Orte gebunden. Diesem Dilemma kann die Praxis nicht ausweichen und eine Lösung ist immer an sozialräumliche Prozesse gebunden. „Verortungsprozesse stellen insofern soziale Praktiken dar, mit denen spezifische räumliche Kontexte, die das Ergebnis vormaliger sozialer Praktiken sind, verändert, bestätigt oder verworfen werden“ (Kessl & Reutlinger 2009, ¶5). Ob dieses Bewusstsein und Vorgehen in der Praxis thematisiert wird, ist zu untersuchen. „Nicht weniger, aber auch nicht mehr als eine explizite und transparente Positionierung innerhalb dieser Prozesse ist die Aufgabe einer raumbezogenen Sozialen Arbeit im Sinne der Sozialraumarbeit. Die (Weiter-) Entwicklung einer solchen Sozialraumarbeit steht allerdings erst am Anfang“ (ebd., ¶5). Durch die virtuelle Vernetzung entstehen zudem Sozialräume mit unbegrenzten Optionen. Dabei stellt sich die Verortungsfrage nochmals ganz neu und ortsunabhängig: Die Verortung der Sozialen Arbeit in virtuellen Räumen verschiebt sich tendenziell zum Individuum und dessen aktuellem Standort hin. Durch die Wechselwirkung zwischen realen und virtuellen Sozialräumen entstehen des Weiteren völlig neue Handlungs- und Vernetzungsoptionen und diese lösen gesellschaftliche Prozesse mit weitgehend unbekannten Entwicklungen aus. Deutlich wird hierbei, dass „das Internet entscheidenden Einfluss auf gesellschaftliche Bezüge nimmt und virtuelle Räume vor diesem Hintergrund als eine Ausweitung des gesellschaftlichen Sozialraums anzusehen sind, da hier in gleicher oder ähnlicher Weise Funktionen bedient werden, die dem (realen) Sozialraum zuzuordnen sind“ (Kress 2012, ¶13).
2.1.3 Fehlende Berufsbildentwicklung
Die dritte Kernfrage der Studie lautet: Wieso braucht die sozialräumliche Soziale Arbeit ein Berufsbild? Die Antwort darauf lautet: Weil sie im Berufsbild der Professionellen Sozialer Arbeit von Avenir Social weitgehend fehlt. Eine solche Berufsbildbestimmung wäre aber ein lohnender Versuch, dieses heterogene Handlungsfeld greifbar zu machen und den gemeinsamen Nenner zu betonen. In dieser Arbeit werden daher die Auswirkungen des sozialräumlichen Verständnisses auf die Profession, Berufsrolle, Qualifikationen und Ausbildung der Sozialen Arbeit und die Interdisziplinarität im Handlungsfeld fokussiert. Die Ausgestaltung der Praxis und das Berufsverständnis der sozialräumlichen Sozialen Arbeit können nämlich durch eine differenzierte Benennung transparenter werden. Eine Funktionsbeschreibung und ein mehrheitlich getragenes Verständnis von Sozialraumarbeit sind zudem für Legitimationsprozesse der Sozialen Arbeit in transdisziplinär geprägten Kontexten der Sozialraumarbeit existentiell. Denn eine räumliche Haltung erfordert eine spezifisch fachliche und damit eine berufspolitische Positionierung. „Damit schließt eine solche Sozialraumarbeit an ein reflexives Methodenverständnis an, das davon ausgeht, dass sozialpädagogische Fachkräfte prinzipiell über ein ganzes Spektrum an Methoden verfügen müssen, über deren Einsatz situationsspezifisch zu entscheiden ist und die zu legitimieren sind“ (Kessl & Reutlinger 2009, ¶1). Die Problematik der Berufsbildbeschreibung der Sozialarbeitenden in Sozialen Räumen besteht in den komplexen, pluralistischen, inter-disziplinären und interkulturellen Anforderungen an die Kompetenzen. Diese Beschreibung ist somit abhängig von Sozialen Räumen und den entsprechenden Tätigkeitsfeldern mit den sozialpolitischen Rahmenbedingungen.
2.2 Fragestellungen
Die leitenden Fragen, die daraus für die vorliegende empirische Forschung abgeleitet werden können sind somit folgende:
Wie lässt sich das Berufsbild der sozialräumlichen Sozialen Arbeit beschreiben?
- Wie wird die sozialräumliche Soziale Arbeit in Organisationsunterlagen umrissen?
- Wie ist das Selbstverständnis von Professionellen der Sozialen Arbeit in der Sozialraumarbeit bezüglich Sozialen Räumen, der Verortung, Funktion, erzielten Wirkung, Legitimation und dem inter- und transdisziplinären Setting?
- Wie ist das Fremdverständnis bei Verantwortungstragenden der Sozialen Arbeit und interdisziplinären Partnerorganisationen bezüglich Sozialen Räumen, der Verortung, Funktion, erzielten Wirkung und Legitimation der Sozialen Arbeit in der Sozialraumarbeit?
- Welche aktuellen Entwicklungsthemen und sozialpolitischen Transformationen prägen die Sozialraumarbeit?
2.3 Arbeitsthesen
Das St.Galler Modell zur Gestaltung des Sozialraums, über die Gestaltung von Orten, Steuerungsprozessen und die Arbeit mit Personen und Gruppen, lässt sich in Praxen der sozialräumlichen Sozialen Arbeit erkennen.
Das Berufsbild der Sozialen Arbeit bedarf einer Ergänzung durch die sozialräumliche Ausrichtung.
2.4 Relevanz der Praxisforschung
Der Nutzen dieser Praxiserforschung liegt im Beitrag zum Berufsverständnis in der Sozialen Arbeit. Mit der Berufsbildbeschreibung der sozialräumlichen Sozialen Arbeit wird eine Klärung und Positionierung im interdisziplinären Tätigkeitsfeld gefördert. Mit der Transparenz des vereinheitlichten sozialräumlichen Verständnisses und der expliziten Determinierung des Berufsverständnisses im Bezug zu anderen Disziplinen können die Rollenidentität und das Professionsbewusstsein in der Sozialraumarbeit wachsen. Grundsätzlich ist in der Praxis ein Bedarf an Reflexion und Abgleich von Selbst- und Fremdverständnis im Sinne der Qualitätsentwicklung gegeben. Dieser Beitrag zur Berufsentwicklung der Sozialen Arbeit durch Ergebnisse aus der Verständniserforschung der Praxis der Sozialraumarbeit richtet sich an Professionelle in der Praxis, politische Verantwortungstragende, an Interessenverbände der Sozialraumarbeit und an die Lehre und Forschung der Sozialen Arbeit. Mit dieser Arbeit ist es folglich möglich, einen Beitrag zum Wissenschaft-Praxis-Transfer im Definitions-, Funktions- und Legitimationsverständnis der sozialräumlichen Sozialen Arbeit, bezogen auf die aktuellen gesellschaftlichen Transformationen, zu leisten.
A Theoretischer Teil
Zusammenfassung
Durch das Platzieren von sozialen Gütern und Menschen, die in bestimmten Verhältnissen zueinander stehen, bildet sich der Sozialraum. Soziale Räume werden aus einer Betrachtungs-perspektive mit einem thematischen Fokus wahrnehm- und beschreibbar. Das Sozialkapital beschreibt zwischenmenschliche Vernetzung, gegenseitiges Vertrauen und Normen generalisierter Wechselwirkungen innerhalb von Gemeinschaften und macht den Sozialraum bedingt messbar. Die soziale Produktion von Raum bezeichnet den Generierungsprozess von Sozialräumen mit den grundlegenden Faktoren und Prozessen. Das St.Galler Modell zur Gestaltung des Sozialraums fusst auf den Zugängen ”Mensch“, ”Struktur“ und ”Ort“, an denen auch die sozialräumlichen Interventionen ansetzen. Sozialräumliche Soziale Arbeit hat dabei die Funktion, die ursächlichen Bedingungen von Sozialen Problemen mit Interventionen in und an Sozialen Räumen zu bearbeiten. Eine reflexive räumliche Haltung bildet die Grundlage für professionelle Sozialraumarbeit. Die Abgrenzung zur sozialraumorientierten Sozialen Arbeit liegt in deren Ausrichtung der Klientelarbeit auf Soziale Räume. Transdisziplinarität und -nationalität prägen dabei zunehmend die Gestaltung der sozialräumlichen Tätigkeiten und verlangen neue Praxisformen und Konzepte für die virtuelle Sozialraumgestaltung. Sozialpolitische Trans-formationen treffen die sozialräumliche Soziale Arbeit im Kern und fordern Innovation. Das Berufsbild als berufspolitische Kategorie beschreibt die Ist-Situation von sozialräumlicher Praxisgestaltung und ist ein Beitrag zur Berufsentwicklung.
3 Grundlagen der Sozialraumarbeit
3.1 Definitionen
Im sozialräumlichen Diskurs gibt es unterschiedliche theoretische Ansätze und Modelle, die in Kapitel 3.2 als Übersicht dargestellt werden. Es wird dabei jedoch kein Anspruch auf eine vollständige und differenzierte Diskursanalyse zur sozialräumlichen Sozialen Arbeit erhoben. Vielmehr geht es um die Einordnung der hier verwendeten grundlegenden Theorie nach Bourdieu und des St.Galler Modells zur Gestaltung Sozialer Räume. Entscheidendes Kriterium für diese Auswahl sind die vorzügliche Praxistauglichkeit und die Eignung für die Denkweise der Sozialen Arbeit. Das Generieren von sozialem Kapital nach Bourdieu durch die Akteure im Sozialraum unterstützt die Wirksamkeitsfrage in der Sozialraumarbeit. Die Auswahl der zu klärenden Themen ist dabei ausgerichtet auf den empirischen Teil und die Fragen, die gemäss der Kernfragestellungen (Kapitel 2.2) bearbeitet werden sollen. Die Kategorien für die Erfassung des Berufsbildes werden hierfür im Folgenden kontinuierlich erarbeitet und sind kursiv markiert.
3.1.1 Soziale Räume – Das St.Galler Modell
Konkrete Sozialräume können sein: Aktionsraum, Aneignungsraum, Brennpunkt, Feld, Heimat, Kontext, Lebensraum, Lebenswelt, Medienwelt, Milieu, Nahraum, Ort, Platz, Quartier, Region, Revier, Situation, Transitraum, Umwelt, Viertel, usw. (vgl. Reutlinger & Fritsche 2010, 5f.). Der begrenzten Definitionsmöglichkeit von Sozialen Räumen wird folglich mit aktuellen Theorien begegnet und mit einem vielschichtigen Verständnis.
Das Konzept des Sozialen Raums wurde zunächst von Pierre Bourdieu entwickelt. Es dient der Darstellung und Analyse sozialer Strukturen und individueller Positionen. Die Verteilungsstrukturen des gesamtgesellschaftlichen und des individuellen Kapitals (soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital) zeichnet Bourdieu in einem konstruierten dreidimensionalen Sozialen Raum nach. Orientierung im Sozialen Raum entsteht dabei durch den Habitus (Verhältnis von Raum und sozialem Verhalten) (vgl. Manderscheid 2008, S. 157f). Hierbei ist der Raum mit den zu denkenden Zugängen und Facetten und dem Fokus des Sozialen gemeint. Für zentral bei diesem Ansatz erachte ich folgende Aussage: Nicht das Räumliche ist von Relevanz, sondern das sich im Räumlichen gründende Soziale. Jeder Sozialraum ist von Menschen bestimmt und fokussiert. Bedeutend sind dadurch die Handlungsmöglichkeiten, die sich aufgrund der räumlich-baulichen Struktur, der Ausstattung und der Lage ergeben und das sinnliche Raumleben beeinflussen sowie die subjektiven Interpretationen des Raums als Lebensraum (vgl. Grimm 2007, S. 78). Dabei stellt sich die Frage, wie Soziale Räume (re-)produziert und räumliche Dimensionen sozialer Zusammenhänge z.B. von der Sozialen Arbeit erfasst werden.
„Raumordnungen ... stellen wirkmächtige Materialisierungen sozialer Prozesse dar, das heisst bestimmter Redeweisen vom Raum“ (Kessl & Reutlinger 2010). Für die Soziale Arbeit ist die Erkennbarkeit von Sozialen Räumen mit ihren Strukturen relevant, um in und an ihnen arbeiten zu können. „Der Einfluss von Räumen im Sinne physikalischer Zusammenhänge zielt nicht direkt auf die Formation sozialer Praktiken, sondern bildet eine symbolische Ordnung, in der sich historische Gestaltungspraktiken eingeschrieben haben“ (ebd. 2010, S. 129). Dies zeigt die Wechselwirkungen sozialer Prozesse mit den tradierten Werten und Normen und weist auf die zeitliche Dimension von Sozialen Räumen hin. Folgende Dimensionen charakterisieren den Sozialen Raum: Eine historische, eine physisch-materielle, eine symbolische (z.B. Macht- und Entscheidungsstrukturen), eine lebensweltliche und Alltagsdimension, eine finanziell-organisatorische und eine inhaltlich-methodische Dimension (vgl. Grimm 2007, S. 77). Wie der Raum methodisch erfasst und mit welcher inhaltlichen ‘Brille’ er betrachtet wird, ist ein weiterer Aspekt des Raumverständnisses. Je nachdem, welche sozialen Prozesse oder Akteure man fokussiert oder welches Thema interessiert, werden Räume nämlich unterschiedlich wahrgenommen. Der Betrachtungsort der Raumdimensionen ist ein gewählter und auswechselbar. In diesem Sinne können hier nur einige Betrachtungen der sozialräumlichen Theorie einfliessen, denn diese müssen als ein nie endendes Kontinuum gesehen werden, das zum Weiterdenken und neu Betrachten anregt.
Zur Frage der Konstituierung von Sozialen Räumen ist festzuhalten: Der Raum entsteht durch das Platzieren von sozialen Gütern und/ oder Menschen. Durch eine Syntheseleistung über Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Vorstellungsprozesse werden Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst. (Reutlinger, 2011)Die Bauteile des Sozialen Raumes sind materielle Ressourcen, Wissen, Rang und Zugehörigkeit, Einschluss und Ausgrenzung. Raum ist Zuschreibung und Vermachtung (vgl. Früchtel, Cyprian & Budde 2007, S. 199-202). Dieser praktische Ansatz beschreibt die Wandlungsfähigkeit und Gestaltbarkeit eines Sozialen Raumes, aber geht vom fixen Baukonzept aus und nennt soziale Wertschöpfung im ökonomischen Sinn Kapital. Die Gestaltung Sozialer Räume durch Menschen kann jedoch auch als ‚Spacing’-Prozess bezeichnet werden, in welchem Menschen sich materiell vorgefundene Räume aneignen, dabei Beziehungen eingehen und dadurch Orte zu Räumen mit eigener Qualität machen (vgl. Deinet 2006 zit. nach Spatscheck 2009, S. 34). Es gilt deshalb, die „relationale Anordnung von Menschen und sozialen Gütern und Strukturen an bestimmten Orten“ (Spatscheck 2009, S. 34) in den Blick zu nehmen. Soziale Räume sind somit gleichzeitig lebensweltliche Aneignungskontexte (vgl. Deinet 2006, S. 57), in denen sich verschiedene Formen von gesellschaftlicher Teilhabe unter je spezifischen Bedingungen verwirklichen lassen oder welche diese auch verunmöglichen können. Dass sich der physische und Soziale Raum ergänzen, konkurrenzieren, ein- oder ausschliessen und bereichern können, könnte als die Qualität der Prozesse im Raum bezeichnet werden. Folglich kann festgehalten werden, dass materielle und Soziale Räume nie kongruent sein können, weder aus individueller noch aus gesellschaftlicher Sicht. Die Wahrnehmung des Sozialraums wird versucht in Bilder zu fassen:
Raumbilder
Innerhalb des sozialräumlichen Diskurses werden vier Raumbilder immer wieder benannt (vgl. Kessl & Reutlinger 2010, S. 91-120):
- Der Global/ Lokale Raum entsteht aus den Prozessen der Globalisierung, Internationalisierung und Transnationalisierung. Es ist somit heute ein neuer Raum für die Rekonstruktion sozialer Zusammenhänge zu finden, der im Lokalen liegt.
- Der Abgekoppelte/ Aufgewertete Raum hat die Ursachen in sozialen Polarisierungsprozessen verschiedener Bevölkerungsgruppen mit ungleich verteilten Verfügungs- und Zugangsmöglichkeiten.
- Der (De-) Regulierte Raum ist begründet in einer Deregulierung sozialer Zusammenhänge und einer Regulierung in Form einer Territorialisierung des Sozialen in Folge von post-wohlfahrtsstaatlichen Arrangements.
- Der Riskante/ Sichernde Raum entsteht in post-wohlfahrtsstaatlichen Strategien mit zunehmender Behandlung, Tatvermeidung und Bestrafung des Verhaltens von Personen und weniger deren Rehabilitation.
Die Thematisierung von Raumordnungen ist ein sich entwickelnder Prozess und die Justierung von Raumbildern ist mit der Suche von Handlungssicherheit verbunden. Die Typen von fokussierten Sozialen Räumen sind damit eine Kernfrage in der Beurteilung der Praxis. Der disziplinäre Zugang zur Raumfrage ist insofern für die Soziale Arbeit interessant als vom gleichen Raum gesprochen werden kann oder vom gleichen Raumverständnis, aber der Fokus ein anderer ist und somit die Wahrnehmungsergebnisse und auch die Interventionen unterschiedlich sind. Dies zeigt, dass der interdisziplinäre Dialog und Entscheidungsprozess die Grundbedingung ist.
Dabei kommt eine ganz neue Sicht auf Räume zum Zuge: “Das Dorf oder der Stadtteil als Ort lokaler sozialer Austauschbeziehungen ist nur einer der interessanten Räume – und nicht notwendigerweise der wichtigste. Soziale Austauschbeziehungen leben weiterhin mit der face-to-face-Situation, sind aber nicht mehr sklavisch an sie gebunden“ (Grimm 2007, S. 78). Die Herausforderung vom Raumverständnis liegt in der Erfassung von effektiven Räumen, d.h. von Sozialen Räumen, die von Individuen, Organisationen oder Programmen ergründet oder erreicht werden. Sozialräume können sich über mehrere geographische Räume aufspannen oder wie russische Puppen ineinander verschachtelt sein. Geographisch-physische Flächenräume und Sozialräume menschlicher Verflechtungsbeziehungen sind ‚doppelt exklusiv ineinander verschachtelt’. Dauerhafte Sozialräume benötigen daher immer genau einen kohärenten Flächenraum (vgl. Pries 2011, S. 33).
Das St.Galler Modell
Zentral in dieser Arbeit ist das St.Galler Modell zur Gestaltung des Sozialraums:
Ein erster Zugang fokussiert die Gestaltung von Orten, d.h. die Veränderung der psychisch-materiellen Welt. Ein zweiter Zugang zum Sozialraum vollzieht sich über die Gestaltung von Steuerungsprozessen auf verschiedenen organisatorischen Ebenen von der Veränderung von Heim- oder Schulstrukturen bis hin zur Veränderung von traditionellen Verwaltungsstrukturen. Der dritte Zugang zum Sozialraum wird in der Arbeit mit Einzelpersonen oder Gruppen an Orten sichtbar. (Reutlinger & Wigger (Haller, 2007)2010, S. 16)
Das Modell wurde aus dem Projekt ‚Vermessung der Sozialraumlandschaft’ gestützt und auf der Grundlage von Experteninterviews mit Forschenden und Dozierenden durch die FHS St.Gallen entwickelt. Dabei sind Blickwinkel der Sozialen Arbeit und der Sozial- und Gemeindeplanung berücksichtigt. Diese mehrdimensionale Perspektive versteht sich als grundlegend für die sozialräumliche Soziale Arbeit. Virtuelle Räume als spezifische Ausformung des Sozialen Raumes sind von denselben drei Determinanten bestimmt. Sie sagen zudem über die Qualität und Form der Kommunikation etwas aus und werden bedingt als eigenständige Räume gesehen.
Sozialräume werden im genannten Projekt als nicht-absolute Einheiten, die das Ergebnis sozialer Prozesse sind, beschrieben (ebd 2010). Sie sind ein ständig (re-) produziertes Gewebe sozialer Praktiken, gezeichnet durch heterogene historische Entwicklungen, kulturelle Prägungen, politische Entscheidungen und bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Dieses Gewebe wirkt wiederum auf die Handlungen (vgl. Kessl & Reutlinger 2010, S. 253). Diese Prozesshaftigkeit kommt im St.Galler Modell zum Ausdruck und ist damit für die Beschreibung sozialräumlicher Arbeit geeignet. Es lassen sich die Methodenwahl und professionellen Haltungen der Sozialen Arbeit ableiten und Wechselwirkungen der Sozialen Arbeit zu anderen Disziplinen und Akteuren rekonstruieren. Gestaltungsoptimismus prägt den Charakter des Modells: Aktivierung in Form von gesellschaftlicher Mitwirkung und proaktive Gestaltung von Sozialen Räumen (vgl. Reutlinger & Wigger (Haller, 2007)2010, S. 22-23). Das Modell fokussiert die Sozial-raumorientierung und die Sozialraumarbeit mit dem Aneignungsraum von Menschen und die Aktivierung des sozialen Kapitals. Die systematischen Wechselwirkungen der drei Zugänge zum Sozialraum und Interventionsansätze im Sozialraum sind noch wenig erforscht und bedingen eine sensible Beobachtung in der Anwendung des Modells. Schlussendlich interessieren gerade diese Prozesse im Sozialraum und sind der Gegenstand der Intervention durch die Soziale Arbeit.
Sozialraumarbeit begreift sich im Bourdieu’schen Sinne in Bezug auf die eingeschriebenen Macht- und Herrschaftsverhältnisse in die sie eingewoben ist und die sie gleichzeitig mit formt (vgl. ebd., S. 50-51). Weiter ermöglichen es die interdisziplinären Zugänge zum Sozialen Raum der Sozialen Arbeit, herausgefordert durch die multiplen Sichtweisen, ihre Methoden und ihr Kompetenzspektrum weiter zu entwickeln. Das St.Galler Modell unterstützt durch seinen Charakter die Aufgabe, die Steuerungsprozesse und die Bearbeitung des Sozialraumes in der folgenden Praxisuntersuchung genauer zu betrachten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: St.Galler Modell: Denkfigur zur Gestaltung des Sozialraums (ebd., S. 46)
3.1.2 Sozialraumarbeit/ Sozialräumliche Soziale Arbeit
Die Sozialraumarbeit und die sozialräumliche Soziale Arbeit werden hier im Sinne der Sozialen Arbeit gleichbedeutend verstanden. Die Sozialraumarbeit kann aber zusätzlich inter- oder transdisziplinär ausgestaltet sein. Dies zu untersuchen sprengt den Rahmen dieser Arbeit. Die geringe Verbreitung der Sozialraumarbeit hängt mit der sich entwickelnden Wahrnehmungspraxis von Sozialen Räumen und der politischen Prioritätensetzung zusammen. Im theoretischen Diskurs lässt sich mit den verschiedenen sozialräumlichen Zugängen ein grobmaschiges Verständnisnetz der Sozialraumarbeit feststellen. Gemäss Kessl (2010, S. 133) beschränken sich sozial-raumorientierte Ansätze auf raumbezogene Strategien Sozialer Arbeit in Bezug auf die dominierenden, oben beschriebenen Raumbilder. Hingegen „versteht sich Sozialraumarbeit explizit als Arbeit am Sozialen Raum, d.h. sie begreift sich selbst als aktive Gestalterin sozialer Zusammenhänge, als deren bewusste Ausgestalterin“(Kessl, Reutlinger, & Deinet, 2007) (Kessl, Reutlinger & Deinet 2010, S. 133). Diese ‚ Arbeit am Sozialen Raum und die Soziale Arbeit als Ausgestalterin ’ werden hier als zentrale Definition betrachtet. Im systemischen Sinn nach Luhmann (1987), frei übertragen auf die Sozialraumarbeit, werden intervenierende Organisationen selbst Teil des Sozialen Raumes mit ihren Macht- und Entscheidungsstrukturen. Jede Gestaltung des Sozialen Raumes betrifft die sozialräumlichen Akteure mit. Die Wirkung der sozialräumlichen Arbeit ist Teil des Sozialraums und verändert die sozialarbeiterische Organisation. Zur Systemtheorie von Luhmann werden in dieser Arbeit aus Kapazitätsgründen nur mögliche Anschlusshinweise gegeben. (Reutlinger, 2010)
Die Plausibilität für den Sozialen Raum als zentralen Bezugspunkt Sozialer Arbeit lässt sich gemäss Grimm über die soziologische Theoriebildung des Raumbegriffs und aus der sozialarbeiterischen Theoriebildung mit Ursprung in der Settlement-Bewegung ableiten (vgl. Grimm 2007, S. 91). Neben der auf den Einzelfall der Sozialen Arbeit ausgerichteten Unterstützung bedarf es jedoch professioneller Interventionen zur Verbesserung der konkreten sozialräumlichen Bedingungen. Der Bedarf und die Legitimation der Sozialraumarbeit können nicht per se geklärt werden. Die dem Sozialraum entsprechende Bedarfserhebung kann als ein Teil der Intervention betrachtet werden, indem sich die Akteure als Teil des Sozialraums begreifen und externer und interner Bedarf bezüglich der Organisation erhoben wird. Die sozialräumlichen Dimensionen sind dabei auf die operative Umsetzung der Sozialraumarbeit zu übertragen: Auf der Mikroebene die individuellen Bezüge, auf der Mesoebene (System von Mikrosystemen) die ökosozialen Ausstattungen und auf der Makroebene (alle Systeme im Sozialraum) die globalen Wechselwirkungen (vgl. Bronfenbrenner 1989, S. 42). Die Bearbeitung Sozialer Probleme im Sozialraum interessiert aus Sicht der Sozialen Arbeit und der gesellschaftlichen Entwicklungen. Der Blick auf nicht-individuelle Problemstellungen kann Auskunft geben über den Charakter von sozialräumlichen Problemstellungen. Die Ressourcen der im Sozialraum lebenden Menschen, der sozialen Dienste, der professionellen und ehrenamtlichen Akteure sowie die vorhandenen materiellen Ressourcen werden hierbei wahrgenommen und erfasst und sind Ausgangspunkt von Sozialplanung im Sinne eines umfassenden Sozialraummanagements (vgl. Handschuck 2013, S. 15).
Funktion und Methoden der sozialräumlichen Sozialen Arbeit
Für die Annäherung an die Funktion der Sozialraumarbeit kommt in dieser Arbeit folgendes, in der Reihenfolge korrigiertes, methodisches Vorgehen zum Einsatz: Die Planung, Organisation und Steuerung im Sozialraum, als ein kreisförmig-prozesshaftes Handeln, beinhaltet folgende Phasen:
- Die Formulierung des Handlungsbedarfs,
- die Beschreibung und Bewertung des Sozialraums,
- die Zielentwicklung,
- die Entwicklung, Koordination und Steuerung von Projekten und Massnahmen und
- die Evaluation der Sozialraumarbeit (vgl. Rostock 2009, S. 59).
Da diese Phasen verwandt sind mit anderen Modellen zur Prozesssteuerung, werden Querplanungen oder Vergleiche zu anderen gesellschaftlichen Entwicklungen möglich. Einige häufig in der Fachliteratur genannte Methoden der Sozialraumarbeit sind die Instrumente des Projekt-, Netzwerk- und Kontraktmanagements. Beim Netzwerk- und Kontraktmanagement werden Verbindungen zwischen Personen begleitet oder animiert. Sozialraum- und Lebensweltanalysen haben das Ziel, Eigenschaften von Sozialen Räumen sowie Potenziale und Probleme in diesen zu erkennen und sie durch die Soziale Arbeit im Sinne einer Problemlösung nutzbar zu machen (vgl. Spatscheck 2009, S. 37). Die Frage nach der Entwicklung, Verteilung, Ausgestaltung und Verfügbarkeit des Sozialkapitals und das Einbeziehen dieser Ressourcen bekommt eine funktionale Komponente in sich und kann auch als eine mögliche Wirkungsmessung der Sozialraumarbeit gesehen werden. Weiter sind virtuelle Welten mit realen verbindbar: Durch Multimediaprojekte kann die Vernetzung und Vertiefung von virtuellen zu realen Sozialräumen gefördert werden. Dadurch lassen sich neue Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten durch ein soziologisches (Geographie und Sozialraum), narratives (Sozialraum und Geschichten) oder wahrnehmungsorientiertes (Reflexion und Sozialraum) Konzept (vgl. Röll 2009, S. 270-271) eröffnen.
An wen sich die sozialräumliche Soziale Arbeit richtet, ist entscheidend für die Funktions-definition. Das sozialpolitische Adressat wird mit unter wichtig.
Der Begriff der Sozialraumarbeit verdeutlicht, dass sich eine solche raumbezogene Soziale Arbeit nicht nur als stadtteil- oder quartiersbezogene, sondern immer als (sozial)politische Aktivität versteht. Sozialraumarbeit begreift den Bezug auf Soziale Räume insofern immer im Bourdieu'schen Sinne als Bezug auf die eingeschriebenen Macht- und Herrschafts-verhältnisse, in die sie eingewoben ist und die sie damit unweigerlich mit formt. (Kessl & Reutlinger 2009, ¶1)
Bourdieu (1997) bezeichnet die Theoreme Kapital, Habitus und Divergenz der Felder als Konstruktionsprinzipien des Sozialen Raumes, die als Grundlage für die sozialräumliche Arbeit dienen. Die Interventionen der Sozialraumarbeit liegen mehrheitlich auf der Makroebene und im Mesosystem, d.h. die Arbeit an und mit den gesellschaftlichen Strukturen und Akteuren steht im Zentrum. Die Methoden und Merkmale dieser Arbeit richten sich dabei auf ein demokratisches Verständnis aus, so dass Partizipation, Kooperation und Dialog zu den praktizierten und geförderten Kerntechniken gehören. Jedes Netzwerk ist aus einzelnen Personen gebildet. In der Praxisuntersuchung macht es daher Sinn, den Blick auf die sozialräumliche Arbeit mit Personen und Netzwerken zu richten.
„Sozialraumarbeit meint die Einnahme einer reflexiven räumlichen Haltung. Diese konkretisiert sich durch eine systematische Kontextualisierung des jeweiligen Handlungsraumes, das heißt eine systematische und möglichst umfassende Inblicknahme des Erbringungszusammenhangs“ (Kessl & Reutlinger 2009, ¶5). Schlussendlich kann die Sozialraumarbeit immer als ein Handeln im und am Ort, mit und für Menschen betrachtet werden. Die kontinuierliche Inblicknahme der zugrundeliegenden Raumbilder, das Bestimmen von Methoden und die Einnahme der reflexiven räumlichen Haltung ist somit der eigentliche professionelle Handlungsprozess. Sozialräumliche Zielsetzungen und die Art der Ziele entscheiden sich dabei im lokalen Kontext im Aushandlungsprozess der Akteure. In der Praxisuntersuchung ist der Fokus daher auf die Zielentwicklung und Überprüfung zu legen und darauf, ob sich dazu ein ‚sozialräumliches Vorgehen’ beschreiben lässt.
Ebenso wie Menschen den Sozialen Raum gestalten, beeinflusst der Soziale Raum wiederum die Menschen. Diese Wechselwirkung könnte als der zu bearbeitende Gegenstand der sozialräumlichen Sozialen Arbeit bezeichnet werden. Diese und die nachfolgend vorgestellten Beobachtungen und Tendenzen werden in der Fachliteratur wiederholt in diesem Zusammenhang hervorgehoben: Quartierarbeit oder Stadtteilentwicklung können Beispiele für die Sozialraumarbeit sein, aber keineswegs alleinige Referenzformen. So gewinnt in der strategischen Planung beispielsweise die Gestaltung von Versorgungssystemen zwischen Organisationen im Rahmen von Sozialplanungen als Antwort auf Soziale Probleme an Bedeutung. Für eine Begrenzung von Sozialen Räumen wiederum sind nicht örtliche Beschreibungen sinnvoll, sondern vielmehr das Zusammenspiel von Akteuren und Aktivitäten, die Soziale Räume konstituieren. Die konzeptuelle Ausgestaltung der Sozialraumarbeit hängt daher von den Wahrnehmungen der Sozialen Räume durch die Akteure und Professionellen vor Ort und der interdisziplinären Beteiligung dieser ab. Eine These für die Praxisforschung kann daher lauten: Als Minimalstandard sind die Qualitäten des St.Galler Modells umgesetzt. Denn die Funktion und Wirkung der sozialräumlichen Tätigkeiten sind das Kernelement der Arbeit im Sozialraum und in der Forschungsauswertung.
Im Zentrum der Funktion sozialräumlichen Handelns steht daher folgende Aufgabe: „Sozialraumarbeit ist die professionelle Arbeit an und mit diesen Sozialräumen. Ihren Ausgangspunkt sucht die Sozialraumarbeit ... an den konkreten, aber heterogenen und dynamischen Orten und dem Zusammenspiel der unterschiedlichen Aktivitäten, die Räume (re-) konstruieren“ (Kessl & Reutlinger 2008, S. 3). Die Verortung der Organisation mit ihren Strukturen und Ressourcen im Sozialraum interessiert in Bezug auf die konkrete Gestaltung der sozialräumlichen Sozialen Arbeit. Sozialräumliche Arbeit setzt nämlich bei den Bedingungen an und versucht diese zu verändern und zu gestalten. Das konkrete Handeln und die Beteiligung im Sozialraum werden dabei von den räumlich-materiellen und kommunikativen Bedingungen beeinflusst (vgl. Hinte 2009, S. 18). Der Soziale Raum kann damit als die Welt der Vernetzung mit spezifischem Thema und gewähltem Fokus gesehen werden. Sind Netzwerke Struktur, Ressource und Verortung im Sozialraum? Eine adäquate Verortung dürfte der Schlüssel zur und das Aushängeschild für die sozialräumliche Soziale Arbeit sein. Dabei haben Strukturen und Ressourcen mindestens einen Einfluss auf die Wahrnehmung der Verortung im Sozialraum. Um jedoch die notwendige Überprüfung von Qualitätskriterien in der sozialräumlichen Sozialen Arbeit vornehmen zu können, sind zuvor Kriterien der Qualität und Indikatoren zur Prüfung in der Praxisforschung möglichst zu eruieren.
3.1.3 Sozialraumorientierte Soziale Arbeit
In der fachlichen Diskussion ist zwar die Idee der sozialraumorientierten Sozialen Arbeit verbreitet, ein klares, einheitliches Fachkonzept ist hingegen nicht vorhanden. Ein sozialraumorientiertes Verständnis in der Fallarbeit und eine abgeleitete Arbeitsweise und Haltung sind heute Voraussetzungen für professionelle Soziale Arbeit. Eine detaillierte Übersicht über den Diskurs der Sozialraumorientierung sprengt allerdings diesen Rahmen. Der Fokus liegt daher nur auf dem Berner Modell der Ressourcen- und Sozialraumorientierung. Dieses zeigt zusätzlich zu der im Fachkonzept ‚Sozialraumorientierung’ nach Hinte beschriebenen sozialraumorientierten Klientenarbeit auch die Aktivitätengestaltung im Sozialraum und die lokale Sozialpolitik als Aufgaben der Sozialen Arbeit an.
Die sozialraumorientierte Soziale Arbeit umfasst folgende Handlungsprinzipien: Orientierung an den Interessen der Wohnbevölkerung, Unterstützung von Eigeninitiative, Nutzung der Ressourcen der Individuen, des Quartiers und der Stadt, Zielgruppen- und bereichsübergreifendender Ansatz und Kooperation und Vernetzung (vgl. Grimm 2007, S. 78). Dieser Ansatz ist heute in vielen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit konzeptionell entwickelt und kann in beliebigen Handlungszugängen und Disziplinen integriert werden. Er gilt im Grundsatz auch für die Sozialraumarbeit, nur geht diese viel weiter und setzt bei sozialräumlichen Interventionen an. Hier wird der Unterschied von sozialraumorientierter Sozialer Arbeit und Sozialraumarbeit deutlich: In den Feldern der Sozialen Arbeit verschiebt sich die Perspektive sozialräumlich erweitert von den sozialen Beziehungen zwischen Menschen auf die Befähigung von Einzelnen und Gruppen zur Gestaltung des Sozialen in ihrem Umfeld (vgl. Reutlinger & Wigger 2010, S. 35). Neben der individuellen Sichtweise in der Sozialraumorientierung ist hier der Blick auf Gruppen, Organisationen und Netzwerke wichtig. Die sachspezifische Arbeit und die Orientierung an Gesetzen, Programmen und Traditionen sind weitere Facetten. „Die Trias von personenzentriert, personenübergreifend und personen-unspezifischer Arbeit ergibt zusammen erst ein komplettes Verständnis sozialraumorientierter Sozialer Arbeit“ (Pantucek 2009, S. 46). Sozialraumorientierung meint damit eine kleinräumige Justierung sozialpädagogischer Handlungsabläufe zur Überwindung von institutionellen Differenzierungen, die bürgernahe, effiziente und effektive Gestaltung von Sozialer Arbeit und der Beteiligung der Betroffenen. Die Ungenauigkeit der Sozialraumorientierung liegt oft in der fehlenden Kontextualisierung des Raumbezuges. Die in Raumbildern eingelagerten Vorstellungen von Ordnungen verweisen auf Handlungsintentionen der Verantwortlichen. Mit der Benennung dieser wird den Beteiligten ermöglicht, Interventionen, Machtverhältnisse und Zielsetzungen zu erfassen und diesen transparent zu begegnen (vgl. Kessl & Reutlinger 2010, S. 44-51).
Das Berner Modell
Als eine Form der sozialräumlichen Arbeit versteht sich die Initiierung und Umsetzung der Ressourcen- und Sozialraumorientierung (RSO) in der Organisationsentwicklung und der Fallbearbeitung nach dem Berner Modell welches auf der Theorie von Hinte fusst (vgl. Kummer 2007, S. 220). Das Modell propagiert in den Gemeinden ein sozialräumlich ausgerichtetes Entwicklungskonzept und das Leitbild einer vernetzten Sozialplanung. Das Modell (ebd., S. 220ff.) bezeichnet folgende Aufgabenfelder:
- Direkte Einzelfallarbeit unter Miteinbezug der Ressourcen aus dem Sozialraum;
- Fallunspezifische Erkundung, Mobilisierung, Inventarisierung und Pflege von Ressourcen im Sozialraum;
- Sozial- und Lebensraum gestaltende Aktivitäten;
- Beförderung von Initiativen zu einer RSO ausgerichteten lokalen Sozialpolitik, Sozialplanung und Verwaltungsorganisation.
Folgende personelle Kompetenzen werden daher in der Sozialen Arbeit u.a. vorausgesetzt: Ressourcenorientierung, Orientierung an den Zielen der Klientel, Fallberatung im Team und Sozialraumorientierung (vgl. Welbring & Springer 2007, S. 235).
Im Vergleich zum Berner Modell ist das Fachkonzept ‚Sozialraumorientierung’ nach Hinte in der Fachliteratur heftig diskutiert und es wird als ‚sozialräumlich unvollständig’ bezeichnet. Folgende fünf Prinzipien prägen dabei dieses Konzept (vgl. Hinte 2007, S. 101-112):
- Wille und Interessen der leistungsberechtigten Menschen als Ausgangspunkt;
- Vorrang von aktivierender Arbeit vor betreuender Tätigkeit;
- Personale und sozialräumliche Ressourcen spielen bei der Gestaltung von Hilfe eine wesentliche Rolle;
- Aktivitäten sind zielgruppen- und bereichsübergreifend angelegt;
- Vernetzung und Integration der sozialen Dienste als Grundlage für funktionierende Einzelhilfe.
Sozialraumorientierung als fachliches Konzept wird dabei als ‚Gebäude’ dauernd renoviert, aber sein Charakter bleibt erhalten: Die Bereiche Aufbaustrukturen, Verfahren, Führungskultur sowie die konkrete Interaktionssituation zwischen Professionellen und der Klientel benötigen ständige Bearbeitung, um eine Nachhaltigkeit zu erreichen (vgl. ebd, S. 112). Wie sich Soziale Räume, Organisationen, Individuen und Institutionen kontinuierlich verändern, braucht die Sozialraumorientierung an sich ebenfalls die Ausrichtung auf die Gestaltung und Entwicklung der Prozesse, um wirksam zu bleiben.
3.1.4 Sozialräumliche Gemeinwesenarbeit
In der Praxis und in der Fachliteratur wird die sozialräumliche Interventionsform der Gemeinwesenarbeit als verbreitet und aktuell beschrieben. Für die geplante Zuordnung der empirischen Ergebnisse macht die Beschreibung der sozialräumlichen Gemeinwesenarbeit daher sehr viel Sinn.
Im Rückblick ist festzuhalten, dass die Möglichkeiten, Minderheiten im Gemeinwesen zum Widerstand zu motivieren, in den 70er Jahren überbewertet worden sind. ... Der Glaube, die Gemeinwesenarbeit [GWA] könne die Ursachen von Benachteiligung und Unterdrückung durch politische Aktivierung vor Ort beseitigen, erwies sich als Illusion. Aber das marxistisch orientierte Konzept hatte die Programmatik, das Vokabular und das Image der GWA insgesamt auf Jahre hinaus geprägt. (Schubert 2011, ¶1)
Die Vernachlässigung von professioneller Kompetenz in der GWA wird im Fachdiskurs als entscheidender Grund für den Verlust an Relevanz benannt. „GWA wurde zu einem undifferenziert benutzten und schwammigen Begriff – gleichzeitig schien es so, wie wenn Kommunen Projekte der GWA ignorierten oder gar bekämpften. GWA Projekte wurden (zu) kurzzeitig angelegt oder von freien Trägern wohlfahrtsstaatlich funktionalisiert. Das Resultat: die GWA fristete meist ein ‚Randgruppendasein’“ (Hinte 2007, S. 24). Hingegen gewinnt die Theorie der GWA an Bedeutung in der allgemeinen Sozialarbeit. GWA wurde als politisches, emanzipatorisches, die ungerechten Strukturen bekämpfendes Mittel institutio-nalisierter Sozialarbeit zu etablieren versucht. Die Ursachen Sozialer Probleme wurden dafür in erster Linie gesellschaftspolitisch und überindividuell gesehen. Für die daraus resultierenden notwendigen Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen wurden parteiliche, konfliktorientierte Strategien entwickelt und als die geeignetsten Mittel zur tatsächlichen und langfristigen Verbesserung der Lebensbedingungen gesellschaftlich benachteiligter Bevöl-kerungsgruppen und zu deren Einbindung in politische Entscheidungsprozesse favorisiert (vgl. Reutlinger 2011, ¶6).
Mittlerweile steht die Gemeinwesenarbeit, als ein methodischer Strang der Sozialen Arbeit, in einem weitgreifenden und grundlegenden Wandel, der sowohl die Praxis als auch die theoretische Aufarbeitung betrifft. Da die GWA als sozialraumorientierte Arbeit oder als Sozialraumarbeit gestaltet sein kann, ist die Grundhaltung durch die Wahl einer der beiden Perspektiven bereits determiniert und kann anhand der vorstehenden Ausführungen abgeleitet werden. Ihr Handlungsfeld wird hier zukunftsgerichtet thematisiert. Damit kann Gemeinwesenarbeit als eine spezifische Perspektive der Arbeit am Sozialen Raum bzw. der Arbeit an Sozialen Räumen definiert werden (vgl. Reutlinger 2011, ¶8). Dieser Vorschlag von Reutlinger ergibt die Querverbindung zur sozialräumlichen Entwicklung in der Sozialen Arbeit: Die Interventionen sind explizit auf den Sozialraum ausgerichtet und werden darin ausgeführt. „Eine zeitgemäße GWA-Perspektive muss deshalb den Zugang zu den heutigen Sozialen Räumen über die derzeitigen sozialen Prozesse bzw. die aktuellen sozialen Qualitäten suchen und nicht über die Analyse der physisch-materiellen Strukturen (wie beispielsweise die komplexen städtischen Strukturen)“ (Reutlinger 2011,¶7).
Im Sinne dieses Wandels steht diese Arbeit für den professionellen und aktuellen Diskurs von der Gemeinwesenarbeit in ihrer Entwicklung hin zur Sozialraumarbeit und mit der Wechselwirkung von Praxis und Theorie. Der oben beschriebene Paradigmenwechsel wird dementsprechend als notwendig erachtet, will man weiterhin am Sozialen Raum arbeiten. Denn es gilt erneut an den unsichtbar gewordenen Bewältigungsleistungen aller Menschen anzusetzen, da die dahinter stehenden Leistungen, Potenziale und Bedürfnisse durch die gängigen Einheiten der GWA (territorial, funktional und/ oder kategorial) verdeckt sind und nicht wahrgenommen werden. Engagementstrukturen der Menschen verändern sich von formalisierten Beteiligungen z.B. hin zu Nachbarschaftshilfe oder zu nicht-formalisierten Netzwerken (vgl. Reutlinger 2011, ¶8). Mit der Bevölkerung als Ganzes im Zentrum gelingt es, eine soziale Entwicklungsperspektive aufzuschließen, in der auch benachteiligte Menschen nicht als Opfer benachteiligender Strukturen gesehen werden, sondern als aktive Gestalter ihres Bewältigungshandelns.
Das Arbeitsprinzip GWA als Qualitätsmerkmal wird mit den Pfeilern mehrdimensionale Netzwerkarbeit, Alltags- und Lebensweltorientierung, Arbeit von und mit bürgerschaftlichen Organisationen, Methodenintegration, Arbeit an Leitungsebenen von Institutionen, kommunale Quartierspolitik, Gemeinwesen Ökonomie, Qualifizierung und Evaluation beschrieben (vgl. Klöck 2004, S. 163-172). Nach Oelschlägel ist GWA eine sozialkulturelle Interventionsstrategie, die sich durch folgende Merkmale charakterisiert: Bearbeitung von Sozialen Problemen in ihren vielschichtigen Dimensionen, Verwendung von interdisziplinären Theorien, integratives Handeln, Problem-Diversität, Ortsbezogenheit, Empowerment und Aktivierung von Individuen zu Subjekten (vgl. Oelschlägel 2007, S. 211-212). Bei den theoretischen Abhandlungen erscheint oft eine Aufzählung verschiedener Qualitäten der GWA; ein roter Faden im gesamten GWA-Verständnis ist aber schwer auszumachen, denn zu vielfältig sind die Zugänge und Hintergründe. Oder besteht das Gemeinsame einfach in der Tätigkeit am und im Gemeinwesen? Eine solche Sichtweise verlangt aber mehr Differenzierung und Eingrenzung.
Schubert versteht unter einer sozialräumlichen GWA die Rekonstruierung der Sozialen Arbeit hin zu einem vernetzten Zusammenwirken der Organisationen über Ressortgrenzen hinweg, eine Ankoppelung an die kommunale Sozialpolitik und den Aufbau sozialräumlicher Netzwerke, Erzeugung von Sozialraumkapital und Sicherstellung der Partizipation. „... die GWA ist im modernen Governance- Modell ein Gatekeeper, der interdependent zwischen der Bevölkerung und dem sozialwirtschaftlichen System vermittelt“ (Schubert 2011, ¶5). Dieser Funktionswechsel der GWA mit der spezifischen Grundausrichtung auf Soziale Räume ist bemerkenswert und ausbaubar. Gerade in globalisierten Gesellschaften bekommt diese Vermittlungsfunktion in Bezug auf Orte und in Sozialräumen eine zunehmend wichtige Bedeutung.
3.1.5 Transdisziplinarität/ Transnationalität
Für die sozialräumliche Soziale Arbeit ist der Einbezug von Transnationalität und Transdisziplinarität in Bezug auf Soziale Räume notwendig. Dies gilt sowohl als Forschungsverfahren, das sich auch in der integrierten Praxisforschung manifestieren kann, als auch als konkrete Praxismethode, nur mit dem Unterschied, dass sich dort die Begrifflichkeit zu international/ interdisziplinär ändert. Die Sozialraumarbeit wird von verschiedenen Disziplinen geprägt und Soziale Räume werden von Menschen unterschiedlicher Nationen gestaltet bzw. Soziale Räume erstrecken sich über Nationen.
Mit Transdisziplinarität ist in der Wissenschaft eine andauernde Kooperation zwischen Disziplinen gemeint, die zu einer wissenschaftssystematischen Ordnung führt, welche die fachlichen und disziplinären Orientierungen verändert. Transdisziplinarität ist ein Forschungs- und Wissenschaftsprinzip, das dort wirksam wird, wo eine fachliche oder disziplinäre Definition von Problemlagen und -lösungen nicht möglich ist (vgl. Mittelstrass 2007, ¶3). Das Prinzip integrativer Forschung ist ein methodisches Vorgehen, das wissenschaftliches und praktisches Wissen verbindet. Innerhalb dieses Konzeptes geht transdisziplinäre Forschung von Problemstellungen aus, jedoch nicht von Fragen, die ausschließlich wissenschaftsinternen Diskursen entspringen. Ein anderer Gesichtspunkt für das Verständnis von Transdisziplinarität ist der Grad der Integration der beteiligten Disziplinen, der als Unterscheidungsmerkmal zwischen Trans-, Inter- und Multidisziplinarität dient. Die Interdisziplinarität erbringt hierbei Lösungen durch das Zusammenführen von gemeinsamen und getrennt erzielten Ergebnissen und die Multidisziplinarität durch das Zusammenführen von getrennt erzielten Ergebnissen (ebd. 2007).
Die Wechselwirkungen der Zugänge zum Sozialen Raum über Orte, strukturelle Steuerung und Personen oder Gruppen bedarf inter- und transdisziplinärer Diskussions- und Aus-handlungsprozesse. Ein transdisziplinärer Blick ermöglicht es, Spannungsverhältnisse zwischen den Polen und Achsen des Modells zu erkennen und Sozialraumarbeit in einem umfassenden Sinn zu betreiben (vgl. Reutlinger & Wigger 2010, S. 50). Die Positionierung der Sozialen Arbeit in den inter- und transdisziplinären Prozessen und Vernetzungen steht in einer Entwicklung und Aushandlung und bedarf einer Steuerung und Überprüfung. Die folgenden Fragen stellen sich daher aus der interdisziplinären Sicht: Was macht das Spezifische der Sozialen Arbeit in der Sozialraumarbeit aus? Kann sie ohne andere Disziplinen agieren?
Im transdisziplinären Zugang der Sozialraumarbeit ist die Gestaltung von Macht– und Herrschaftsverhältnissen zentral.
Eine normative Orientierung der Sozialraumarbeit, die sich auf Grund der vielschichtigen Gestaltungsverhältnisse auf verschiedene disziplinäre Wissen abstützen müsste, könnte neben den aus der demokratischen Tradition stammenden Werten von Freiheit, Gleichheit, Sicherheit und Sozialer Gerechtigkeit auf der Ebene des Sozialen die Ermäch-tigungsperspektive von Einzelnen, Gruppierungen und Organisationen sein – Ermächtigung verstanden als die Erweiterung von individuellen und kollektiven Handlungs- bzw. Gestaltungsspielräumen. (Reutlinger & Wigger 2010, S. 51)
Die kontinuierliche Evaluation von Chancen, Grenzen, Möglichkeiten und der normativen Ausrichtung der Sozialraumarbeit und ihrer Transdisziplinarität ist im Sinne einer wirksamen und realistischen Umsetzung in der Praxis sinnvoll.
Wissenschaftliche Verfahren der integrierten Praxisforschung (vgl. Maier & Sommerfeld 2005, S. 209) berücksichtigen empirische Forschung, systematische Theorieentwicklung und praxis-bezogene Konzeptentwicklung in Projekten, die Forschung und Praxis gemeinsam durchführen. Die Sozialraum- und Lebensweltanalysen spielen dabei eine zentrale Rolle und werden oft interdisziplinär durchgeführt. Da die Soziale Arbeit eine grosse Nähe zu inter- und transdisziplinärem Vorgehen aufweist, wird die integrative Praxisforschung in sozialräumlichen Zugängen als sehr fruchtbar angesehen (vgl. Spatscheck 2009, S. 40). In diesem Zusammenhang werden auch systemtheoretische Ansätze nach Luhmann (1987) interessant, die hier nicht weiterverfolgt werden können: Verschiedene Funktionssysteme der Disziplinen treffen aufeinander und es stellt sich die Frage nach der Durchlässigkeit der Systemgrenzen und der gegenseitigen Verträglichkeit der unterschiedlichen Systemcodes. Der Einzelaspekt der Verträglichkeit wird weiterverfolgt. In der Praxisforschung bekommt die sozialräumliche Interdisziplinarität und Transdisziplinarität folglich eine zentrale Bedeutung.
Transnationalität
Die Durchlässigkeit der nationalen und internationalen Kontexte fördert die transnationale Kultur und Mobilität. Trans verweist dabei auf die Bewegung über Grenzen hinweg und auf quer zu tradierten Einheiten liegende Prozesse. Soziale Arbeit bedarf, um Soziale Probleme bewältigen zu können, einer Öffnung hin zu transnationalen Kontexten, denn „neue pluri-lokal verortete Vergesellschaftungsformen manifestieren sich“ (vgl. Reutlinger 2011, S. 54). Transnationale Sozialräume können z.B. durch internationale Migrationsprozesse, durch eine Divergenz von Stadt/ Land Verhältnissen oder durch international tätige Organisationen mit ihrer enormen räumlichen Ausdehnung, zeitlichen Verknüpfung und inhaltlichen Verschränkung von Produktionsprozessen und Wertschöpfungsketten entstehen. „Supra-nationale, globale, inter-nationale, re-nationalisierte, glokale, diasporische und transnationale Beziehungen bestehen nebeneinander und sind ineinander verwoben“ (Pries 2011, S. 34). Damit entstehen weltweite Netze sozialer Interaktionen. Der tiefgreifende Wandel im Verhältnis von Gesellschaft und Raum macht somit ein neues Raumverständnis notwendig: zwischen, durch und über Nationen hinweg.
Lokale Wirkungen transnationaler Prozesse zeichnen sich dadurch aus, dass Differenzen erkannt und bestehen gelassen werden und jede auf Konsens zielende Politik unterlassen wird. Die Intervention in diese Prozesse geschieht stattdessen durch die Wissenstransformation (vgl. Kniffki 2011, S. 77). Folgende begründeten Thesen stellt Kniffki zu den Folgewirkungen von Transnationalisierungsprozessen dar:
- „Transnationalisierung und ihre lokalen Folgen können ohne eine entsprechende Transkulturalisierung nicht wahrgenommen werden“ (ebd., S. 71).
- „Transnationale Wirkungen sind durch ‚Inkommensurabilität’ (Nichtvergleichbarkeit) gekennzeichnet, beinhalten Konflikte und sie sind nicht macht- oder herrschaftsneutral“ (ebd., S. 72).
- „Transkulturalität und Transnationalität müssen doppelt kontextualisiert werden“ (ebd., S. 73).
- „Transnationale und transkulturelle Prozesse finden in Netzwerken statt“ (ebd., S. 74).
- „Transnationale Prozesse sind nur steuerbar durch Beschreibung sowie Bewertung und bedürfen deshalb einer strategischen Positionierung“ (ebd., S. 74).
Für die Soziale Arbeit besteht die grosse Herausforderung, solche meist globalen Prozesse für den sozialräumlichen Kontext greifbar zu machen. Das doppelte Kontextualisieren öffnet den zu bearbeitenden Sozialraum über globale Territorien und die transnationale Gestaltung der Sozialen Arbeit wird zu einer kaum zu lösenden Herausforderung. Es stellt sich daher die Frage, ob solche Entwicklungen überhaupt realistisch und nachhaltig gestaltbar sind. Aktuell scheint die transnationale Soziale Arbeit noch in den Kinderschuhen zu stecken, obwohl sich einzelne Projekte im Migrationsbereich bereits in diese Richtung vorwagen.
Internet und Crowdsourcing
An dieser Stelle erfolgt ein kleiner Exkurs zur Schwarmintelligenz in Kombination mit virtuellen Räumen im Sinne einer Zeitdiagnose. Denn zur Veranschaulichung der Nutzung von virtuellen Räumen über Disziplinen und Nationen hinaus scheint dieses Beispiel gut geeignet zu sein. Aus der Sicht des Autors prägt eine spezifische Transform zunehmend Soziale Räume: Virtuelle Räume bekommen in der Postmoderne enorme Bedeutung und eröffnen neue Sozialräume mit der spezifischen Eigenschaft, Raum und Zeit überwinden zu können. Das Internet kann dabei als der Soziale Raum per se gesehen werden. Um es als Vernetzungsmedium zu nutzen, braucht man eine Perspektive, die sozialräumlich orientiert ist. Die nicht nur nach geographischen oder fachlichen Gemeinsamkeiten sucht, sondern auch die sozialen Austauschbeziehungen im Blick hat (soziales Kapital). Dabei kann das bewährte Phänomen der Schwarmintelligenz ins Spiel gebracht werden. Als unfassbar grosse Ressource bekommt die Masse ein Gewicht und verleiht der Sozialraumdiskussion eine neue Facette und zukünftiges Potenzial. Durch das Internet verändert sich die Qualität und Konstruktion von Sozialen Räumen an sich. Für Begegnung, Entwicklung von Identitäten und Bildung werden durch die virtuelle Kommunikation ergänzende Möglichkeiten eröffnet. „Dadurch entstehen Wechselwirkungen zwischen dem realen und dem virtuellen Sozialraum, welche in vielerlei Hinsicht neue Handlungsmöglichkeiten implizieren und einen Zugewinn an Gestaltungsfreiheit bedeuten. ... eine strikte Trennung zwischen dem realen und dem virtuellen Raum [kann] damit nicht mehr vorgenommen werden ... [so] dass die Grenzen fliessend werden“ (Kreß 2012, ¶13). Für die sozialräumliche Diskussion wird die Summe des sozialen Kapitals und der Ressourcen in virtuellen und realen Räumen interessant und wie die Schnittstellen kapitalfördernd gestaltet werden können. Diese synergetische Qualität der Schwarmintelligenz kombiniert mit virtuellen Räumen wird in Projekten der Wirtschaft und Wissenschaft gelegentlich erfolgreich umgesetzt. Auch in der Problemlösungsfindung im Internet lassen sich zahlreiche Foren mit diesem Ansatz beobachten.
Christian Papsdorf (2009, S. 69) beschreibt methodisch die Dimension des ‚ideellen und finanziellen Networking’ mit folgender Definition: "Crowdsourcing ist die Strategie des Auslagerns einer üblicherweise von Erwerbstätigen entgeltlich erbrachten Leistung durch eine Organisation oder Privatperson mittels eines offenen Aufrufes an eine Masse von unbekannten Akteuren, bei dem der Crowdsourcer und/oder die Crowdsourcees frei verwertbare und direkte wirtschaftliche Vorteile erlangen.“ Für die sozialräumliche Soziale Arbeit stellt sich die Frage, wie diese technologischen Entwicklungen für die Gestaltung der Sozialen Räume und die Bewältigung von Sozialen Problemen explizit genutzt werden können. Das Internet stellt die Grundlage mannigfaltiger Kommunikation und Interaktion dar und fördert darüber hinaus die Ausbildung von Netzwerken und Communities. Es entstehen neue Beziehungsformen, die losgelöst von der eigenen sozialräumlichen Verortung bestehen. Diese werden nach Reiser in Wissens- und Kommunikationsnetzwerke, Partizipationsnetzwerke, Koproduktionsnetzwerke, Ressourcen-netzwerke und räumliche Netzwerke über verschiedene Ebenen kategorisiert (vgl. Reiser 2012, ¶1). Auch wenn die virtuellen Räume und die Potenziale der Vernetzung und der Masse nicht den Schwerpunkt dieser Arbeit stellen, lohnt sich der Blick auf diese Phänomene, da sie sehr zukunftsweisend sind und enormes Problembewältigungspotenzial beinhalten. Bei den Interventionsformen der Sozialen Arbeit gibt es nur wenige, die in den virtuellen Kontexten oder bei den Verknüpfungen dieser mit den realen Sozialräumen ansetzen. Diese Innovation in virtuellen Räumen könnte daher im Sinne der Sozialraumarbeit eine Trendwende bewirken, indem sich ganz neue Copingsysteme und -qualitäten entwickeln.
3.1.6 Sozialkapital
Der Blick auf die Bedeutung des Sozialkapitals in der Sozialraumarbeit ist notwendig und geht weitgehend mit der Frage der Messbarkeit von Sozialen Räumen und sozialarbeiterischen Interventionen einher. Die zentrale Stellung von Netzwerken im Sozialraum stellt die Frage nach dem ‚sozialen Produkt’, das diese hervorbringen. Der Begriff des Sozialkapitals wurde von verschiedenen Personen in unterschiedlichen Kontexten und Dekaden entwickelt, was eine Erklärung für die definitorische Vielfalt und nicht vorhandene klare Operationalisierung des Begriffs sein kann (vgl. Haug 1997, S. 9). Klar unterscheidet sich das Sozialkapital vom Humankapital, von kulturellem und von finanziellem Kapital. Nach Bourdieu (vgl. 1997, S. 63) handelt es sich beim Sozialkapital um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen. Das Gesamtkapital der Gruppenmitglieder dient als Sicherheit und verleiht ihnen Kreditwürdigkeit. Das Beziehungsnetz des Individuums basiert auf einer fiktiven Sozial-kapitalschuld und auf dem Prinzip des Gebens und Nehmens. Der Soziale Raum wird durch die drei Grunddimensionen Kapitalvolumen, Kapitalstruktur und die zeitliche Entwicklung dieser konstruiert (vgl. Bourdieu 1996, S. 196). Gemäss Manderscheid lassen sich die Positionen der Akteure im Sozialraum entlang dieser Faktoren angeben. Diese Kapitaltypen bestimmen als Machtressourcen die Chancen im Sozialraum (vgl. Manderscheid 2008, S. 157). In der sozialräumlichen Sozialen Arbeit sind diese Qualitäten äusserst brauchbar für die Wirkungs- und Ressourcenerfassung der Interventionen.
Das Habituskonzept nach Bourdieu (1996, S. 279) nimmt eine Scharnierfunktion zwischen den objektiven Strukturen im Sozialraum und der individuellen Lebenspraxis ein (vgl. Manderscheid 2008, S. 158). Mit Habitus ist nach Bourdieu die Haltung des Individuums in der sozialen Welt gemeint. Wertvorstellungen, Einstellungen, die Lebensweise, Gewohnheiten und die Dispositionen des Einzelnen zeigen sich darin. „Die Gehalte und Potenziale des Habitus bleiben in der Regel unbewusst. Um an der sozialen Praxis teilhaben und um soziale Praxis hervorbringen zu können, sei mehr auch nicht nötig.“ (Fuchs & König 2011, S. 115) Da der Habitus durch die Sozialisationsprozesse eines Menschen gebildet wird, entsteht ein Zusammenhang mit dem sozialen Kapital. Je nach der Menge und Qualität des zur Verfügung stehenden und verwertbaren Sozialkapitals für die Habitusbildung ist auch das Handeln des Individuums, geprägt vom eigenen Habitus, mehr oder weniger bzw. unterschiedlich sozialkapitalbildend. Diese These der Wechselwirkung des Sozialkapitals mit dem Habitus von Menschen oder Gruppen wird indirekt damit gestützt, dass das soziale Kapital ständig erneuert werden muss (vgl. ebd., S. 168). Weiter dient das soziale Kapital dazu, „die Chancen der Erhaltung und Vermehrung des ökonomischen und kulturellen Kapitals zu sichern“ (ebd., S. 169). Die Vernetzungen der Menschen, die das Sozialkapital grundlegend bestimmen, sind somit abhängig von der Fähigkeit, aufbauend auf dem Habitus, diese herstellen zu können. Anderseits bestimmen die aktuellen ökomischen, kulturellen und sozialen Begebenheiten, welche sozialen Vernetzungen möglich sind und welche Qualität von Sozialkapital entsteht.
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- Arbeit zitieren
- Roman Niedermann (Autor:in), 2014, Berufsbild der sozialräumlichen Sozialen Arbeit. In Anlehnung an das St.Galler Modell zur Gestaltung des Sozialraums, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/275289