Die Komplexität des Themengebietes „Unterrichtsstörung“ offenbart sich bereits in der Suche nach einer Definition. Was ist eine Unterrichtsstörung? Wo fängt Unterrichtsstörung an? Daran anschließen würde sich folgerichtig die Frage, wer bestimmt, wann der Unterricht gestört wird (vgl. Bessoth 1989, S. 4). Das Geräusch eines heruntergefallenen Füllers wird von dem einen Lehrer bewusst oder unbewusst übergangen, für den anderen stellt dies eine Provokation und damit eine Unterrichtsstörung dar. Dementsprechend unterschiedlich fallen die verbundenen Konsequenzen aus, von der unbeeindruckten Fortführung des Unterrichts bis hin zur harschen Ermahnung oder gar Bestrafung. Hier wird deutlich, dass Unterrichtsstörung stets eine Frage der subjektiven Wahrnehmung und Bewertung der beteiligten Personen ist.
Die Literatur bietet eine Fülle von mehr oder weniger abstrakten Definitionen, wobei die Begriffsbestimmung von WINKEL die am meisten verbreitete ist: „Eine Unterrichtsstörung liegt dann vor, wenn Unterricht gestört ist, d.h. wenn das Lehren und Lernen stockt, aufhört, pervertiert, unerträglich oder inhuman wird“ (Winkel 2005, S. 29). Auch diese Definition lässt den subjektiven Spielraum erkennen: Ob der Unterricht und der Lernprozess stockt oder unerträglich wird, hängt sowohl vom Lehrer als auch von der Klasse ab. So bemerkt vielleicht nur der Lehrer das Stuhlwackeln eines Schülers, während erst die Ermahnung „Lars, jetzt hör’ doch endlich mal auf, mit dem Stuhl zu wackeln“ zu einem Stocken oder Abbruch des Lern¬prozesses bei den Schülern führt. Gemäß WINKEL stellt damit aus Schülersicht nicht der eigentliche Vorfall „Stuhlwackeln“ die Störung dar, sondern die Reaktion des Lehrers.
Inhaltsverzeichnis
1 Unterrichtsstörung – Definition und Problemhorizont
1.1 Arten und Klassifizierungen von Unterrichtsstörungen
1.2 Gründe und Ursachen für Unterrichtsstörungen
1.2.1 Lehrerbezogene Ursachen für Unterrichtsstörungen
1.2.1.1 Psychologisch bedingte Störungen im Lehrer-Schüler Verhältnis
1.2.1.2 Soziologisch bedingte Störungen im Lehrer-Schülerverhältnis
1.2.1.3 Pädagogisch bedingte Störungen im Lehrer-Schüler Verhältnis
1.2.2 Schülerbezogene Ursachen und Ziele von Unterrichtsstörungen
1.2.3 Unterrichtsbezogene Ursachen für Unterrichtsstörungen
2 Störungsprävention
2.1 Generelle Problematik
2.2 Störungsprävention auf der Unterrichtsebene
2.2.1 Befunde Kounins
2.2.1.1 Breite Aktivierung
2.2.1.2 Unterrichtsfluss
2.2.1.3 Regeln
2.2.1.4 Präsenz- und Stoppsignale
2.3 Störungsprävention auf der Beziehungsebene
2.4 Störungsprävention auf Organisationsebene
2.4.1 Räumliche Gestaltungsmöglichkeiten
2.4.2 Zusammenarbeit mit Kollegen
2.4.3 Elternarbeit
2.5 Zusammenfassende Übersicht der Maßnahmen zur Störungsprävention
3 Störungsintervention
3.1 Lehrerzentrierte Intervention
3.1.1 Reaktionen im akuten Konflikt
3.1.2 Strafen
3.1.3 Veränderungsstrategien
3.1.4 Problemdiagnose
3.2 Kooperative Intervention
3.2.1 Konstruktives Konfliktgespräch nach Gordon (Lehrer-Schüler-Konferenz)
3.2.2 Kooperative Verhaltensmodifikation im Unterricht
3.3 Organisatorische Maßnahmen der Schule zur Störungsintervention
3.3.1 Mediation
3.3.2 Die Trainingsraum-Methode
4 Zusammenfassung
5 Literaturverzeichnis
1 Unterrichtsstörung – Definition und Problemhorizont
Die Komplexität des Themengebietes „Unterrichtsstörung“ offenbart sich bereits in der Suche nach einer Definition. Was ist eine Unterrichtsstörung? Wo fängt Unterrichtsstörung an? Daran anschließen würde sich folgerichtig die Frage, wer bestimmt, wann der Unterricht gestört wird (vgl. Bessoth 1989, S. 4). Das Geräusch eines heruntergefallenen Füllers wird von dem einen Lehrer bewusst oder unbewusst übergangen, für den anderen stellt dies eine Provokation und damit eine Unterrichtsstörung dar. Dementsprechend unterschiedlich fallen die verbundenen Konsequenzen aus, von der unbeeindruckten Fortführung des Unterrichts bis hin zur harschen Ermahnung oder gar Bestrafung. Hier wird deutlich, dass Unterrichtsstörung stets eine Frage der subjektiven Wahrnehmung und Bewertung der beteiligten Personen ist. Die Literatur bietet eine Fülle von mehr oder weniger abstrakten Definitionen, wobei die Begriffsbestimmung von WINKEL die am meisten verbreitete ist: „Eine Unterrichtsstörung liegt dann vor, wenn Unterricht gestört ist, d.h. wenn das Lehren und Lernen stockt, aufhört, pervertiert, unerträglich oder inhuman wird“ (Winkel 2005, S. 29). Auch diese Definition lässt den subjektiven Spielraum erkennen: Ob der Unterricht und der Lernprozess stockt oder unerträglich wird, hängt sowohl vom Lehrer als auch von der Klasse ab. So bemerkt vielleicht nur der Lehrer das Stuhlwackeln eines Schülers, während erst die Ermahnung „Lars, jetzt hör’ doch endlich mal auf, mit dem Stuhl zu wackeln“ zu einem Stocken oder Abbruch des Lernprozesses bei den Schülern führt. Gemäß WINKEL stellt damit aus Schülersicht nicht der eigentliche Vorfall „Stuhlwackeln“ die Störung dar, sondern die Reaktion des Lehrers.
BILLER greift Winkels Gedanken auf, fasst seine Definition allerdings etwas weiter: „alles, was den Prozess oder das Beziehungsgefüge von Unterrichtssituationen unterbricht oder unterbrechen […] könnte“ (Biller 1979, S. 28). Damit schließt er nicht nur die tatsächliche Unterbrechung sondern auch die potentielle Störung in seine Deutung ein.
Die Diskussion um eine adäquate Definition wird auch immer wieder erweitert um die Problematik der Terminologie. So werden vielfach Begriffe wie „Disziplinprobleme“, „Erziehungsschwierigkeiten“ oder „Verhaltensauffälligkeiten“ synonym zum Terminus „Unterrichtsstörung“ gebraucht. Dabei kann „Unterrichtsstörung“ als weitgehend neutraler Begriff gelten, der, legt man WINKELS Definition zugrunde, die Unterbrechung des Lehr-Lernprozesses beschreibt. Die anderen Termini hingegen enthalten bereits Wertungen in Form von Schuldzuweisungen (vgl. Mäckle 2003, S. 10). Der Begriff „Disziplinprobleme“ interpretiert Unterrichtsstörungen von Seiten des Lehrers her: Sieht man Disziplin als die „genaue Befolgung von sozialen Normen und Ordnungen“ (Domke 1973, S. 11) liegt es am Unterrichtenden, auf die Einhaltung und Durchsetzung der Disziplin zu achten. Gelingt dies nicht, ist der Lehrer zu nachsichtig und damit selbst verantwortlich für die Unterrichtsstörung. Das Gegenteil suggeriert der Begriff „Verhaltensauffälligkeiten“: Hier wird die Blickrichtung allein auf den Störenden und sein Benehmen gerichtet. Ähnlich einer Krankheit liegt das Fehlverhalten im Schüler und ist zunächst einmal hinzunehmen (vgl. Winkel 2005, S. 27f.). Damit kann der Lehrer seine Verantwortung an der Störung weitgehend von sich weisen. Diese Tatsache, die man möglicherweise als Vorteil für den Lehrer sehen könnte, erweist sich als Nachteil, wenn man den Blick auf die möglichen Lösungsansätze wirft. „Verhaltensauffälligkeit“ heißt dann nicht nur fehlende Verantwortung für das Fehlverhalten sondern auch, dass der Lehrer keinerlei Handlungsmöglichkeiten hat. Wenn nur der Arzt oder Psychotherapeut den Störer zur Änderung seines Verhaltens bewegen kann, sind dem Lehrenden bei der Abstellung von Störungen faktisch die Hände gebunden. Auch der Begriff „abweichendes Schülerverhalten“ nimmt eine Etikettierung zu ungunsten des Schülers vor (vgl. Mertens 1974, S. 79). Wie bei einer „Verhaltensauffälligkeit“ auch liegt hier der Fokus nur auf dem Störer. Nach „abweichendem Lehrerverhalten“ wird man in der Literatur hingegen vergeblich suchen.
Als einzige mögliche Alternative zum Terminus „Unterrichtsstörung“ kommt der Begriff „Konflikt“ in Betracht. Wenn er auch nicht synonym ist, so weist „Konflikt“ dennoch eine ähnliche Neutralität wie „Unterrichtsstörung“ auf. Auch hier wird zunächst nur eine Darstellung ohne direkte Schuldzuweisung vorgenommen. Ein Konflikt im pädagogischen Kontext kann, ebenso wie die Störung, sowohl durch Lehrer als auch durch Schüler verursacht worden sein. BECKER bevorzugt diese Terminologie und definiert Konflikt als eine „für den Lehrer berufsfeldspezifische Auseinandersetzung, Belastung und/oder Schwierigkeit, die eine unterschiedlich starke emotionale, kognitive und/oder physische Beeinträchtigung mit sich bringt“ (Becker 2000, S. 20 f.).
1.1 Arten und Klassifizierungen von Unterrichtsstörungen
Es erscheint sinnvoll, sich zunächst einen Überblick über die verschiedenen Arten von Unterrichtsstörungen zu verschaffen, denen man die einzelnen Vorfälle zuordnen kann. Diese Form der Standardisierung ermöglicht es, wiederkehrende Muster abzuleiten und in einem weiteren Schritt mögliche Lösungswege zu diskutieren. Dazu trägt auch eine Graduierung bei, die die Stärke und Bedeutsamkeit der Störung beschreibt (vom Schein- bis zum Extremkonflikt) und dem Lehrer anzeigt, ob und wie ein Einschreiten seinerseits geboten ist.
WINKEL unterscheidet sechs Kategorien von Unterrichtsstörungen, die sich nicht nur in ihren Darstellungsformen voneinander unterscheiden, sondern auch im möglichen Handlungsspielraum des Lehrers (vgl. Winkel, S. 80 ff.)
1. Disziplinstörungen
Wenn Disziplin das Befolgen von sozialen Normen und Ordnungen ist (Domke 1973, S. 11), dann liegen Störungen folglich immer dann vor, wenn von diesen Reglementierungen abgewichen wird. Im Schulalltag heißt das, dass gegen die Schulordnung, Klassenregeln oder Vorgaben des Lehrers verstoßen wird. Beispiele sind das unerlaubte Essen während des Unterrichts oder Schüler, die zu spät von der Pause kommen
2. Provokationen und Aggressionen
Wie der Name Provokation bereits andeutet, versucht hier der Störer, Lehrer und/oder Mitschüler herauszufordern oder bewusst zu schädigen. Ein Schüler, der seine Arbeit in die Ecke wirft oder den Lehrer nachäfft, kann hier als Exempel dienen
3. Akustische und visuelle Dauerstörungen sowie allgemeine Unruhe bzw. Konzentrationsstörungen
Diese Störungsart schließt das Verhalten ein, das zu einer nicht unterrichtsbezogenen Steigerung des Lärmpegels innerhalb der Klasse führt, also z.B. Schüler, die miteinander schwätzen. Das Herumzappeln eines Schülers stellt eine visuelle Dauerstörung dar. Die geistige Abwesenheit, hohe Ablenkungsbereitschaft und langsames Arbeiten von Schülern fallen in den Bereich der Konzentrationsstörungen
4. Störungen aus dem Außenbereich des Unterrichts
Dieser Punkt umfasst alle störenden akustischen und visuellen Einflüsse, die nicht durch die Klasse, sondern durch Dritte generiert sind. Der Hausmeister, der vor dem Fenster den Rasen mäht, der tief-fliegende Kampfjet der Bundeswehr oder die hereinplatzende Kollegin, die ein Stück Kreide braucht – all diese Unterbrechungen kommen zunächst von außen und sind durch den Lehrer nur sehr bedingt abstellbar. Treffen die störenden Außeneinflüsse mit einer erhöhten Ablenkungsbereitschaft der Schüler zusammen (vgl. Punkt 3) können sie Auslöser einer ganzen Störungsserie werden
5. Lernverweigerung und Passivität
Hier verweigert einer oder mehrere Schüler die Mitarbeit am Unterrichtsgeschehen. Dies kann aufgrund von Über- oder Unterforderung auftreten oder aus Gründen der Provokation (vgl. Punkt 2). An diesem Beispiel ist erkennbar, dass die Grenzen zwischen den Störungsarten mitunter fließend sind und Interdependenzen und Kausalketten bestehen
6. Neurotisch bedingte Störungen
Diese Störungsart hebt sich von den anderen fünf ab, da der Lehrer zumeist nur den Folgen, nicht aber der eigentlichen Störung begegnet, die einen medizinischen Hintergrund hat. Tics, Stottern, Nägelkauen sind das sichtbare Verhalten, das auf organische Defekte beim Schüler hinweisen kann. Daher besteht der Handlungsspielraum für den Lehrer in solchen Fällen lediglich darin, den Schüler an einen Neurologen, Psychologen oder Mediziner zu verweisen.
Darüber hinaus unterscheidet WINKEL Störungen auch nach ihrer analytischen Ebene, d.h. von welcher Seite her die Störung definiert wird (Lehrer, Schüler, Lehr-Lern-Prozess). So kann sich der Lehrer durch das Verhalten eines Schülers gestört fühlen, während die Schüler dies gar nicht wahrnehmen und der Lernprozess in keiner Weise beeinflusst wird. Die Störungsrichtung stellt einen weiteren Parameter dar, nach dem Störungen differenziert werden können. Das Nachäffen des Lehrers beispielsweise würde unter die personale Störungsrichtung Schüler-Lehrer fallen, das Pieksen eines Mitschülers mit dem Zirkel unter die Störungsrichtung Schüler-Schüler. Die Richtung kann aber auch abstrakt sein, was sich im Falle der Normverletzung (Störungsrichtung: Schüler-Norm) zeigt
Schließlich können auch die möglichen Folgen von Störungen ein Klassifizierungskriterium darstellen: Kommt der Unterricht nur kurz zum Stocken, führt die Störung zu einer allgemeinen Verschlechterung des Klassenklimas oder bricht der Lehr-Lernprozess komplett ab? Dies hängt, neben dem Umgang mit der Störung, auch mit der Schwere der Unterrichtsstörung zusammen. Sowohl BILLER als auch BECKER schlagen eine derartige Klassifizierung vor, weichen allerdings in der Terminologie voneinander ab (vgl. Biller 1979, S. 34ff. und Becker 2000, S. 17ff.). Bagatellstörungen (BILLER) beziehungsweise Scheinkonflikte (BECKER) sind keine böswilligen Affronts gegenüber der Lehrperson oder Mitschülern und sollten nicht als solche angesehen werden. Es handelt sich zumeist um kurzfristige Unaufmerksamkeiten, Übermut oder Vergesslichkeit einzelner Schüler. So zählen beispielsweise vergessene Hausaufgaben, das einmalige, unaufgeforderte Herausrufen der richtigen Antwort oder die sporadische Neckerei eines Mitschülers zu derartigen Scheinkonflikten. Aufgrund ihrer Belanglosigkeit ist hier ein energisches Einschreiten von Seiten des Lehrenden in der Regel unangebracht.
Die folgende Stufe bezeichnet BILLER bereits als ernsthafte Störungen, während BECKER sie als Randkonflikte mit kurzer, geringer Beeinträchtigung des Unterrichtes tituliert. BILLER unterscheidet in direkte und indirekte ernsthafte Störungen. Indirekte Störungen finden außerhalb des eigentlichen Unterrichts statt, verschlechtern aber insgesamt das Schulklima und können sich daher mittelbar auf die einzelne Schulstunde auswirken. Zu dieser Störungsklasse gehören gestörte Beziehungen zum Schulhauspersonal (z.B. „Racheakte“ von Schülern am Hausmeister), Störungen im normierten Schulbereich, also Verstöße gegen Schul- und Hausordnungen, sowie als dritte Gruppe Störungen im außerschulischen Bereich. Hierzu zählen exemplarisch das Anpöbeln von Erwachsenen oder der unverantwortliche Umgang der Schüler mit Nikotin und Alkohol, also Verhaltensweisen die deutlich über den schulischen Kontext hinausgehen.
Gegenüber diesen indirekten Störungen belasten die direkten das Lehrer-Schülerverhältnis unmittelbar. Sie zeigen sich im schulischen Arbeitsbereich beispielsweise in Form von Faulheit oder Überforderung der Schüler. Lehnen Schüler einen Lehrer generell ab, befolgen seine Anweisungen nicht oder lügen ihn an, fällt dies nach BILLER ebenfalls in die Gruppe der direkten ernsthaften Störungen des Unterrichts.
Die folgende Stufe ist nach BECKER der Zentralkonflikt. BILLER gebraucht den Begriff der unbehebbaren Störung. Diese ist nicht notwendigerweise eine Steigerung zur vorhergehenden ernsthaften Störung. Vielmehr bezieht sich BILLER auf den sehr eingeschränkten Handlungsspielraum des Lehrers, da die Störung in der Anlage der Kinder oder ihrer Um- und Mitwelt liegt. Die Aufgabe des Lehrers liegt hier weniger in der direkten Einwirkung auf den Schüler als im Hinzuziehen kompetenter Dritter, z.B. Schulpsychologen oder Mediziner. Damit deckt sich diese Störungsklasse zumindest teilweise mit WINKELS Gedanken der neurotisch bedingten Störung.
Extremkonflikte (BECKER) und unvermeidbare Störungen (BILLER) liegen im natürlichen Antagonismus zwischen dem Schüler und der Institution Schule begründet. Dem Lehrer sind hier meist so sehr die Hände gebunden, „dass die Beeinträchtigungen akzeptiert werden müssen.“ (Becker 2000, S. 18)
All diese Gruppierungen und Klassifizierungen sollen dem Lehrer dabei helfen, konkrete Konflikte einzuordnen und zu bewerten, um die Notwendigkeit und die Art der Intervention bzw. Prävention besser beurteilen zu können (s.u. „Problemdiagnose“).
1.2 Gründe und Ursachen für Unterrichtsstörungen
Nachdem die Erscheinungsformen von Störungen nach verschiedenen Kriterien (Art der Störung, Störungsrichtung, Stärke und Relevanz von Störungen) klassifiziert wurden, soll in einem nächsten Schritt nach den Ursachen für Unterrichtsstörungen gefragt werden. Hier gibt es zwei Ansätze, die beide auf der gleichen Prämisse beruhen: Die Gründe sind stets – mittel oder unmittelbar – im Lehrer-Schüler-Verhältnis zu suchen (z.B. Lorenz 1975, S. 70f.). Dabei ist dieses Verhältnis als hochkomplexes interpersonales Gefüge zu verstehen, das von einer Vielzahl von sich wechselseitig bedingender Faktoren beeinflusst wird. Das bedeutet, dass das Verhalten des einen Partners nicht isoliert bleibt, sondern stets eine das Verhalten des einen Partners nicht isoliert bleibt, sondern stets eine Reaktion des anderen Beziehungsteiles hervorruft. Der erste Ansatz sucht den Grund für Unterrichtsstörungen zunächst beim Lehrer selbst, der zweite Ansatz richtet den Fokus auf den störenden Schüler und mögliche Gründe für sein Verhalten.
1.2.1 Lehrerbezogene Ursachen für Unterrichtsstörungen
Entgegen der weit verbreiteten Meinung, es seien stets die Schüler, die für Unterrichtsstörungen verantwortlich sind, zeigt die Untersuchung von Lehrer-Schüler-Beziehungen ein anderes Bild. Oftmals trägt der Lehrer selbst maßgeblich zur Störung bei. Er tut dies, indem er das Lehrer-Schüler- Verhältnis belastet und damit Störverhalten auf Seiten der Schüler provoziert. Diese Belastungen des Lehrer-Schüler-Verhältnisses können psychologischer, soziologischer und pädagogischer Natur sein (vgl. Lorenz 1975, S. 70ff).
1.2.1.1 Psychologisch bedingte Störungen im Lehrer-Schüler Verhältnis
Siegmund FREUD entdeckte und definierte das Phänomen der Übertragung. Er erkannte, dass Menschen dazu neigen, durch ihr Verhalten Haltungen, Gefühle, Forderungen, Bedürfnisse und Wünsche, die der Kindheit entstammen, auf Mitmenschen zu übertragen (vgl. Freud 1940, S. 306). Im pädagogischen Kontext hieße das, dass der Lehrer durch die Übertragung seiner eigenen inneren Konflikte auf die Schüler Störverhalten hervorruft. Diese intrapersonalen Konflikte spiegeln sich meist in einer der folgenden drei Formen wider (vgl. Lorenz 1975, S. 71f.):
a) Persönlicher Konflikt
Der Lehrer befindet sich in einem Konflikt mit einer ihm nahe- stehenden Person. Er weist dem Schüler nun die Rolle dieser Person zu, d.h. der Schüler wird zum Sündenbock, weil er Ersatz für eine dritte Person darstellt, die in einem Konfliktverhältnis zur Lehrperson steht. Da dem Schüler dies nicht bewusst ist, dass die Antipathie des Lehrers eigentlich nicht ihm (sondern der dritten Person) gilt, entsteht eine schwer greifbare und damit kaum lösbare Spannung im Lehrer-Schüler-Verhältnis. Die dritte Person kann auch eine abgelehnte Seite im Lehrer selbst sein. So könnte ein Lehrer beispielsweise einen aufgeweckten, eloquenten Schüler deswegen ablehnen, weil ihm seine eigene Redseligkeit ein Dorn im Auge ist
b) Rivalitätsprobleme
Auch dieser Konflikt zeigt sich darin, dass einzelne Schüler vom Lehrer ohne ersichtlichen Grund schlechter als andere behandelt werden. Die Begründung ist im Vergleich zum persönlichen Konflikt jedoch eine andere und fußt in der Kindheit: Der Lehrer stand in einem offenen oder verdeckten Rivalitätskampf zu einem oder mehreren Geschwisterteilen. Ständig musste er Angst haben, dass sein Bruder oder seine Schwester mehr Anerkennung durch die Eltern erhielten, weil sie ihn leistungsmäßig überrundeten. Im schulischen Kontext wird diese Erfahrung dann zum Problem, wenn Lehrer diese Rivalität auf einzelne Schüler übertragen, einzelne Schüler sozusagen für den konkurrierenden Geschwisterteil stehen
c) Persönliche Minderwertigkeitsgefühle
Die Tatsache, in der Kindheit bereits ständig das Gefühl gehabt zu haben, es niemandem Recht machen zu können, führt bei Lehrern teilweise zu einem übersteigerten Machtbedürfnis. Dabei wird die hierarchische Lehrer-Schüler-Beziehung durch den Lehrenden in ein persönliches Überlegenheitsgefühl umgedeutet. Dieses offenbart sich in autoritärer Willkür des Lehrers, in Form einer arroganten Distanzierung von der Klasse oder dem permanenten Klagen über das Versagen der Schüler. Auch hier wird demnach ein intrapersonaler Konflikt des Lehrers durch Übertragung auf die Schüler zu einer Belastung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses und damit zur Ursache für Unterrichtsstörungen.
1.2.1.2 Soziologisch bedingte Störungen im Lehrer-Schülerverhältnis
Wir wissen, dass jeder Mensch, der in einer Gesellschaft lebt, verschiedene Rollen annimmt, wie die des Staatsbürgers, des Familienvaters, des Vereinsmitgliedes usw. So ist auch die Rolle des Lehrers an gewisse Verhaltenserwartungen geknüpft: Je nach Definition wird ihm die Funktion als Arbeitnehmer, Kollegen und/oder Stellvertreter des Rektors zugewiesen. Im Bezug auf die Schüler soll er Lernvermittler, Erzieher, Unterrichtsleiter, Moderator, Streitschlichter oder Stellvertreter der Eltern sein (vgl. Lorenz 1975, S. 72). All diese Erwartungen werden im Begriff der „Lehrerrolle“ vereint und kumulieren sich mit den sonstigen Rollenerwartungen (Familienvater, Ehemann, Parteimitglied usw.) zu einem komplexen Konglomerat. Dieses Bündel von teilweise konkurrierenden Erwartungen kann zu einem Rollenkonflikt führen, der wiederum das Lehrer-Schüler-Verhältnis belastet. Viele Lehrer wollen den internen Konflikt damit lösen, dass sie versuchen, es allen recht zu machen, oder im umgekehrten Falle resignieren. Manche Lehrer werden autoritär, wertneutral, nehmen keine eigene Stellung oder vermeiden Konflikte, die durchgestanden werden müssten, nur um mit der Unsicherheit im Bezug auf die eigene Rolle umgehen zu können. Diese soziologisch bedingte Ursache für Störungen des Lehrer-Schüler Verhältnisses ist aus der erzieherischen Praxis heraus nur schwer identifizierbar. Oft bedarf es zu ihrer Erkennung ein hohes Maß an Willen und Kompetenz zur Selbstreflexion auf Seiten des betreffenden Lehrers.
1.2.1.3 Pädagogisch bedingte Störungen im Lehrer-Schüler Verhältnis
Während bei den soziologischen Störungen die Vielzahl und die teilweise Unvereinbarkeit der unterschiedlichen Rollenerwartungen im Mittelpunkt stehen, beziehen sich die pädagogisch bedingten Störungen ausschließlich auf die Lehrerrolle. Die Frage, wie der einzelne Lehrer seine Rolle in der Klasse sieht, steht im Zentrum dieses Konfliktkreises. Hierbei stellen die logotrope und die paidotrope Grundhaltung die äußersten Gegenpole dar. Der eine Lehrer sieht seine Aufgabe ausschließlich in der Vermittlung von Wissen (logotrop) und erwartet von den Schülern dieselbe Affinität zum Lernstoff, die er selbst zeigt. Er vernachlässigt seine erzieherische Aufgabe völlig, geht nicht auf die Wünsche und Bedürfnisse der Klasse ein und reduziert den Aufbau von Beziehung zu seinen Schülern auf das Nötigste. Die Folge ist eine Atmosphäre der Fremdheit und Kälte, die fast zwangsläufig Reaktionen in Form von Unterrichtsstörungen auf Schülerseite provoziert. Den Gegensatz stellt der Lehrer mit einer paidotropen Berufsauffassung dar. Er sieht ausschließlich seine Schüler und deren Interessen, Neigungen und Wünsche im Zentrum seines pädagogischen Handelns. Dabei ist seine Toleranzgrenze ausgesprochen hoch und er weiß praktisch jedes Fehlverhalten seiner Schüler zu rechtfertigen. Die eigentliche Wissensvermittlung und die systematische Bearbeitung des vorgesehenen Stoffpensums treten in den Hintergrund. Damit zeichnen sich auch bei dieser extrem schülerbezogenen Interpretation der Lehrerrolle schwerwiegende Belastungen im Lehrer-Schüler-Verhältnis ab. Der Lehrer, der meint, dem Schüler durch eine derartige Grundhaltung den größten Respekt zu zollen, vergisst, dass „respektieren“ auch heißt, dem anderen kritisch gegenüberzustehen und ihn damit als Persönlichkeit ernst zu nehmen (vgl. Glöckel 2000, S. 64). Versäumt es der Lehrer, den Schülern auch Grenzen und damit Möglichkeiten zur Orientierung aufzuzeigen, ist ein gestörter Unterrichtsablauf vorprogrammiert.
Die erläuterten lehrerbezogenen Ursachen – psychologisch, soziologisch, pädagogisch – gehen von der Annahme aus, dass das Phänomen „Unterrichtsstörung“ stets aus einem mangelhaften Lehrer-Schüler- Verhältnis heraus entsteht. Positiv hieran ist, dass der Handlungsspielraum des Lehrers in der Gestaltung des Verhältnisses relativ groß ist. Er kann durch Veränderung seiner eigenen Einstellung (s.o.) und seines Verhaltens Einfluss auf die Beziehung zu den Schülern und damit auf die Unterrichtsstörung nehmen. Andererseits ist die Frage zu stellen, ob eine derartige Sichtweise realistisch ist. Der Junge, der beim Frühstück einem lautstarken Streit zwischen seinen Eltern beiwohnen musste, kann im Unterricht seine Mitschüler mit Papierkugeln beschießen, ohne dass eine grundlegende Störung im Verhältnis zu seinem Lehrer vorliegt. Hinzu kommt, dass ein Lehrer, der jede Disziplinlosigkeit seiner Schüler umgehend als Störung der Beziehung zur Klasse deutet, sich früher oder später selbst die Unfähigkeit zum Beziehungsmanagement attestieren wird. Daher sollte man, bei aller Berücksichtigung der erläuterten Belastungsfaktoren im Lehrer-Schüler-Verhältnis, die individuellen Gründe für Unterrichtstörungen auf Schülerseite nicht außer Acht lassen. Nur so ist im folgenden Schritt die Ausarbeitung von wirklichkeitsnahen Interventions- und Präventionskonzepten möglich.
1.2.2 Schülerbezogene Ursachen und Ziele von Unterrichtsstörungen
Die Frage, inwieweit die Gründe für störendes Verhalten im Unterricht beim Störer selbst liegen und in welchem Maße er Verantwortung für sein Benehmen trägt, ist oftmals sehr komplex (vgl. Gerspach 1998, S. 19). Es empfiehlt sich, die möglichen Gründe unter den drei dominierenden Erklärungsansätzen zu subsumieren, die die Diskussion beherrschen: die individuelle, die gesellschaftliche und die institutionelle Sichtweise (vgl. Nolting 2002, S. 15ff.).
Die individuelle Sichtweise setzt die Störung mit dem Störer gleich. Dies hat zur Folge, dass die Gründe für das abweichende Verhalten ausschließlich im Störer selbst gesucht werden und damit beispielsweise psychologischer oder organischer Natur sind. Gerade in den letzten Jahren ist sowohl von Lehrer- als auch von Elternseite die Tendenz zu beobachten, abweichendes Verhalten des Kindes zu pathologisieren und somatische und genetische Defekte des Schülers für Störungen verantwortlich zu machen (vgl. Schön 2005, S. 8). Affektkontrollprobleme, Hyperaktivität, ADS – all diese Schlagwörter werden oftmals als Erklärungsansätze herangezogen, mit dem Vorteil, dass es keinen Schuldigen gibt. Weder Eltern noch die Gesellschaft, der Lehrer oder der Schüler selbst können verantwortlich gemacht werden. Diesem „Vorteil“ steht der Nachteil gegenüber, dass man sich der Lehrer sämtlicher Einflussmöglichkeiten auf das Verhalten des Schülers und somit auf die Störung beraubt: „Eine schwierige Klasse besteht auf diese Weise aus zu vielen verhaltensgestörten Kindern; sie unterrichten zu müssen ist keine Herausforderung sondern schlichtweg berufliches Pech.“ (Lohmann 2003, S. 15).
Ein weiterer maßgeblicher Faktor, der auf den individuellen Schüler einwirkt und ein möglicher Grund für sein störendes Verhalten sein kann ist die Familie, vor allem Eltern und Geschwister (vgl. von Freyberg 2005, S. 111ff.). In Zeiten aufbrechender Familienstrukturen, allein erziehender Elternteile, promisken Partnerschaften oder Patchworkfamilien ist es für die Heranwachsenden oft schwer, mit den Situationen fertig zu werden, denen sie ohnmächtig gegenüberstehen. Sie haben nicht die Möglichkeit, von zuhause auszuziehen, sich einen neuen Partner, d.h. neue Eltern zu suchen und müssen nach anderen Kanälen suchen, um ihre Wut, den Frust und ihre Ängste zu verarbeiten. Oftmals drückt sich das in der Schule in Form von Störverhalten, Aggressivität oder Passivität aus (vgl. Klein 2001, S. 15). Neben der Familienstruktur hängt es vielfach auch von der Art der Erziehung ab, ob ein Schüler im Unterricht negativ auffällt oder nicht. So kann der verwöhnend-permissive Erziehungsstil dazu führen, dass das Kind nie gelernt hat Grenzen zu akzeptieren und diese einzuhalten, was im Unterrichtsgeschehen zu Disziplinproblemen führen kann. Auf der anderen Seite kann eine vernachlässigend-verwahrlosende oder strafend-unterdrückende Erziehung zur Folge haben, dass der Schüler aufgrund seiner seelischen Unterversorgung keine Beziehung zu Lehrer und Mitschülern aufbauen kann und daher durch aggressives oder störendes Verhalten auffällt. Schließlich kann auch das Pendeln zwischen Härte und Verwöhnung in der Erziehung aufgrund der tiefen Skepsis des Kindes zu Erziehungsinstanzen führen und damit zu bereits erwähnten Folgen. Darüber hinaus vermittelt die Erziehung oft nie explizit ausgesprochene Leitsätze, die das Kind verinnerlicht und nach denen es im Unterrichtsgeschehen handelt. Solche Leitsätze können sein: „Störe, sonst wendet man sich dir nicht zu“, „Räche dich, wenn man dich verletzt“ oder „Stell dich blöd, dann hast du Ruhe“ (Keller 1997, S. 574). Oftmals ist es für den Lehrer schwer, in der Erziehung begründete Störungsursachen zu identifizieren. Gleichzeitig schränkt die Zuschreibung von Störverhalten auf die elterliche Erziehung den Handlungsspielraum des Lehrers ähnlich stark ein, wie die vorschnelle Diagnostizierung von Hyperaktivität oder ADS. Auch hier ist der Lehrer praktisch machtlos, da er keinen Einfluss darauf hat, was mit dem Kind im häuslichen Umfeld passiert.
Die gesellschaftliche Sichtweise verweist bei der Suche nach Gründen auf die soziale Benachteiligung, die Herkunft oder das Wohnortmilieu nicht nur des einzelnen sondern ganzer Schulklassen. Verantwortlich für Störungen im Unterricht ist hier letzten Endes das defizitäre Gesellschaftssystem. Es ist daran schuld, dass die Kinder und Jugendlichen von den Medien abgestumpft werden, zweifelhaften Vorbildern nacheifern, keine Freizeitangebote haben und durch den hektischen Lebensstil gereizt und unruhig sind. Gerade in strukturschwachen Gebieten mit hohen Arbeitslosenquoten, geringen Durchschnittseinkommen und alarmierenden Kriminalitätsraten wird der gesellschaftliche Aspekt verstärkt zur Erklärung von störendem Schülerverhalten im Unterricht herangezogen. Dieser, teilweise sicherlich berechtigte Ansatz, enthält zwei Probleme. Erstens verleitet er zu einer voreiligen Vereinfachung, die nicht erklären kann, warum zwei Klassen aus dem selben Einzugsgebiet unterschiedlich diszipliniert sind und es in Klasse 6a zu massiven Unterrichtsstörungen kommt und in der 6b nicht. Zum zweiten steht der Lehrer vor dem gleichen Dilemma, wie bei der individuellen Sichtweise – er ist machtlos, sein Handlungsspielraum bezüglich der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ist äußerst begrenzt. Ein Lehrer, der ausschließlich die gesellschaftliche Sichtweise als Störungserklärung heranzieht, wird nicht mehr tun können, als über die schlechte Welt und die beklagenswerte Zeit, in der die Schüler leben müssen, zu lamentieren. Damit verbaut er sich den Glauben an die eigene Handlungsfähigkeit, eine der Grundvoraussetzungen zur Verminderung und Behebung von Unterrichtsstörungen (vgl. Nolting 2002, S. 16).
[...]
- Arbeit zitieren
- Christian Manuel Fesler (Autor:in), 2006, Störungen im Schulunterricht. Grundlagen, Störungsprävention und -intervention, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/273390