Im Verhältnis zwischen Unionsrecht und nationalem Recht galt das nationale Zivilverfahrensrecht lange als vom Unionsrecht wenig beeinflusster Bereich. Im Zuge der voranschreitenden Integration in Europa haben sich jedoch auch auf diesem Gebiet eine Vielzahl von Einwirkungen entwickelt.
Solche Einwirkungen zeigen sich auch im Rahmen der sekundärrechtlichen Verbraucherschutzregelungen der Union. Hier kann es dazu kommen, dass der Verbraucher seine Rechte nicht kennt und daher relevanten Tatsachenvortrag unterlässt. Das sich daraus ergebende Spannungsfeld zwischen der Parteiherrschaft im Zivilprozess und den Verbraucherschutzgrundsätzen der Union ist Thema dieser Arbeit.
Nach einer Verortung des Themas wird die einschlägige Rechtsprechung des EuGH untersucht. Die Begründungsansätze des EuGH werden am Beispiel der Klauselrichtlinie analysiert und auf ihre Übertragbarkeit auf verschiedene Richtlinien untersucht. Vor einer abschließenden Betrachtung wird schließlich untersucht, ob der aufgeworfenen Problematik im Rahmen der richterlichen Hinweispflicht aus § 139 ZPO begegnet werden kann.
Inhaltsverzeichnis
Literaturverzeichnis
A. Verortung des Themas
B. Der Grundsatz der Parteiherrschaft im deutschen Zivilprozess
I. Der Dispositionsgrundsatz
II. Die Verhandlungsmaxime
1. Der Grundsatz
2. Das Prinzip „Iura novit curia“
C. Die Rechtsprechung des EuGH
I. Die Rechtssache Van Schijndel - Grundsatzurteil des EuGH
II. Rechtsprechung zur Klauselrichtlinie
1. Die Rechtssache Océano Grupo
2. Die Rechtssache Cofidis
3. Die Rechtssache Pannon GSM
a) Das Urteil
b) Auswirkungen auf das deutsche Recht
4. Die Rechtssache Penzügyi Lizing
a) Das Urteil
b) Die Schlussanträge der Generalanwältin
c) Schlussfolgerungen in der Literatur
5. Zusammenfassung und Bewertung
III. Rechtsprechung zu anderen Verbraucherschutzrichtlinien
1. Verbraucherkreditrichtlinie
2. Haustürgeschäfterichtline
3. Verbrauchsgüterkaufrichtlinie
a) Das Urteil
b) Auswirkungen auf das deutsche Recht
IV. Analyse der Begründungsansätze
D. Konflikte und Alternativen im deutschen Prozessrecht
I. Obligatorisches Schlichtungsverfahren
II. Die richterliche Aufklärungspflicht
E. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
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A. Verortung des Themas
Im Verhältnis zwischen Unionsrecht und nationalem Recht galt das nationale Zivilverfahrensrecht lange als vom Unionsrecht wenig beeinflusster Bereich.1 Im Zuge der voranschreitenden Integration in Europa haben sich jedoch auch auf diesem Gebiet eine Vielzahl von Einwirkungen entwickelt.
Grundsätzlich gilt bis heute die vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) anerkannte Verfahrensautonomie des nationalen Gesetzgebers.2 Nach diesem grundlegenden Prinzip gestalten die Mitgliedsstaaten ihr Zivilverfahrensrecht selbstständig aus, sind jedoch bei der Anwendung des Unionsrechts an die vom EuGH statuierten Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz gebunden.3 Diese Einschränkungen werden durch die justiziellen Gewährleistungen der Grundrechtecharta noch verstärkt.4 Daneben entwickeln sich verschiedene primär- und sekundärrechtliche Einflüsse.
Primärrechtliche Einflüsse ergeben sich zum einen aus den Grundfreiheiten und dem Diskriminierungsverbot,5 zum anderen aus der Verpflichtung der Mitgliedstaaten die effektive Umsetzung des Unionsrechts zu gewährleisten.6
Die sekundärrechtlichen Einwirkungen sind nach zwei verschiedenen dogmatischen Konstrukten zu trennen. Zum einen gibt es die auf Grundlage des Art 81 AEUV erlassenen Regelungen der Union. Diese Vorschriften zur justiziellen Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten7 schaffen ein von den mitgliedsstaatlichen Gerichten zu beachtendes Regelungskonstrukt zur Koordinierung der Abwicklung grenzüberschreitender zivilrechtlicher Streitigkeiten.
Weiterhin ergeben sich jedoch auch aus Rechtsakten der Union, die nicht originär das Prozessrecht zum Gegenstand haben, zunehmend Einflüsse. Diese mittelbaren Einflüsse zeigen sich u.a. auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts8 oder im Immaterialgüterrecht.9
Solche Einwirkungen der zweiten Kategorie ergeben sich auch durch Annexregelungen im Rahmen der Verbaucherschutzgesetzgebung der Union. Hier ist der Zweck der Regelungen nicht etwa das mitgliedsstaatliche Verfahrensrecht zu harmonisieren, sondern den Verbraucher zu schützen. Die Einwirkung auf das nationale Zivilverfahrensrecht tritt als Annex im Zuge der Verpflichtung zur effektiven Umsetzung des Unionsrechts ein.10
Dieses dogmatische Konstrukt macht die präzise Bestimmung des Maßes der nötigen Einwirkung ungleich schwerer. Es liegt gerade keine harmonisierende Richtlinie mit präzise formulierten Normen vor, vielmehr muss die Notwendigkeit und Stärke eines Eingriffs in die mitgliedsstaatliche Verfahrensautonomie anhand einer Betrachtung der Rechtsprechung des Gerichtshofs bestimmt bzw. austariert werden.
Diese Schwierigkeit zeigt sich auch im Konflikt zwischen dem unionsrechtlichen Verbraucherschutz und dem in den meisten Mitgliedsstaaten vorherrschenden Grundsatz der Parteiherrschaft. Hier kann es dazu kommen, dass der Verbraucher seine unionsrechtlich gewährten Rechte nicht kennt und sie daher nicht aktiv wahrnimmt. Im Rahmen dieser Problematik ist eine zunehmend in die Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten eingreifende Rechtsprechung des EuGH zu beobachten.11
Diese Rechtsprechung und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für das deutsche Recht werden in dieser Arbeit untersucht. Nach einer Klärung der Begriffe soll in einem ersten Schritt die Entwicklung in der Rechtsprechung des EuGH zu verschiedenen Verbraucherschutzrichtlinien betrachtet werden. Den Schwerpunkt und das wesentliche Beispiel bildet hierbei die Klauselrichtlinie.12 Einen weiteren Schwerpunkt bilden jeweils die neueren Urteile und deren Auswirkungen auf das deutsche Prozessrecht.
Als nächstes soll versucht werden, die verschiedenen Begründungsansätze des EuGH zu strukturieren und auf ihre Übertragbarkeit auf andere Richtlinien zu überprüfen.
Als letzter Schritt soll, vor dem Hintergrund der erarbeiteten Problematik, nach unionsrechtskonformen Alternativen zu einem allzu starken Eingriff in das deutsche Prozessrecht gesucht werden.
В. Der Grundsatz der Parteiherrschaft im deutschen Zivilprozess
Um die Auswirkungen des Unionsrechts auf die Parteiherrschaft zu untersuchen, müssen zunächst die Begriffe geklärt werden. Die Herrschaft der Parteien über den Zivilprozess (auch Parteifreiheit oder Parteiverantwortung)13 ist in Deutschland in zwei Verfahrensprinzipien verankert: In der Dispositions- und der Verhandlungsmaxime. Beide sind als Verfahrensgrundsätze Teil des deutschen Zivilprozessrechts.14
I. Der Dispositionsgrundsatz
Der wesentliche Inhalt der Dispositionsmaxime ist, dass die Parteien selber über die Einleitung eines Verfahrens und damit über die Geltendmachung der eigenen Ansprüche entscheiden können.15 Die Parteien können sowohl über das „ob“ der Klageerhebung, als auch über das „wie“ entscheiden.16 Diese Wertung zugunsten der Anerkennung des Individualinteresses ist im deutschen System auf dem Gebiet des Zivilrechts verbreitet und kann als prozessuale Seite der Privatautonomie bezeichnet werden.17 Das Gegenstück zur Dispositionsmaxime ist die Offizialmaxime, nach der das Gericht von Amts wegen tätig wird.18
II. Die Verhandlungsmaxime
1. Der Grundsatz
Die Verhandlungsmaxime (auch Beibringungsgrundsatz) besagt im Grundsatz, dass die Parteien alleine für die Andienung des nötigen Tatsachenstoffes zuständig sind.19 Dieser Grundsatz betrifft die Aufgabenverteilung bei der Sammlung des Tatsachenstoffs und ist daher vom Dispositionsgrundsatz zu trennen.20 Der Richter darf nicht von sich aus Tatsachenstoff in den Prozess einführen.21 Begründet wird diese Maxime u.a. mit der grundgesetzlichen Stellung des einzelnen22 und der schon angesprochenen Privatautonomie.23
2. Das Prinzip „Iura novit curia“
Um die Rechtsprechung des EuGH nachfolgend einordnen zu können, ist es notwendig klarzustellen, dass sich die Verhandlungsmaxime im deutschen Zivilprozessrecht ausschließlich auf die von den Parteien vorzutragenden Tatsachen bezieht.24 Die rechtliche Beurteilung des Vorgetragenen obliegt alleine dem Gericht.25 Es gilt insoweit der Grundsatz „iura novit curia“ (Das Gericht kennt das Recht).26 Obwohl die Grundsätze etwa in Großbritannien anders liegen,27 gilt das Prinzip in Deutschland auch bei der Anwendung des Unionsrechts.28
C. Die Rechtsprechung des EuGH
In der Judikatur des EuGH ergeben sich vielfach Eingriffe in die nationalen Parteiherrschaftsmaximen. Im Folgenden soll, nach der Darstellung des Grundsatzurteils Van Schijndel und van Veen29, zunächst eine vertiefende Untersuchung dieser Einwirkungen am Beispiel der Rechtsprechung zur Klauselrichtlinie unternommen werden. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt hier bei dem neueren Urteil Penzügyi Lizingj30 und dessen Auswirkungen auf das deutsche Recht. Die Ergebnisse sollen dann mit den bisher zu anderen Richtlinien ergangenen Urteilen abgeglichen werden. Hier soll das Urteil Duarte Hueros 31 aus dem Oktober 2013 und seine Auswirkungen auf das deutsche Recht den Schwerpunkt bilden.
I. Die Rechtssache Van Schijndel - Grundsatzurteil des EuGH
In der Rechtssache Van Schijndel und van Veen32 aus dem Jahr 1995 ging es um die Frage, ob ein niederländisches Gericht verpflichtet ist den Beibringungsgrundsatz zu durchbrechen, wenn es nur auf diese Weise zur Berücksichtigung der einschlägigen Normen des EGV käme.33 Das niederländische Gericht legte diese Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. Dazu führte der Gerichtshof aus, dass mitgliedsstaatliche Gerichte nicht verpflichtet seien einen Verstoß gegen das Unionsrecht festzustellen, wenn das nationale Prozessrecht sie eigentlich zu Passivität auffordert.34 Zur Begründung führt er an, dass dieses Prinzip Ausdruck der in den meisten Mitgliedsstaaten herrschenden Auffassungen vom Verhältnis zwischen Staat und Individuum sei. Es würden die Verteidigungsrechte derjeweils anderen Prozesspartei geschützt und insbesondere das Verfahren vor Verzögerungen bewahrt.35
Gleichzeitig stellt der Gerichtshof aber auch klar, dass dieses Prinzip Ausnahmefallen gegenüber offen sei, in denen das öffentliche Interesse ein Eingreifen erfordere.36 Damit hat der EuGH, von dieser Ausnahme abgesehen, die Parteiherrschaft als legitime Konsequenz aus der Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten grundsätzlich anerkannt.37
II. Rechtsprechung zur Klauselrichtlinie
In der folgenden Darstellung werden zunächst die schrittweise über die Urteile Océano grupo38, Cofidis39 und Pannon GSM40 entwickelten Grundsätze zur Prüfungsbefugnis des Richters auf Reichweite und Umfang untersucht. Als zweiter Schritt werden, vor einer zusammenfassenden Bewertung, die mit dem Urteil Penzügyi Lizing41 verbundenen potentiellen Auswirkungen herausgearbeitet.
1. Die Rechtssache Océano Grupo
In der Rechtssache Océano Grupo42 aus dem Jahr 2000 ging es um eine in einem Ratenkaufvertrag vereinbarte Gerichtsstandklausel, welche die Gerichtsbarkeit auf ein nicht dem Wohnbezirk des Verbrauchers zugeordnetes Gericht übertrug.43 Ähnliche Klauseln waren zuvor wiederholt für missbräuchlich im Sinne des spanischen Rechts44, das wiederum auf der Richtlinie 93/13/EWG zu missbräuchlichen Klauseln in Verbraucherverträgen basierte, erklärt worden.45 Das vorlegende spanische Gericht wollte nun wissen, ob es aus dieser Richtlinie heraus befugt sei, die vermutete Missbräuchlichkeit der Klausel von Amts wegen festzustellen.46
Der EuGH stellt zunächst klar, dass der Schutz der Richtlinie darauf abziele, den Verbraucher in seiner unterlegenen Position zu schützen.47 Das Richtlinienziel sei, da der Verbraucher nicht immer um seine Rechte wüsste und sich nicht zwangsläufig anwaltlich vertreten lasse, nur durch das Eingreifen Dritter sinnvoll zu erreichen.48 Der Gerichtshof konstatiert dazu, dass „der Schutz, den die Richtlinie den Verbrauchern gewährt [erfordert], dass das nationale Gericht von Amts wegen prüfen kann, ob eine Klausel des ihm vorgelegten Vertrages missbräuchlich ist, wenn es die Zulässigkeit einer bei den nationalen Gerichten eingereichten Klage prüft.“50
Diese Formulierung wirft gleich mehrere Fragen auf, deren Beantwortung nur anhand dieses Urteilstextes schwer möglich ist:
1. Bezieht sich der Grundsatz, wie es der Wortlaut nahelegt, lediglich auf die gerichtliche Zulässigkeitsprüfung, evtl. sogar nur auf Gerichtsstandklauseln, oder auf das Verfahren im Gesamten?
2. Statuiert der EuGH lediglich eine Befugnis zur amtswegigen Prüfung oder ist über den obigen Wortlaut hinaus eine Pflicht zur selbigen anzunehmen?
3. Wie ist die Reichweite einer sich eventuell ergebenden Befugnis oder Pflicht? Muss bzw. darf der Richter unter Umständen selber Ermittlungen anstellen um die eventuelle Missbräuchlichkeit einer Klausel festzustellen, oder beschränkt sich diese Pflicht auf solche Fälle in denen das Gericht bereits über die notwendigen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt?
2. Die Rechtssache Cofidis
Zur Beantwortung der ersten Frage eignet sich ein Blick in das Urteil in der Rechtssache Cofidis50 aus dem Jahr 2002, ebenfalls zur Klauselrichtlinie. Hier machte der EuGH u.a. deutlich, dass der durch die Richtlinie gewährte Verbraucherschutzgrundsatz sich auf das gesamte Verfahren erstrecke.51 Dies wurde von einigen Autoren bezweifelt,52 mit diesem Urteil jedoch klargestellt.
3. Die Rechtssache Pannon GSM
In der Rechtsache Pannon GSM53 ging es ebenfalls um eine zwischen einem Verbraucher und einem Unternehmer vereinbarte Gerichtsstandsklausel.54 Das vorlegende ungarische Gericht hatte im wesentlichen aufgrund von zwei Unklarheiten eine Vorlage als notwendig erachtet: Zum einen wollte es wissen, ob eine missbräuchliche Klausel „ipso iure “ unverbindlich sei.55 Zum anderen wollte es die Reichweite der Pflicht zur amtswegigen Prüfung einer Klausel präzisiert wissen.56
[...]
1 Habscheidt in: Müller Graff, Gemeinsames Privatrecht in der europäischen Gemeinschaft S. 449; Heinze, EuR 2008, 654 (654) m.w.N.
2 Rosier, Europäische Gerichtsbarkeit auf dem Gebiet des Zivilrechts (S. 236); Reich, VuR, 2012, 327 (331).
3 Pechstein, Europarecht, S. 263-264, Rn. 593-594.
4 Diesejustiziellen Grundrechte ergeben sich vor Allem aus Art 47 GRCh. Eingehend dazu: Heinze, EuR 2008, 654 (656 ff., 668 ff.); Reich, VuR, 2012, 327.
5 Heidenhoff, ZEuP 2001, 276 (281 ff.); Heinze, EuR 2008, 654 (675 ff. zu den Grundfreiheiten, 681 ff. zum Diskriminierungsverbot).
6 Hier dann in Verbindung mit Sekundärrechtsakten. Dazu: Heinze, EuR 2008, 654(661).
7 z.B. Verordnung (EG) Nr. 44/2001, welche die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen betrifft. Weitere Beispiele bei: Heinze, EuR 2008, 654 (654), dort Fn5.
8 z.B. Art. 11 und 12 der Richtlinie 2005/29/EG zu unlauteren Geschäftspraktiken; Erläuterung und weitere Beispiele bei: Heinze, EuR 2008, 654(655, Fn 8).
9 Etwa Art.4, 6, 7, 9, 11 und 14 der Richtlinie 2004/48/EG zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums; Erläuterung und weitere Beispiele bei: Heinze, EuR 2008, 654(655, Fn 6).
10 Reich, VuR, 2012, 327 (331).
11 Vgl. auch: Trstenjak, Common Market Review, 2011, 95 (119).
12 Richlinie 93/13/EWG zu missbräuchlichen Klauseln in Verbraucherverträgen.
13 Musielak, Grundkurs ZPO (S. 69, Rn. 104).
14 Paulus, ZivilprozessR, (S. 124, Rn. 311u. S. 126 Rn. 314).
15 MüKo-ZPO/'Rauscher (Einleitung zur ZPO, Rn. 291); Jauernig/Hess, ZivilprozessR (S.93, Rn. 1).
16 Paulus, ZivilprozessR, (S. 125, Rn. 312).
17 Jauernig/Hess, ZivilprozessR (S.93, Rn. 1).
18 MüKo-ZPO/'Rauscher (Einleitung zur ZPO, Rn. 293).
19 Paulus, ZivilprozessR, (S. 126, Rn 314).
20 MüKo-ZPO/'Rauscher (Einleitung zur ZPO, Rn. 292).
21 Paulus, ZivilprozessR, (S. 127 f., Rn 319).
22 MüKo-ZPO/'Rauscher (Einleitung zur ZPO, Rn. 307).
23 Siehe Seite 3, Punkt „I. Der Dispositionsgrundsatz“.
24 Paulus, ZivilprozessR, (S. 127 f., Rn 315).
25 Z.B. betont bei: BGH, XI ZR 125/02 Urteil vom 21.01.2003, BeckRS 2003, 02126, im zweiten Leitsatz.
26 MüKo-ZPO/'Rauscher (Einleitung zur ZPO, Rn. 322).
27 Schiemann, EuR, 2003, 17 (18).
28 Heinze, EuR 2008, 654 (663f.).
29 EuGH, Rs C-430/93, Urteil vom 14.12.1995, van Schijndel, Slg. 1995 I-04705.
30 EuGH Rs. C-137/08, Urteil vom 09.11.2010, Penzügyi Lizing, Slg. 20101- 10847.
31 EuGH, Rs. C-32/12 (Duarte Hueros), Urteil vom 03.10.2013, noch nicht in Slg., EuZW 2013, 918.
32 EuGH, Rs C-430/93 (Van Schijndel), siehe Fn. 29.
33 EuGH, Rs C-430/93 (Van Schijndel), siehe Fn. 29, Rn. 12.
34 EuGH, Rs C-430/93 (Van Schijndel), siehe Fn. 29, Rn. 22.
35 EuGH, Rs C-430/93 (Van Schijndel), siehe Fn. 29, Rn. 21.
36 EuGH, Rs C-430/93 (Van Schijndel), siehe Fn. 29, Rn. 21.
37 So auch: Saare/Sein, euvr I 2013, 15 (18).
38 EuGH, Rs C-240/98, Urteil vom 27.06.2000, Océano Grupo, Slg. 2000 I-04941, das Verfahren ist eine Bündelung mehrerer Rechtssachen, jeodch am angegebenen Ort auffindbar.
39 EuGH, Urteil vom 21.11.2002, Rs. C-473/00 Cofidis, Slg. 2002 I-10875.
40 EuGH Rs. C-243/08, Urteil vom 04.06.2009, Pannon GSM, Slg. 2009 I-4713.
41 EuGH Rs. C-137/08 (Penzügyi Lizing), siehe Fn. 30.
42 EuGH, Rs C-240-98 (Océano Grupo), siehe Fn. 38.
43 EuGH, Rs C-240-98 (Océano Grupo), siehe Fn. 38, Rn. 16.
44 Zu den genauen Normen: EuGH, Rs C-240/98 (Océano Grupo), siehe Fn. 38, Rn. 10-14.
45 EuGH, Rs C-240/98 (Océano Grupo), siehe Fn. 38, Rn. 18.
46 EuGH, Rs C-240/98 (Océano Grupo), siehe Fn. 38, Rn. 19.
47 EuGH, Rs C-240/98 (Océano Grupo), siehe Fn. 38, Rn. 25.
48 EuGH, Rs C-240/98 (Océano Grupo), siehe Fn. 38, Rn. 25-28.
49 EuGH, Rs C-240/98 (Océano Grupo), siehe Fn. 38, Rn. 29.
50 EuGH, Rs. C-473/0 (Cofidis), siehe Fn. 39.
51 EuGH, Rs. C-473/0 (Cofidis), siehe Fn. 39, Rn. 34.
52 Stuyk, 38 (2001) CML-Rev. 719, (732); Herb, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Zivilprozess, (S. 30, Fn. 79) m.w.N.
53 EuGH Rs. C-243/08 (Pannon GSM), siehe Fn. 40.
54 EuGH Rs. C-243/08 (Pannon GSM), siehe Fn. 40, Rn. 12-18.
55 EuGH Rs. C-243/08 (Pannon GSM), siehe Fn. 40, Rn. 19, erste Vorlagefrage.
56 EuGH Rs. C-243/08 (Pannon GSM), siehe Fn. 40, Rn. 19, zweite und dritte Vorlagefrage.