Martin Scorseses „Shutter Island“ erfüllt den Zuschauer nicht nur mit Grauen und
Schauder, sondern hinterlässt eine Menge ungeklärter Rätsel. Elemente des Unheimlichen,
Übernatürlichen und Wahnsinnigen führen bei dem Rezipienten zu
einem Moment der Unsicherheit, der dem der Phantastik sehr ähnelt. Die Grenzen
zwischen Realität und Fiktion, Psychose und Traum, wahr und falsch verschwimmen
recht schnell. Eine Ambivalenz zwischen physischem und psychischem
Gefangensein entsteht. Der Zuschauer verliert den Überblick über die
Handlung und wird zum Schluss mit der Auflösung allein gelassen.
Nun stellt sich die Frage, in wie weit der Film „Shutter Island“ in das Genre der
Phantastik eingeordnet werden kann und welche Rolle der Wahnsinn als Motiv
hierbei spielt.
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Merkmale der Phantastik
2.1 Todorov
2.2 Caillois
2.3 Der Begriff Wahnsinn
2.4 Phantastik und Wahnsinn: Eine Verknüpfung
3. Analyse des Films
3.1 Entscheidende Charaktere
3.2 Die Orte
3.3 Der Vergleich
4. Wahnsinn oder Phantastik? - Die Auflösung
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Martin Scorseses „Shutter Island“ erfüllt den Zuschauer nicht nur mit Grauen und Schauder, sondern hinterlässt eine Menge ungeklärter Rätsel. Elemente des Un- heimlichen, Übernatürlichen und Wahnsinnigen führen bei dem Rezipienten zu einem Moment der Unsicherheit, der dem der Phantastik sehr ähnelt. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, Psychose und Traum, wahr und falsch ver- schwimmen recht schnell. Eine Ambivalenz zwischen physischem und psychi- schem Gefangensein entsteht. Der Zuschauer verliert den Überblick über die Handlung und wird zum Schluss mit der Auflösung allein gelassen.
Nun stellt sich die Frage, in wie weit der Film „Shutter Island“ in das Genre der Phantastik eingeordnet werden kann und welche Rolle der Wahnsinn als Motiv hierbei spielt.
Die vorliegende Hausarbeit gliedert sich in vier Teile. Zum einen beschäftigt sie sich mit den grundsätzlichen Merkmalen der Phantastik und des Wahnsinns. Im Verlauf der Arbeit werden sowohl die phantastischen als auch die unheimlichen Bestandteile des Films „Shutter Island“ erläutert. Des Weiteren sollen in der Ana- lyse des Films die unterschiedlichen Formen der Ambivalenz und die Unzuverläs- sigkeit der Filmerzählung beleuchtet werden. Als Forschungsliteratur werden die Aufsätze „Das Bild des Phantastischen: Vom Märchen zum Science Fiction“1 von Roger Caillois und „Einführung in die fantastische Literatur“2 von Tzvetan Todo- rov angeführt. Ergänzt werden diese durch Volker Ferenz „Fight clubs, american psychos and mementos. The scope of unreliable narration in film“3. Da der Film recht jung ist (2010) und es zu ihm explizit keine Forschungsliteratur gibt, stützt sich die Argumentation der Filmanalyse im Bezug auf den Wahnsinn als Motiv auf einen kurzen Vergleich zu dem Film „Das Kabinett des Dr. Caligari“, der im Rahmen des Seminars besprochen wurde.4 Hierbei werden Parallelen aufgezeigt und erläutert.
Im letzten Teil der Arbeit soll abschließend die Ausgangsfrage „Wahnsinn oder Phantastik?“ diskutiert werden. Hierbei baut die Argumentation auf Horst Lederers „Phantastik und Wahnsinn“5 auf.
2. Merkmale der Phantastik
Dieser erste Teil der Hausarbeit beschäftigt sich mit den Merkmalen der Phantas- tik, die in den Aufsätzen der Literaturwissenschaftler Caillois und Todorov ange- führt werden. Dies dient dazu, im Verlauf der Analyse die Unzuverlässigkeit der Filmerzählung aufzulösen oder zu interpretieren. Allem voran soll die Bedeutung des Wortes Phantastik kurz skizziert und mit dem Wahnsinns-Begriff verknüpft werden.
2.1 Todorov
Nach Todorov lässt sich Phantastik epistemologisch6 erklären. Das Phantastische geschieht in einer Welt, die wir kennen. In die Wirklichkeit bricht etwas ein, was uns unwirklich erscheint. Die Entscheidung, ob das Wahrgenommene phantas- tisch ist, liegt letztlich beim Leser. Nur solange sich der Leser nicht sicher ist und auf keine Erklärung festlegen kann, liegt der Text im phantastischen Moment. Todorov unterscheidet zwischen dem Wunderbaren, wobei sich etwas Unnatürli- ches durchsetzt und dem Unheimlichen. Bei dem Unheimlichen handelt es sich um eine rationale Erklärung, an deren Ende das Unnatürliche aufgelöst werden kann. Am Ende einer so zwielichtigen Erzählung entscheidet sich der Leser meis- tens. Das Ungewisse wird von seiner Perspektive her aufgelöst, die Phantastik ist selten. Todorov geht in seinem Aufsatz auf den Wahnsinn jedoch nicht ein.
2.2 Caillois
Caillois definiert Phantastik ontologisch7. Im Gegensatz zu Todorov begründet er das Phantastische in seinem Ursprung, dem Märchen. Er führt an, dass das Phan- tastische das klassische Märchen ablöst. Folgt man der Definition von Roger Cail- lois, so ist die Phantastik als eigene Textgattung anzusehen, die wiederum gat- tungsgeschichtlich vom „Science fiction“ abgelöst wird. Er argumentiert, dass es nicht notwendig ist, dass der Leser an das Phantastische glauben muss. Die Furcht vor dem Unheimlichen steht für ihn im Mittelpunkt der Erzählung. Nach Caillois handelt es sich in der phantastischen Erzählung um eine Störung der Realität. Ein Einbruch in die Welt findet statt, der, genauso wie bei Todorov, unerklärlich scheint. Der Wahnsinn als realistischer Lösungsweg bleibt auch von Caillois un- beachtet.
2.3 Der Begriff Wahnsinn
Obwohl der Wahnsinn als Erklärungsweg das Phantastische auflösen soll, so schwingt bei ihm etwas Unheimliches und auch Unerklärbares mit. Für den "nor- malen", geistig gesunden Menschen ist der Wahnsinnige ebenfalls sonderbar. Ist der Zuschauer, wie bei dem Film „Shutter Island“ von der Wahrnehmung des vermeintlich Wahnsinnigen abhängig, wird das Unterscheiden zwischen Wahrheit und Lüge umso schwerer. Wendet man jedoch die Definitionen von den genann- ten Literaturwissenschaftlern auf den Film an, scheint die Lösung einfach: „Shut- ter Island“ wäre hiernach kein phantastischer Film. Sobald am Ende der Wahnsinn als potentieller Lösungsweg aufkommt ist der Moment der Unsicherheit minimiert oder gar gänzlich aufgelöst. Zum Schluss bleibt nur noch die Frage ob die Haupt- figur, aus dessen Sicht die Handlung gezeigt wird, wirklich wahnsinnig und Insas- se der Anstalt ist oder ob dies eine absurde Auflösung ist, um die Lügen und die Verschwörung der Filmhandlung zu vertuschen.
Im folgenden Kapitel soll der Film auf das Übernatürliche und den Wahnsinn un- tersucht und mit einem ähnlichen Beispielfilm verglichen werden.
2.4 Phantastik und Wahnsinn: Eine Verknüpfung
Grundsätzlich spricht man von Phantastik, wenn der Autor von „Ereignissen [be- richtet], die nicht dazu angetan sind, im Leben zu geschehen, jedenfalls nicht, wenn man sich an das allgemeine Wissen einer jeden Epoche in Bezug auf das, was geschehen oder nicht geschehen kann, hält“8. Ergänzend ist zu sagen, dass dem Phantastik Begriff angemerkt wird, dass dort „übernatürliche Wesen“ auftre- ten9. Todorov, der sich mit dem Begriff auseinander gesetzt hat, kommt zu dem Schluss, dass das Übernatürliche jedoch nicht als Charakterisierung für phantasti- sche Werke ausreicht. Das Phantastische kann eine Grenze in der Wirklichkeit sein, kann aber auch eine Aufarbeitung der Wirklichkeit sein. Möchte man das Übernatürliche erklären, muss man sich als Leser oder Zuschauer verschiedener Methoden bedienen. Zunächst muss er die Zuverlässigkeit des Erzählers analysie- ren. Außerdem muss er entscheiden, ob das was der Wahrnehmende sieht oder hört Produkt seiner Einbildung oder reale Wahrnehmung sind.
Als elementares Motiv der phantastischen Erzählung dient der Wahnsinn als Erklärungsversuch von Übernatürlichem. Das „Annehmen des Lesers, es handle sich nur um Traum, Wahnsinn oder Halluzination, sind letztlich Auflösungsversuche im Interesse der Rationalität“10.
Problematisch ist, dass die gängigen Definitionsansätze des Phantastischen, wie zum Beispiel Todorov und Caillois den Wahnsinn als sinnstiftendes Element außen vor lassen. Daher sollen im nächsten Schritt die Definitionen aufs Wichtigste beschränkt zusammengefasst werden. Darauf folgend, soll versucht werden eine treffende Definition für „Shutter Island“ auszuarbeiten.
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1 Caillois, Roger: Das Bild des Phantastischen: Vom Märchen zur Science Fiction. In: Zondergeld, Rein A. (Hg.), Phaicon 1: Almanach der phantasitischen Literatur. Frankfurt: Insel 1974, 44-83.
2 Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. München: Hanser, 1972, 25-55.
3 Ferenz, Volker: Fight Clubs, American Psychos and Mementos: The Scope of Unreliable Narration in Film. New Review of Film and Television Studies 3:2 (2005): 133-159.
4 Die Inhalte beider Filme werden als bekannt voraus gesetzt und in der Arbeit nicht weiter zusammengefasst.
5 Lederer, Horst: Phantastik und Wahnsinn. Geschichte und Struktur einer Symbiose. Köln, 1986.
6 Epistemologische Bestimmung des Phantastischen: Erkenntnislehre.
7 Ontologische Bestimmung des Phantastischen: die Lehre vom Sein.
8 Todorov. Tzvetan. S. 34.
9 Ebd.
10 Lederer, Horst. S. 166.