Die vorliegende Diplomarbeit, die im Rahmen der Studienrichtung „Pädagogik der frühen
Kindheit“ erstellt wurde, beschäftigt sich mit der Kooperation von Kindertagesstätten
und Erziehungsberatungsstellen.
„Kooperation ist eine mit vielen positiven Erwartungen überladene Problemlösungsstrategie,
auf die in Politik, Wirtschaft und in der psychosozialen Arbeit gerne zurückgegriffen
wird, wenn komplexe Aufgaben bearbeitet werden müssen“ (Santen &
Seckinger 2003, 9). Solch einer komplexen Aufgabe stehen auch Erziehungsberatungsstellen
und Kindertagesstätten (kurz: Kitas) gegenüber, wenn es um die frühzeitige
Unterstützung von Kindern, Eltern und Familien in schwierigen Problemlagen geht. Die
Erziehungsberatung kann, trotz ihres niedrigschwelligen Angebots, nicht alle Eltern
erreichen, da der Gang zur Erziehungsberatung nach wie vor mit Vorurteilen besetzt
ist. Und die Fachkräfte der Kitas sind in ihrem Alltag schon soweit ausgelastet, dass
eine intensive Unterstützung von Familien in schwierigen Problemsituationen nicht
gewährleistet werden kann. Zudem verfügen Erzieherinnen1 häufig nicht über die entsprechenden
Kompetenzen, um die Eltern und Familien angemessen beraten zu können.
Angesichts dieser Voraussetzungen stellt die Kooperation von Kitas und Erziehungsberatungsstellen
eine Möglichkeit dar, Eltern mit Erziehungsschwierigkeiten oder
verhaltensauffälligen Kindern dennoch frühzeitige Unterstützung und die passende
Hilfe anbieten zu können. Denn durch die Zusammenarbeit beider Institutionen können
den Eltern niedrigschwelligere Angebote vor Ort, also in der Kita, gemacht werden
und die Erzieherinnen können durch die fachliche Unterstützung seitens der Erziehungsberatung
in ihrem Arbeitsalltag entlastet werden.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es aufzuzeigen, wie die Kooperation zwischen Kitas und
Erziehungsberatungsstellen gestaltet werden kann und wie sie in der Praxis umgesetzt
wird. Überdies wird sich sowohl auf theoretischer Ebene mit dem Thema der Kooperation
auseinandergesetzt als auch die Kooperationspraxis von Kitas und Erziehungsberatungsstellen empirisch untersucht. [...]
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Ausgangslage und Begriffsbestimmungen
1.1 Kooperation sozialer Dienste
1.2 Kooperation, Koordination und Vernetzung
1.3 Interinstitutionelle Kooperation
2 Interinstitutionelle Kooperation in der Forschung
2.1 Theorien und Ansätze aus der sozialpsychologischen Kooperations- forschung
2.1.1 Theorie über Kooperation und Wettbewerb (Morton Deutsch)
2.1.2 Wirkung aufgaben- und ichbezogener Ziele in Kooperations- situationen (Helen Lewis)
2.1.3 Thesen zur Dynamik der Intergruppenforschung (Dieter Beck)
2.2 Das Konfigurationsmodell nach van Santen und Seckinger
3 Kooperation zwischen Kindertagesstätten und Erziehungsberatungsstellen
3.1 Die Erziehungsberatung als Kooperationspartner
3.1.1 Grundlagen
3.1.2 Aktuelle Entwicklungen im Kontext der Kooperation
3.1.3 Eignung der Erziehungsberatung als Kooperationspartner
3.2 Die Kindertagesstätte als Kooperationspartner
3.2.1 Gesetzliche Grundlagen
3.2.2 Kooperation in den Bildungs- und Erziehungsempfehlungen
3.2.3 Aktuelle Entwicklungen im Kontext der Kooperation
3.2.4 Eignung der Kita als Kooperationspartner
3.3 Ziele und Chancen der Kooperation
3.4 Wege der Zusammenarbeit
3.4.1 Beratungsangebote
3.4.2 Präventive Angebote
3.4.3 Sonstige Angebote
3.5 Ausgewählte Modellprojekte zur Kooperationspraxis
3.5.1 Praxisprojekt: Kindergarten und soziale Dienste
3.5.2 ERIK (Erziehungshilfe, Rat und Information im Kindergarten)
3.5.3 Modellprojekt „Zugehende Beratung in Kindertageseinrichtungen“
4 Qualitative Untersuchung zur Kooperationspraxis von Kitas und Erziehungs- beratungsstellen
4.1 Zielsetzung und Fragestellungen
4.2 Untersuchungsdesign
4.3 Datenerhebung mittels leitfadengestützter Experteninterviews
4.3.1 Entwicklung der Interviewleitfäden
4.3.2 Auswahl der Experten
4.3.3 Durchführung der Experteninterviews
4.4 Datenaufbereitung und -auswertung
4.4.1 Transkription
4.4.2 Qualitative Inhaltsanalyse
4.5 Gütekriterien qualitativer Forschung
5 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse
5.1 Kooperationsangebote
5.2 Entstehung der Kooperation
5.3 Ist-Zustand der Kooperation
5.4 Veränderungen durch die Kooperation
5.5 Bewertung der Kooperation
5.6 Voraussetzungen gelingender Kooperation
5.7 Wünsche
6 Diskussion
6.1 Diskussion zentraler Ergebnisse
6.2 Ausblick
Literaturverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Anhang
Einleitung
Die vorliegende Diplomarbeit, die im Rahmen der Studienrichtung „Pädagogik der frühen Kindheit“ erstellt wurde, beschäftigt sich mit der Kooperation von Kindertagesstätten und Erziehungsberatungsstellen.
„Kooperation ist eine mit vielen positiven Erwartungen überladene Problemlösungs- strategie, auf die in Politik, Wirtschaft und in der psychosozialen Arbeit gerne zurück- gegriffen wird, wenn komplexe Aufgaben bearbeitet werden müssen“ (Santen & Seckinger 2003, 9). Solch einer komplexen Aufgabe stehen auch Erziehungsberatungs- stellen und Kindertagesstätten (kurz: Kitas) gegenüber, wenn es um die frühzeitige Unterstützung von Kindern, Eltern und Familien in schwierigen Problemlagen geht. Die Erziehungsberatung kann, trotz ihres niedrigschwelligen Angebots, nicht alle Eltern erreichen, da der Gang zur Erziehungsberatung nach wie vor mit Vorurteilen besetzt ist. Und die Fachkräfte der Kitas sind in ihrem Alltag schon soweit ausgelastet, dass eine intensive Unterstützung von Familien in schwierigen Problemsituationen nicht gewährleistet werden kann. Zudem verfügen Erzieherinnen1 häufig nicht über die ent- sprechenden Kompetenzen, um die Eltern und Familien angemessen beraten zu kön- nen. Angesichts dieser Voraussetzungen stellt die Kooperation von Kitas und Erzie- hungsberatungsstellen eine Möglichkeit dar, Eltern mit Erziehungsschwierigkeiten oder verhaltensauffälligen Kindern dennoch frühzeitige Unterstützung und die passende Hilfe anbieten zu können. Denn durch die Zusammenarbeit beider Institutionen kön- nen den Eltern niedrigschwelligere Angebote vor Ort, also in der Kita, gemacht werden und die Erzieherinnen können durch die fachliche Unterstützung seitens der Erzie- hungsberatung in ihrem Arbeitsalltag entlastet werden.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es aufzuzeigen, wie die Kooperation zwischen Kitas und Erziehungsberatungsstellen gestaltet werden kann und wie sie in der Praxis umgesetzt wird. Überdies wird sich sowohl auf theoretischer Ebene mit dem Thema der Koopera- tion auseinandergesetzt als auch die Kooperationspraxis von Kitas und Erziehungsbera- tungsstellen empirisch untersucht. Folgende Fragen waren bei der im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten Untersuchung leitend:
Wie wird die Kooperation von Kindertagesstätten und Erziehungsberatungsstellen in der Praxis umgesetzt?
Wie ist die Kooperation zwischen beiden Institutionen entstanden?
Welche Rahmenbedingungen bestimmen die Zusammenarbeit?
Welche Veränderungen konnten im Rahmen der Kooperation festgestellt werden? Wie wird die Zusammenarbeit aus Sicht der jeweiligen Kooperationspartner bewer- tet?
Welchen Nutzen ziehen die Institutionen aus der Zusammenarbeit?
Was sind Voraussetzungen, damit die Kooperation möglichst gut gelingen kann?
Zur Beantwortung dieser Fragen, wurden Erzieherinnen und Berater als Experten herangezogen und anhand leitfadengestützter Experteninterviews befragt.
Die vorliegende Arbeit gliedert sich in sechs Kapitel, von denen die ersten drei der theoretischen Darstellung des Themas dienen und die Folgekapitel den empirischen Teil dieser Arbeit repräsentieren.
Bevor sich die Arbeit speziell mit der Kooperation von Kindertagesstätten und Erzie- hungsberatungsstellen beschäftigt, wird in den ersten beiden Kapiteln eine grundle- gende Einführung in das Thema der Kooperation gegeben. Dazu wird im ersten Kapitel zunächst die Ausgangslage der Kooperation sozialer Dienste beschrieben und Begriffs- bestimmungen, für die im Rahmen dieser Arbeit relevanten Begriffe, wie Kooperation, Koordination und Vernetzung vorgenommen. Darüber hinaus soll geklärt werden, was unter interinstitutioneller Kooperation verstanden werden kann und wodurch sich die interinstitutionelle Kooperation sozialer Dienste von anderen Kooperationen unter- scheidet. Anschließend wird im zweiten Kapitel ein Einblick in die Forschung interinsti- tutioneller Kooperation gegeben. Dazu werden ausgewählte Theorien und Ansätze aus der sozialpsychologischen Kooperationsforschung vorgestellt. Zudem wird das Koope- rationsmodell von van Santen und Seckinger (2003) dargestellt und daraus ableitend Voraussetzungen gelingender Kooperation beschrieben.
Im Anschluss daran richtet sich im dritten Kapitel der Blick speziell auf die Kooperation von Kindertagesstätten und Erziehungsberatungsstellen. In Kapitel 3.1 und 3.2 werden zunächst die beiden Kooperationspartner beschrieben. Dabei wird auf deren gesetzli- chen Bestimmungen und Regelungen eingegangen, aktuelle Entwicklungen im Kontext der Kooperation beschrieben und die Eignung der jeweiligen Institution zur Kooperati- on herausgestellt. Daraufhin wird in Kapitel 3.3 aufgeführt, welche Chancen die Zu- sammenarbeit bereithält und welche Ziele mit der Kooperation verfolgt werden. Wei- terhin werden in Kapitel 3.4 die verschiedenen Wege der Kooperation von Kinderta- gesstätten und Erziehungsberatungsstellen vorgestellt. Dabei wird auf die Intensität der Zusammenarbeit und die unterschiedlichen Kooperationsangebote eingegangen, die im Rahmen der Kooperation möglich sind. Der theoretische Teil dieser Arbeit schließt mit einer Vorstellung verschiedener Modellprojekte, in denen die Zusammen- arbeit von Kitas und Erziehungsberatungsstellen praktisch erprobt wurde.
In Kapitel 4 wird die im Rahmen dieser Arbeit durchgeführte Untersuchung zur Koope- rationspraxis präsentiert. Zunächst wird in Kapitel 4.1 die Zielsetzung und Fragestel- lung dieser Arbeit erläutert und anschließend in Kapitel 4.2 das Untersuchungsdesign vorgestellt. Des Weiteren folgt eine Beschreibung der Vorgehensweise, indem in Kapi- tel 4.3 und 4.4 aufgezeigt wird, wie die Daten erhoben, aufbereitet und ausgewertet wurden. Um die Darstellung der im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten Untersu- chung abzurunden schließt das vierte Kapitel mit einer Beschreibung qualitativer Güte- kriterien. In Kapitel 5 werden die aus der Untersuchung gewonnen Ergebnisse darge- stellt und interpretiert. Abschließend werden in Kapitel 6 die zentralen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zusammenfassend dargestellt und diskutiert und ein Ausblick für die zukünftige Gestaltung der Kooperationspraxis gegeben.
1 Ausgangslage und Begriffsbestimmungen
Als Einstieg in das Thema setzt sich das folgende Kapitel zunächst mit der Kooperation sozialer Dienste auseinander. Es soll aufgezeigt werden, woraus die Notwendigkeit für die Kooperation sozialer Dienste entstanden ist und welche Erwartungen mit der Kooperation sozialer Dienste verbunden werden. Anschließend werden die zentralen Begriffe dieser Arbeit erläutert. Dabei soll geklärt werden, was unter Kooperation, Koordination und Vernetzung verstanden wird. Nach dieser Begriffsbestimmung widmet sich das Kapitel insbesondere der interinstitutionellen Kooperation, da es sich bei der Zusammenarbeit von Kindertagesstätten und Erziehungsberatungsstellen um eine Kooperation zwischen zwei Institutionen handelt.
1.1 Kooperation sozialer Dienste
Das Thema Vernetzung und Kooperation zwischen verschiedenen sozialen Diensten erfährt eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit (vgl. van Santen & Seckinger 2003, 13). Die Debatte über die Vernetzung sozialer Dienste „ist eine Reaktion auf die Pluralisierung von Hilfsangeboten, auf die große Unübersichtlichkeit und auf die oftmals große Lebensweltferne einzelner Spezialdienste“ (van Santen & Seckinger 2003, 13). Diese Entwicklungen lassen sich als Folgen gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse begreifen (vgl. van Santen & Seckinger 2003, Bergold & Filsinger 1993).
Die Modernisierungsprozesse führten (1) zu einer Ausdifferenzierung formaler Hilfe- systeme, (2) zu einer Expansion psychosozialer Dienste, (3) zu einer Diversifikation die- ser Dienste, also Spezialisierung auf bestimmte Probleme, Adressatengruppen, Le- bensphasen, usw. und (4) zu einer Pluralisierung der Akteure (vgl. Textor 2000b, 7). Als Folge dieser Entwicklungen kommt es zu einem Dilemma, denn „je spezialisierter und differenzierter die formalen Hilfesysteme werden, desto höher wird ihre Problemlö- sungskompetenz und desto geringer ihre Lebensweltorientierung“ (van Santen & Seckinger 2003, 15). Folglich kann zwar besser auf einzelne Aspekte von Problemlagen reagiert werden, dies ist jedoch mit einem Verlust von Ganzheitlichkeit verbunden. Einen möglichen Ausweg aus diesem Dilemma stellt die Vernetzung und Kooperation sozialer Dienste dar (vgl. ebd., 16). Somit wird Kooperation zu einer „strukturell eigen- ständigen konzeptionellen, fachlichen und organisatorischen Aufgabe“ (von Kardorff 1998, 211).
An die Kooperation sozialer Dienste als Problemlösestrategie gegen die beschriebenen Entwicklungen, sind meist positive Erwartungen geknüpft (vgl. van Santen & Seckinger 21). Beispielsweise wird Kooperation als Mittel der Qualitätssicherung beschrieben (Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend 1997). Bezogen auf die Sozialpolitik beschreibt von Kardorff (1998), dass mit dem „Kooperations-, Koordinati- ons- und Vernetzungsdiskurs Forderungen und Erwartungen nach Rationalisierung, Kosteneinsparung, Vermeidung von Fehl- und Doppelversorgung, Steigerung von Wirk- samkeit und Effizienz sowie die Nutzung von Synergieeffekten durch gezielte Formen der Vernetzung“ (von Kardorff 1998, 204) verbunden sind. Was unter den Begriffen Kooperation, Koordination und Vernetzung verstanden wird, wird im folgenden Kapitel beschrieben.
1.2 Kooperation, Koordination und Vernetzung
Die Begriffe Kooperation und Zusammenarbeit werden sowohl in der Wissenschaft als auch in der pädagogischen Praxis an vielen Stellen verwendet, häufig jedoch anders verstanden. Da an Bildungs- und Erziehungsaufgaben eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure (sowohl Personen als auch Institutionen) beteiligt sind, gibt es auch eine Viel- zahl unterschiedlicher Vorstellungen und Erwartungen bezüglich der Art und des Um- fangs der Zusammenarbeit (vgl. Ahlgrimm, Krey & Huber 2012, 17). Die Einschätzung von Weis (1981) erweist sich demzufolge auch heute noch als gültig: „Alle reden über Kooperation, in der festen Überzeugung genau zu wissen, was damit zum Ausdruck gebracht wird, aber jeder meint etwas anderes und manchmal bedeutet die Rede über Kooperation auch gar nichts“ (Weis 1981, zitiert nach van Santen & Seckinger 2003, 26). In Folge dessen wird der Begriff auch im Gesellschaftsbereich von Erziehung und Bildung vielfach verwendet, jedoch meist ohne weitreichende Reflexion (vgl. Rathmer 2012, 10). Im Folgenden werden ausgewählte Definitionen vorgestellt und erläutert, um sich dem Konstrukt Kooperation etwas anzunähern.2
„Im ersten Anlauf lässt sich Kooperation, zu deutsch: Zusammenarbeit, als eine zwi- schen mindestens zwei Parteien abgestimmte, auf ein Ergebnis gerichtete Tätigkeit definieren“ (Schweitzer 1998, 25). Eine Grundvoraussetzung für Kooperation sind demnach mindestens zwei Akteure. Je nach Kontext können Akteure beispielsweise einzelne Personen, Institutionen, Organisationen oder auch Unternehmen sein. In der vorliegenden Arbeit handelt es sich bei den Kooperationspartnern um die Erziehungs- beratung auf der einen und die Kindertagesstätte auf der anderen Seite. Hierbei geht es sowohl um die Kooperation dieser zwei Institutionen, als auch um die Zusammenar- beit einzelner Personen. Berater und Erzieherinnen können hierbei als Vertreter der jeweiligen Institution betrachtet werden. Nach Schweitzer (1988) sollten die Tätigkei- ten der Akteure aufeinander abgestimmt und auf ein bestimmtes Ziel oder Ergebnis gerichtet sein.
Nach einer organisationspsychologischen Definition von Spieß (2007) zeichnet sich Kooperation „durch bewusstes und planvolles Herangehen bei der Zusammenarbeit sowie durch Prozesse der gegenseitigen Abstimmung“ (Spieß 2007, 339) aus. Des Wei- teren definiert Spieß (2007), dass Kooperation „aus dem Grundgedanken von Gegen- seitigkeit bzw. der Reziprozität“ (ebd.) besteht. Im Gegensatz zur Definition von Schweitzer (1998) betont sie die Gegenseitigkeit, einerseits im Bezug auf die Abstim- mungsprozesse und andererseits als Kernstück von Kooperation. In einem weiteren Teil ihrer Definition wird zudem deutlich, dass dem Begriff Kooperation unterschiedli- che Verständnisse zugrundeliegen. So beschreibt sie „Kooperation gilt […] als eine so- zialethische Norm, als Strukturprinzip von Gruppen und Organisationen sowie als Ver- halten bzw. Interaktionsform“ (ebd.).
Eine weitere Definition formulieren van Santen und Seckinger (2003) „wohlwissend, dass auch diese Definition nicht alle Bedenken befriedigen kann“ (ebd., 29). Die beiden Autoren verstehen unter Kooperation „ein Verfahren […] der intendierten Zusammen- arbeit, bei dem im Hinblick auf geteilte oder sich überschneidende Zielsetzungen durch Abstimmung der Beteiligten eine Optimierung von Handlungsabläufen oder eine Erhöhung der Handlungsfähigkeit bzw. Problemlösekompetenz angestrebt wird.“ (ebd.). Kooperation hat demnach die Funktion Handlungsabläufe zu optimieren oder die Handlungsfähigkeit bzw. Problemlösekompetenz zu erhöhen, um bestimmte Ziele besser erreichen zu können. Für die Zielerreichung sind Abstimmungsprozesse zwischen den Beteiligten notwendig, was auch schon in den vorausgegangenen Definitionen von Spieß (2007) und Schweitzer (1998) zum Ausdruck gekommen ist.
Eine ausführliche und differenzierte Definition formuliert von Kardorff (1998, 210): „Unter Kooperation soll hier eine problembezogene, zeitlich und sachlich abgegrenzte Form der gleichberechtigten arbeitsteilig organisierten Zusammenarbeit zu festgeleg- ten Bedingungen an einem von allen Beteiligten in einem Aushandlungsprozess abge- stimmten Ziel mit definierten Zielkriterien verstanden werden.“ Nach von Kardorffs Definition bezieht sich Kooperation auf ein bestimmtes Problem, welches gelöst wer- den soll. Kooperation könnte folglich als eine Problemlösestrategie interpretiert wer- den. Darüber hinaus kommt in seiner Definition auch die zeitliche und sachliche Be- grenztheit zum Ausdruck, demnach verläuft Kooperation in einem zeitlich festgelegten Rahmen und bezieht sich zudem auf ein bestimmtes Themenfeld. Im Gegensatz zu den vorherigen Definitionen wird bei von Kardorff auch deutlich, dass die jeweiligen Koo- perationspartner nicht in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, sondern gleichberechtig und arbeitsteilig zusammenarbeiten. Dies setzt eine gewisse Organisa- tion voraus. Ähnlich hat dies Spieß (2007) auch schon durch ihre Formulierung des planvollen Herangehens beschrieben. Des Weiteren beinhaltet Kooperation „die Zu- sammenarbeit zwischen gleichen und unterschiedlichen Berufsgruppen [inner- und interprofessionelle Kooperation], entweder in einer Organisation […] oder zwischen verschiedenen Organisationen […] [inner- und interinstitutionelle Kooperation] sowie die Zusammenarbeit innerhalb […] oder zwischen inhaltlichen Aufgabengebieten […] [inner- und intersektorale Kooperation]“ (von Kardorff 1998, 210). Bei der Zusammen- arbeit von Kindertagesstätten und Erziehungsberatungsstellen handelt es sich demzu- folge um eine interprofessionelle, interinstitutionelle und intersektorale Kooperation. Denn an der Kooperation von Kindertagesstätten und Erziehungsberatungsstellen sind unterschiedliche Berufsgruppen aus verschiedenen Organisationen bzw. Institutionen beteiligt, die sich auch bezüglich ihrer Aufgabenbereiche unterscheiden. In Anlehnung an die Definitionen von Schweitzer (1998), Spieß (2007), van Santen und Seckinger (2003) und von Kardorff (1998) werden die zentralen Aspekte von Kooperation im Folgenden zusammenfassend dargestellt (Abb. 1).
Abbildung 1: Zentrale Aspekte von Kooperation
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Schweitzer (1998); Spieß (2007); van Santen & Seckinger (2003); von Kardorff (1998).
Nicht nur die Vielzahl an Definitionen, sondern auch die Nähe zu anderen Begriffen, wie Koordination und Vernetzung, erschwert eine eindeutige Begriffsbestimmung von Kooperation (vgl. van Santen & Seckinger 2003, 26). Im Folgenden soll der Zusammen- hang zwischen den Begrifflichkeiten erläutert werden. Van Santen und Seckinger ver- stehen unter Koordination „eine Form der Kooperation, bei der die Optimierung von Verfahrens- und Organisationsabläufen im Vordergrund steht“ (ebd, 29). Koordination ist demzufolge ein Teil von Kooperation, der erforderlich ist für einen reibungslosen Ablauf ist. „Vernetzung wird verstanden als die Herausbildung, Aufrechterhaltung und Unterstützung einer Struktur, der die Förderung von kooperativen Arrangements un- terschiedlicher Personen oder Institutionen dienlich ist“ (ebd.). Eine gute Vernetzungs- struktur kann demnach die Wege zur Kooperation erleichtern oder überhaupt erst möglich machen. Versucht man die drei Begriffe in Beziehung zueinander zu setzen, könnte man sagen, dass Vernetzung eine Struktur ermöglicht in der Kooperation ent- stehen kann und dass Koordination für den einwandfreien Ablauf dieser Kooperation sorgt.
Aufgrund der unterschiedlichen Verständnisse und der Nähe zu anderen Begriffen lässt sich zusammenfassend sagen, dass es keine allgemeingültige Definition von Kooperati- on gibt. Was im Endeffekt unter Kooperation verstanden wird, ist vom jeweiligen Kon- text abhängig. Allen Definitionen gemeinsam ist jedoch, „dass es mindestens zwei Partner gibt, intendiert gehandelt wird und Abstimmungsprozesse stattfinden“ (van Santen & Seckinger 2003, 28).
1.3 Interinstitutionelle Kooperation
Im vorangegangen Kapitel wurde schon darauf hingewiesen, dass es sich bei der Zu- sammenarbeit zwischen Kindertagesstätte und Erziehungsberatung um eine interinsti- tutionelle Kooperation handelt. „Eine Grundvoraussetzung für die interinstitutionelle Kooperation (…) ist die gemeinsame Klientel“ (Möller & Schürmann 1993, 122). Im Be- reich der Kitas und Erziehungsberatungsstellen handelt es sich dabei im Allgemeinen um Kinder, Eltern und Familien. Bei der Zusammenarbeit beider Institutionen werden speziell Kinder, Eltern und Familien mit besonderem Hilfebedarf angesprochen, die Altersgruppe der Kinder beschränkt sich dabei auf die 0-6-Jährigen.
Interinstitutionelle Kooperation lässt sich „als eine Form systemischer Diskurse verste- hen, bei der ein Zielkonsens entsteht und Aktivitäten fachlicher Akteure sich gemein- sam auf definierte Zeit für die Bearbeitung umschriebener Aufgaben verpflichten“ (Rietmann & Hillenbrand 2008, 42). Hierbei ist zu betonen, dass es sich bei der Zu- sammenarbeit der fachlichen Akteure nicht nur um Einzelpersonen handelt, sondern es immer um die Kooperation von Institutionen geht (vgl. Seckinger 2010, 28). Die ver- schiedenen Akteure gelten somit als Interessenvertreter ihrer Institution und „sind immer auch spezifischen institutionellen Logiken“ (ebd.) verpflichtet. Insgesamt verlau- fen interinstitutionelle Kooperationsbeziehungen auf drei Ebenen, die gleichzeitig wir- ken. Diese Ebenen sind „die Ebene der Organisationen, die miteinander in Beziehung treten, die Ebene der einzelnen Personen, die tatsächlich zusammenarbeiten und schließlich die Ebene des Kooperationszusammenhangs selbst“ (ebd.) (vgl. Kapitel 2.2). Da sich interinstitutionelle Kooperation auf verschiedenen Beziehungsebenen abspielt (z.B. zwischen den Organisationen, zwischen den kooperierenden Personen oder zwi- schen den Personen und ihrer Herkunftsorganisation) kommt es zu zwei grundlegen- den Herausforderungen beim Funktionieren interinstitutioneller Kooperation (vgl. van Santen & Seckinger 2003, 358):
(1) Die Komplexität der Steuerung wird durch die Doppelebenen interinstitutioneller Kooperation gesteigert, da sich die kooperierenden Personen immer wieder bei ih- rer Herkunftsorganisation rückversichern müssen, um einen Interessenausgleich herzustellen, zwischen dem, was die Organisation will und dem, was der Koopera- tionszusammenhang3 will (vgl. ebd., 359).
(2) Aufgrund unterschiedlicher Perspektiven von Institutionsvertretern und Herkunfts- organisation, kann die Bewertung der Kooperation unterschiedlich ausfallen. Denn beide verfügen über einen spezifischen Handlungskontext. Für eine gelingende Ko- operation ist jedoch eine doppelte Zielkongruenz erforderlich (vgl. ebd.). Folglich müssen die Kooperationsziele sowohl mit den Zielen der Institution als auch mit den individuellen und fachlichen Ziele der kooperierenden Personen kompatibel sein (vgl. ebd., 363).
Stellt man sich diesen Herausforderungen können durch interinstitutionelle Kooperati- on Informationslücken geschlossen und gemeinsame Perspektiven zu Klientenproble- me und deren Lösungsmöglichkeiten entwickelt werden (vgl. Möller & Schürmann 1993, 131).
Merkmale Interinstitutioneller Kooperation sozialer Dienste
Die Kooperationsbeziehungen, Organisationstypen und Rahmenbedingungen im wirt- schaftswissenschaftlichen und organisationspsychologischen Kontext sind nicht immer vergleichbar mit den Kooperationskonstellationen im Bereich sozialer Dienste (vgl. van Santen & Seckinger 2003, 409). Demzufolge gibt es einige Unterschiede, welche die besonderen Herausforderungen, die sich bei den Kooperationen sozialer Dienste erge- ben, verdeutlichen. In Anlehnung an van Santen und Seckinger (2003, 408 f.) werden im Folgenden die zentralen Unterschiede bzw. Merkmale der interinstitutionellen Ko- operation sozialer Dienste beschrieben:
Im Kontext der interinstitutionellen Kooperationsbeziehung stellen die Adressaten sozialer Dienste einen zusätzlichen „Unsicherheitsfaktor“ dar. Denn es gibt für die jeweiligen Hilfeleistungen und Problemlösungen kein Rezept, welches auf alle Adressaten gleich angewendet werden kann.
Die verschiedenen Institutionen gehören nicht zum Bereich der Wirtschaft, sondern sind dem Non-Profit-Bereich zuzuordnen. Im wirtschaftlichen Bereich sind die Kooperationspartner einer einzigen Handlungslogik verpflichtet, nämlich der Gewinnmaximierung. Wohingegen im Non-Profit-Bereich unterschiedliche Zielsetzungen und Prioritäten verfolgt werden, welche sich dann auch in verschiedenen Handlungslogiken widerspiegeln.
Die häufig ungeklärten Zuständigkeiten der Kooperationspartner sind eine weitere Besonderheit interinstitutioneller Netzwerke in der sozialen Arbeit. Bei der Kooperation sozialer Dienste ist es häufig der Fall, besonders im Bezug auf Hilfen in besonderen Lebenslagen, dass mehr als zwei Institutionen an der Kooperation beteiligt sind. Dadurch erhöhen sich die Komplexität der Zusammenarbeit und die Anforderungen an diese erheblich.
Diesen Herausforderungen müssen sich auch die Kindertagesstätte und die Erziehungsberatung stellen, wenn sie miteinander kooperieren wollen.
2 Interinstitutionelle Kooperation in der Forschung
Die Frage, ob Menschen in Gemeinschaft oder in Konkurrenz leistungsfähiger sind und welche Gründe dabei eher für ein gemeinschaftliches Herangehen sprechen, ist altbe- kannt. Schon Aristoteles, Machiavelli, Marx und Darwin waren davon überzeugt, dass die gemeinschaftliche Bearbeitung einer Aufgabe Vorteile mit sich bringt (vgl. Santen & Seckinger 2003, 33). Für die vorliegende Arbeit wurden solche Ansätze herausgegrif- fen, welche sich in erster Linie mit der Kooperation zwischen Gruppen oder Gruppen- vertretern beschäftigen. Im Folgenden werden die Ansätze von Deutsch (1949), Lewis (1944), Beck (1992) und von van Santen und Seckinger (2003) vorgestellt.
2.1 Theorien und Ansätze aus der sozialpsychologischen Kooperations- forschung
2.1.1 Theorie über Kooperation und Wettbewerb (Morton Deutsch)
Beck bezeichnet die Theorie von Deutsch (1949) als „einer der einflussreichsten Ansät- ze der Kooperationsforschung“ (Beck 1992, 9). Die Theorie wird von folgenden Fragen geleitet: „Wie unterscheidet sich die Dynamik des Sozialverhaltens in Kooperations- und Wettbewerbssituationen?“ (ebd.) und „In welcher Situation sind Personen oder Gruppen produktiver?“ (ebd.). Deutsch geht davon aus, dass in Kooperationssituatio- nen gleichgerichtete Wechselbeziehungen zwischen den Zielen der Akteure bestehen. Kooperation ist demnach dadurch gekennzeichnet, dass jeder seine Ziele nur insoweit erreichen kann, wie auch die anderen Akteure ihre Ziele erreichen. In einer Wettbe- werbssituation hingegen kann das eigene Ziel nur auf Kosten der anderen Akteure er- reicht werden. Folglich ist eine Wettbewerbssituation durch eine entgegengesetzte Wechselbeziehung gekennzeichnet (vgl. ebd.).
Die von Deutsch durchgeführten Experimente zeigen, dass Gruppen in Kooperationssi- tuationen produktiver sind und besser miteinander kommunizieren als Gruppen in Wettbewerbssituationen. Produktiver in der Hinsicht, dass die Akteure mehr Leis- tungsorientierung zeigen, die Aufgaben besser koordinieren und es mehr Arbeitstei- lung gibt. Im Bezug auf die Kommunikation zeigte sich, dass die Gruppenmitglieder freundlicher und hilfsbereiter miteinander umgehen. Zudem hören sie sich gegenseitig besser zu und sind eher bereit Vorschläge anderer zu akzeptieren. Im Zuge dessen entwickeln die einzelnen Akteure ein größeres Vertrauen in die eigene Gruppe (vgl. ebd., 11).
Bei Morton Deutsch geht es hauptsächlich um die Frage, ob durch Kooperation die Produktivität gesteigert werde kann. Es werden demnach nur aufgabenbezogene Ziele betrachtet. Helen Lewis berücksichtigt in ihren Studien neben aufgabenbezogenen Zielen auch ichbezogene Ziele, die in Kooperationsbeziehungen ebenfalls von Bedeutung sind (vgl. van Santen & Seckinger 2003, 39).
2.1.2 Wirkung aufgaben- und ichbezogener Ziele in Kooperationssituationen (Helen Lewis)
Wie zuvor erwähnt unterscheidet Lewis (1944) zwei Arten von Zielen. Bei ichbezoge- nen Zielen wird in erster Linie eine Erhöhung des Selbstwertes oder Prestiges verfolgt. Werden ichbezogene Ziele nicht erreicht führt das beispielsweise „zu negativen Gefüh- len gegenüber der eigenen Person“ (van Santen & Seckinger 2003, 40). Es steht somit „eine Motivation nach Selbstwertbestätigung oder -erhöhung im Vordergrund des Handelns“ (Beck 1992, 12). Bei aufgabenbezogenen Zielen hingegen herrscht eine in- trinsische Motivation vor, die in der Aufgabe selbst liegt (vgl. ebd., 13). Demnach ver- folgen aufgabenbezogene Ziele ausschließlich die Lösung einer Aufgabe. Betrachtet man diese unterschiedliche Zielstellung nun im Zusammenhang mit Kooperations- und Wettbewerbssituationen, steht bei der Kooperation das gemeinsame aufgabenbezo- gene Ziel im Mittelpunkt. Im Gegensatz dazu charakterisiert Lewis Wettbewerbssitua- tionen durch eine hohe Ichbezogenheit, bei denen das gemeinsame aufgabenbezoge- ne Ziel in den Hintergrund tritt (vgl. ebd.).
Die Ergebnisse von Lewis verdeutlichen, dass die Verfolgung ichbezogener Ziele nega- tive Auswirkungen auf die Kooperationsbeziehungen haben kann (vgl. van Santen & Seckinger 2003, 40). Kooperatives Verhalten im Sinne von Lewis bedeutet demnach „die Zurückstellung ichbezogener Ziele zugunsten eines aufgabenbezogenen Zieles“ (Beck 1992, 16).
2.1.3 Thesen zur Dynamik der Intergruppenforschung (Dieter Beck)
Beck (1992) stellt fest, dass die Dynamik von Kooperationsbeziehungen zwischen Gruppen in der sozialpsychologischen Forschung ein vernachlässigter Gegenstand ist. Seiner Ansicht nach haben sich Ansätze aus der Kooperationsforschung4 und der Inter- gruppenforschung5 weitgehend unabhängig voneinander entwickelt und wurden kaum aufeinander bezogen. Da jedoch angesichts immer komplexerer Problemstellungen die Bedeutung der Intergruppen-Kooperation in Organisationen zunimmt, versucht Beck die Ansätze der Kooperations- und Intergruppenforschung zu verbinden (vgl. Beck 1992, 5). In Anbetracht dessen integriert Beck die Ansätze von Deutsch (1949), Lewis (1944), die Theorie des realistischen Gruppenkonflikts von Sherif (1966) und die Theo- rie der sozialen Identität von Tajfel (1978), um so „zu einer umfassenden Analyse der Dynamik der Kooperation zwischen Gruppen zu gelangen“ (Beck 1992, 7). Die für Beck bedeutsamen Ansätze aus der Kooperationsforschung von Deutsch und Lewis wurden in den Kapiteln 2.1.1 und 2.1.2 vorgestellt. Auf die Theorien der Intergruppenforschung von Sherif und Tajfel wird im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingegangen, da sie sich in erster Linie mit dem Konflikt von Gruppen befassen.
Durch die Integration der genannten Ansätze gelang Beck der Übergang von der Intragruppenforschung zu einer Intergruppenforschung (vgl. van Santen & Seckinger 2003, 40). Er charakterisiert „die besondere Dynamik der Kooperation von Mitgliedern verschiedener Gruppen beim gemeinsamen Lösen eines komplexen Problems“ (Beck 1992, 73 f.) anhand folgender Thesen:
(1) Ausgangspunkt für die Herstellung einer Kooperationssituation sind komplexe Problemstellungen, die nur durch die Zusammenarbeit verschiedener Gruppen gelöst werden können. Zuvor müssen die Beteiligten jedoch die wechselseiti- gen Zielverknüpfungen wahrnehmen und die Lösung des Problems als wichtiges Ziel begreifen.
(2) Da die Kooperationspartner aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Grup- pen und wegen ihrer speziellen Kompetenzen ausgewählt wurden, ist eine Ver- knüpfung zwischen dem erwarteten Beitrag zur Lösung des komplexen Prob- lems und der sozialen Identität der Beteiligten gegeben.
(3) Demnach wird in der Intergruppen-Kooperation sowohl das Erreichen der ge- meinsamen Ziele (aufgabenbezogen) als auch positive soziale Identität (ichbe- zogen) angestrebt.
(4) Vor und während der Kooperation ist mit Abgrenzungsbestrebungen zwischen den Akteuren zu rechnen. Dies geschieht einerseits aus Gründen der besseren Orientierung im sozialen System und andererseits zur Selbstwertsteigerung bzw. -erhaltung.
(5) Das aufgabenbezogene Ziel kann in vielen Fällen als Kooperationsursache be- trachtet werden.
(6) Ein ichbezogenes Ziel kann die Entstehung von Kooperation verhindern, indem beispielsweise bei einer Gefährdung der sozialen Identität auf das Erreichen des aufgabenbezogenen Zieles verzichtet wird.
(7) Das aufgabenbezogene Ziel ist allen Beteiligten bewusst, wohingegen die ich- bezogenen Ziele häufig nicht allen bekannt sind.
(8) Im Verlauf der Intergruppen-Kooperation kommen zwei Probleme zum tragen: Einmal geht es um das Sachproblem, aufgrund dessen die Kooperation über- haupt erst entstanden ist. Und zum anderen ergibt sich wegen des Strebens nach sozialer Identität ein Beziehungsproblem zwischen den Gruppen. In Folge dessen ist es bei der Planung und Gestaltung von Kooperation wichtig, Raum für gegenseitige Abgrenzungen zu lassen und diese auch anzuerkennen (vgl. Beck 1992, 73 f.; van Santen und Seckinger 2003, 40 f.).
Beck überprüfte seine Thesen anhand von Planspielen, bei denen es beispielsweise darum ging ein schwieriges Problem der Stadtplanung zu bewältigen. Trotz der reali- tätsnahen Aufgabenstellung lassen sich die Ergebnisse nicht so leicht auf reale Koope- rationssituationen übertragen. Das hängt einerseits mit der von Beck gewählten Grup- pengröße von lediglich drei Mitgliedern, und andererseits mit der zeitlichen Begren- zung der experimentell erzeugten Kooperationssituation zusammen. Dennoch bestäti- gen die Ergebnisse der durchgeführten Planspiele die Bedeutung der sozialen Identität, sowohl für die Dynamik des Kooperationsprozesses als auch für das soziale Klima in Kooperationssituationen (vgl. van Santen & Seckinger 2003, 41 f.). Zusammenfassend gelingt Kooperation zwischen Institutionen nicht nur durch das blo- ße Zusammenkommen dergleichen, sondern es bedarf der gegenseitigen Anerkennung verschiedener Professionen, Aufgabenstellungen und Kompetenzen. Folglich bedarf es auch bei der Zusammenarbeit von Erzieherinnen und Erziehungsberatern der gegen- seitigen Anerkennung, um anschließend zu einer gemeinsamen Lösung komplexer Probleme zu gelangen.
2.2 Das Konfigurationsmodell nach van Santen und Seckinger
Im Rahmen ihrer Dissertation führten van Santen und Seckinger eine empirische Studie zur interinstitutionellen Zusammenarbeit am Beispiel der Kinder- und Jugendhilfe durch. Ziel dabei war es „zu einem tieferen Verständnis von Kooperationsprozessen im Allgemeinen und in der Kinder- und Jugendhilfe im Besonderen beizutragen“ (van Santen & Seckinger 2003, 9). Im Anschluss an ihre Studie entwickelten die Autoren ein Konfigurationsmodell von Kooperation mit dem sich die Dynamik von Kooperationsbe- ziehungen beschreiben lässt.
Das dynamische 4x4-Konfigurationsmodell
Dieses Modell beinhaltet vier Dimensionen und vier Ebenen, weshalb von einem „dy- namischen 4x4-Konfigurationsmodell“ (van Santen & Seckinger, 416) gesprochen. Dy- namisch deshalb, weil die „Ausprägungen der vier Dimensionen, ihr Verhältnis unter- einander auf einer Ebene - sowie jeweils wieder zwischen den vier Ebenen“ (ebd.) ei- ner zeitlichen Dynamik unterliegen. Demnach durchläuft eine Kooperation beispiels- weise mehrere Phasen: die „Gründungsphase, Etablierungsphase, Konsolidierungspha- se sowie (die) Endphase“ (ebd., 420). Das 4x4-Konfigurationsmodell von Kooperation setzt die vier Dimensionen Status, Verbindlichkeit, Ressourcen und Referenzsystem mit den vier Ebenen Individuum, Herkunftsorganisation, Kooperationszusammenhang und Makroebene in Beziehung (siehe Tab. 1). Dadurch lassen sich unterschiedliche Bedingungskonstellationen von Kooperation beschreiben.
Tabelle 1: Dynamisches 4x4-Konfigurationsmodell von Kooperation (van Santen & Seckinger, 2003)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: van Santen & Seckinger (2003, 416 ff.).
Die Autoren verstehen das Modell „als einen Baustein für die Entwicklung einer umfassenden Theorie zur Interinstitutionellen Kooperation“ (van Santen & Seckinger 2003, 11). Solch eine Kooperationstheorie ist ihrer Ansicht nach wichtig, um verschiedene Kooperationen in unterschiedlichen Praxisfeldern weiterentwickeln zu können. Denn „je weiter entwickelt eine Kooperationstheorie ist, desto eher besteht auch die Möglichkeit, eine Vielzahl von Kooperationsbeziehungen einer methodisch gut begründeten Evaluation zu unterziehen“ (ebd.).
In Anlehnung an das 4x4-Konfigurationsmodells leiten die Autoren auf der Ebene des Kooperationszusammenhangs, auf der Ebene des Individuums und auf der Ebene der Herkunftsorganisation Voraussetzungen und Bedingungen ab, die für eine gelingende Kooperation förderlich sind. Die vierte Ebene der Gesellschaft lassen sie dabei außer Acht, da für sie nur die direkt beeinflussbaren Faktoren von Interesse sind (vgl. Santen & Seckinger 2003, 424). Die Empfehlungen von van Santen und Seckinger (2003) für eine gelingende Kooperation werden im Folgenden beschrieben.
Voraussetzungen auf der Ebene des Kooperationszusammenhanges
Die Autoren ordnen die Voraussetzungen auf der Ebene des Kooperationszusammenhangs verschiedenen Phasen der Kooperation zu. So unterscheiden sie zwischen „Beginn einer Kooperation“, „während einer Kooperation“ und dem „Ende einer Kooperation“ (Santen & Seckinger 2003, S. 425 ff.).
Zu Beginn einer Kooperation sollten zuallererst die gegenseitigen Erwartungen, Ziel- vorstellungen und die jeweiligen Arbeitsformen besprochen werden. Darüber hinaus sollte ein Austausch über die verfügbaren Ressourcen (wie z.B. Zeit) stattfinden. Zu- dem sollte die Kooperation sowohl in rechtlicher Hinsicht als auch in Bezug auf die Verhältnisse zu anderen Akteuren im Feld eingeordnet werden. Diese zentralen Aufga- ben sind vor allem in der Phase der Selbstvergewisserung und Identitätsbildung, wel- che auch als Norming-Phase beschrieben wird, von Bedeutung. Da es im Laufe eines Kooperationsprozesses auch zu Zielverschiebungen, Veränderungen der Rahmenbe- dingungen oder des kooperierenden Personals kommen kann, können solche Norming- Phasen auch während einer Kooperation wichtig werden (vgl. ebd., 425).
Während der Kooperation ist eine der zentralen Herausforderungen, die Entwicklung einer Vertrauensbasis. Daneben ist auch personelle Kontinuität ein wichtiger Faktor für das Gelingen einer Kooperation. Diese kann wiederum hilfreich bei der Vertrauensbildung sein. Eine weitere wichtige Voraussetzung, um den Kooperationszusammenhang in das soziale System zu integrieren, ist ein nach außen erkennbares Profil. Dies führt zu einer größeren Anerkennung der Kooperation seitens aller Beteiligten. Durch eine erfolgreiche Umsetzung wird der Nutzen der Kooperation direkt erfahrbar und hält die Motivation der Beteiligten aufrecht (vgl. ebd., 425 f.).
Am Ende einer Kooperation sollten Strategien zur Ergebnissicherung entwickelt werden, um zu sehen was durch die Kooperation erreicht wurde. Auch sollte in jedem Kooperationszusammenhang die Frage reflektiert werden, was anders wäre, wenn man nicht mehr zusammenarbeiten würde (vgl. ebd., 427).
Voraussetzungen auf der Ebene des Individuums
Auf individueller Ebene sind vor allem die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Kooperati- on grundlegend. Demnach sollte eine gewisse Kommunikationskompetenz, Offenheit aber auch Empathie vorhanden sein. Die kooperierenden Personen benötigen zudem Wissen über die Rahmenbedingungen der jeweiligen Kooperationspartner, sei es im Bezug auf deren Arbeitsweise, Handlungsmöglichkeiten und Handlungslogiken oder im Bezug auf Personalressourcen und deren Zuständigkeiten. Darüber hinaus sollten die kooperierenden Personen bestrebt sein, sowohl die Ziele der Kooperation als auch die eigenen individuellen und fachlichen Ziele einander anzugleichen. Auch sollten die ko- operierenden Personen selbst vom Nutzen der Kooperation überzeugt sein und sich diesen auch stets vor Augen führen, um motiviert weiter zu kooperieren. Innerhalb eines Kooperationszusammenhangs haben die Vertreter der jeweiligen Institutionen zwei grundlegende Aufgaben. Auf der einen Seite transportieren, repräsentieren und vertreten sie die Information, das Wissen und die Interessen der Herkunftsorganisati- on. Und auf der anderen Seite müssen die Ergebnisse, Informationen, Erfahrungen und Interessen im Bezug auf die Kooperation auch wieder in die Herkunftsorganisation hineingetragen werden (vgl. van Santen & Seckinger 2003, 427).
Voraussetzungen auf der Ebene der Herkunftsorganisation
Ähnlich wie bei den Voraussetzungen auf individueller Ebene müssen auch auf dieser Ebene die Kooperationsziele mit den Zielen der beteiligten Organisationen harmonie- ren. Ebenso ist es förderlich, wenn nicht nur die Individuen vom Nutzen der Kooperati- on überzeugt sind, sondern auch die dazugehörigen Organisationen. Um die Koopera- tion bei einem möglichen personellen Wechsel nicht zu gefährden, sollten die Koope- rationsaktivitäten in den Institutionen selbst verankert sein und nicht nur von einzel- nen Personen abhängen. Darüber hinaus sollten die Herkunftsorganisationen den zu- sätzlichen Zeit- und Arbeitsaufwand für die Kooperationen anerkennen. Zusammenfas- send ist eine institutionelle Unterstützung der kooperierenden Personen eine wichtige Voraussetzung für eine gelingende Kooperation (vgl. ebd., 428).
3 Kooperation zwischen Kindertagesstätten und Erzie- hungsberatungsstellen
Das folgende Kapitel beschäftigt sich speziell mit der Kooperation von Kindertagesstät- ten und Erziehungsberatungsstellen. Dazu werden zunächst die beiden Kooperations- partner, Kita und Erziehungsberatung, vorgestellt und erläutert warum sich die beiden Institutionen für eine Zusammenarbeit eignen. Anschließend werden die Chancen und Ziele dieser Zusammenarbeit beschrieben und darauffolgend erörtert wie die Koopera- tion von Kitas und Erziehungsberatungsstellen gestaltet werden kann. Das Kapitel schließt mit der Vorstellung ausgewählter Modellprojekte, um einen ersten Einblick in die Kooperationspraxis zu gewähren.
3.1 Die Erziehungsberatung als Kooperationspartner
3.1.1 Grundlagen
Der Begriff Erziehungsberatung umfasst „alle Beratungsinitiativen (…), die notwendig sind, um Anliegen und Probleme zu bearbeiten, die Erziehende, mit den ihnen anver- trauten Kindern und Jugendlichen haben“ (Rollett 2006, 138). Erziehende können so- wohl Eltern, pädagogische Fachkräfte als auch weitere für die Erziehung von Kindern und Jugendlichen zuständige Personen sein. Ihre gesetzliche Verankerung erhielt die institutionelle Erziehungsberatung 1991 mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG, SGB VIII) (vgl. Warschburger 2008, 431). Sie gehört somit zum Leistungsspektrum der Jugendhilfe und zählt zu den gesetzlich vorgeschriebenen Hilfen zur Erziehung. § 28 regelt die Aufgaben der Erziehungsberatung. Demnach sollen Erziehungsberatungsstel- len Kinder, Jugendliche, Eltern und andere Erziehungsberechtigte
-bei der Klärung und Bewältigung individueller und familienbezogener Probleme und der zugrundeliegenden Faktoren,
-bei der Lösung von Erziehungsfragen sowie
-bei Trennung und Scheidung unterstützen.
Um professionell unterstützen zu können legt der Paragraph außerdem fest, dass in einem Beratungsteam verschiedene Fachkräfte zusammenwirken sollen, die mit unter- schiedlichen methodischen Ansätzen vertraut sind. Folgende Fachrichtungen sollen nach der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung in Erziehungsberatungsstellen (bke) vertreten sein: Psychologie, Sozialarbeit/-pädagogik, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Pädagogik/Erziehungswissenschaft sowie beraterisch-therapeutische Fachkräfte (vgl. bke 2012, 23). Neben der Zusammensetzung eines multidisziplinären Teams sind das kostenfreie Angebot, die freiwillige Inanspruchnahme dessen und die Schweigepflicht der Berater weitere Grundsätze, denen in Erziehungsberatungsstellen Rechnung getragen wird (vgl. Warschburger 2008, 432).
Das Aufgabenspektrum der Erziehungsberatung geht jedoch weit über die gesetzliche Beschreibung hinaus. Neben der Beratungstätigkeit gehören auch präventive Aufgaben und Vernetzungsaufgaben zum Tätigkeitsbereich von Erziehungsberatungsstellen. Zu den präventiven Aufgaben gehören beispielsweise Aufgaben im Bereich der Familien- bildung zur Förderung der Eltern- oder Partnerschaft, aber auch Vorträge oder Eltern- abende zu bestimmten Themen. Darüber hinaus können im Rahmen präventiver Auf- gaben auch Projekte für Kinder und Jugendliche oder Supervisionen für Fachkräfte an- derer pädagogischer Einrichtungen durchgeführt werden. Der Bereich der Vernet- zungsaufgaben beinhaltet die Bildung von Arbeitskreisen und die Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen, wie zum Beispiel die Zusammenarbeit mit Kindertages- einrichtungen. Darüber hinaus benennt die Bundeskonferenz für Erziehungsberatung noch weitere Aufgabenbereiche, wie spezielle Beratungsangebote (Entwicklungsdiag- nostik, Therapien, Arbeiten mit verschiedenen Gruppen, etc.), fachdienstliche Aufga- ben (psychodiagnostische Klärung, Mitwirkung im familiengerichtlichen Verfahren, Gutachtenerstellung, etc.) oder Leitungsaufgaben (Qualitätsmanagement, Personal- entwicklung, Finanzen, etc.). Diese sollen an dieser Stelle jedoch nur kurz genannt und nicht weiter ausdifferenziert werden, da sie für die vorliegende Arbeit nicht weiter relevant sind (vgl. bke 2009).
3.1.2 Aktuelle Entwicklungen im Kontext der Kooperation
Steigende Inanspruchnahme bei gleichbleibendem Personal führt zu einer Unterver- sorgung Die Inanspruchnahme von Erziehungsberatung steigt kontinuierlich an (vgl. Menne 2006, 193). Wurden im Jahr 1993 „nur“ ca. 198.000 Beratungen beendet, waren es 2003 schon 301.650 Beratungen nach §28 SGB VIII, was einer Steigerung von 52 % ent- spricht (vgl. ebd.). Nach den aktuellsten Erhebungen liegt die Zahl der beendeten Bera- tungen bei 311.584 (Statistisches Bundesamt 2012). Die Versorgungssituation hat sich, trotz der kontinuierlichen Steigerung der Inanspruchnahme, jedoch kaum geändert und ist seit Anfang der 80er Jahre praktisch gleichgeblieben (bke 2012, 50). Angesichts dieser Entwicklungen kommt es in den bestehenden Strukturen zu einer Unterversor- gung, was schon an den langen Wartelisten der Erziehungsberatungsstellen zu erken- nen ist (vgl. Sell 2010, 22).
Diese Situation der Unterversorgung beschränkt „die Ansätze einer Diffusion der Beratungsleistungen in die Sozialräume und den Ausbau der präventiven Angebote in den Settings außerhalb der Beratungsstellen (Kitas, Schulen usw.)“ (ebd.). Denn auf der einen Seite fehlen Ressourcen und Kapazitäten von Seiten der Beratungsstellen, auf der anderen Seite wird die Notwendigkeit von Sozialraumorientierung in Anbetracht der steigenden Inanspruchnahme von den Mitarbeitern der Beratungsstellen subjektiv gar nicht wahrgenommen (vgl. ebd.).
Von der Komm- zur Geh-Struktur
Das Prinzip traditioneller Erziehungsberatung beinhaltet eine Komm-Struktur. Das be- deutet die Ratsuchenden kommen in die Beratungsstelle, um sich Hilfe und Unterstüt- zung bei den Fachkräften vor Ort zu holen. Den Beratungsstellen wird unter anderem wegen dieser „zugangsverengenden Komm-Strukturen“ (Sell 2008, 52) seit Jahren eine Mittelschichtlastigkeit (vgl. ebd.) bei der Inanspruchnahme vorgeworfen. Um dem ent- gegenzuwirken lautet die Forderung, sich von der traditionellen Komm-Struktur abzu- wenden und sich mehr an einer Geh-Struktur zu orientieren. Demnach soll die Erzie- hungsberatung selbst ins Feld gehen, um „die Beratung an den Ort des offensichtlichen Bedarfs zu bringen“ (ebd., 53). Ziel bei der Verlagerung der Beratungsdienste in die Einrichtungen im Sozialraum ist es also Personen zu erreichen, die aus Eigeninitiative keine Beratungsstelle aufsuchen würden, bei denen aber dennoch Bedarf besteht (vgl. ebd.). Trotz dieser Forderung findet Beratung nach wie vor hauptsächlich in den Bera- tungsstellen selbst statt. Dieses bekannte Bild von Erziehungsberatung und ihrer Komm-Struktur bestätigen auch die Ergebnisse der Kinder- und Jugendhilfestatistik 2011 (Tab. 2).
Tabelle 2: Ort der Hilfeerbringung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Statistisches Bundesamt (2012). Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Erzieherische Hilfe, Ein- gliederungshilfe für seelisch behinderte junge Menschen, Hilfe für junge Volljährige - Erziehungsberatung.
Demnach wurden im Jahr 2011 von insgesamt 311.584 beendeten Beratungen 300.651 Beratungen in den Räumen des Beratungsdienstes durchgeführt. Das entspricht ca. 96,5 %. In Kitas erfolgten 5.583 Beratungen (1,8 %) und in Schulen 2.130 (0,7 %). In den Wohnungen der Familien selbst fanden 2.322 (0,7) Beratungen statt. Folglich hat die Erziehungsberatung die gefordert Geh-Struktur noch nicht in relevanten Umfang um- gesetzt (vgl. Menne 2010, 39). Allerdings sei an dieser Stelle nochmals auf die gestie- gene Inanspruchnahme bei unveränderten Personalressourcen hingewiesen, welche zeitaufwändigen Beratungen an anderen Orten gegenübersteht. Angesichts dessen scheint die aktuelle Entwicklung einen Kompromiss „von der Komm-Struktur hin zu einer Auch-Geh-Struktur der Beratungsdienste“ (Sell 2010, 24) zu verfolgen.
3.1.3 Eignung der Erziehungsberatung als Kooperationspartner
Im Folgenden lassen sich einige Gründe nennen, warum die Erziehungsberatungsstelle als Kooperationspartner für Kitas geeignet ist. Als erstes ist das multidisziplinäre Team zu nennen, welches durch das Zusammenwirken verschiedener Fachkräfte über ein ausdifferenziertes fachliches Wissen in allen Bereichen von Erziehung verfügt. Von die- sem Wissen können auch andere pädagogische Fachkräfte profitieren. Des Weiteren verfügen die Fachkräfte in Erziehungsberatungsstellen neben ihrem wissenschaftlichen Studium über therapeutische Zusatzausbildungen, welche sie befähigen auch im diag- nostischen Bereich tätig zu sein. Diese diagnostischen Kompetenzen können auch für Kindertagesstätten nüztlich sein, wenn es beispielsweise um die Einschätzung von Entwicklungsverzögerungen oder Schulfähigkeit geht. Darüber hinaus sind Erzie- hungsberatungsstellen gut vernetzt und können neben fachlichem Wissen auch mit Informationen zu anderen Einrichtungen dienen. Aufgrund der Vernetzung hat die Er- ziehungsberatung einen guten Überblick über zur Verfügung stehende Dienste und kann an geeigneter Stelle mit Informationen aushelfen.
3.2 Die Kindertagesstätte als Kooperationspartner
3.2.1 Gesetzliche Grundlagen
Wie die Erziehungsberatung zählt auch die Tagesbetreuung von Kindern zu den Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. Die gesetzliche Grundlage auf Bundesebene bildet das KJHG (SGB VIII).
Die für die Kitas gesetzlich festgelegten Aufträge werden im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) beschrieben. Demzufolge sollen Kindertagesstätten nach § 22 Abs. 2
-die Entwicklung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschafts- fähigen Persönlichkeit fördern,
-die Erziehung und Bildung in der Familie unterstützen und ergänzen,
-den Eltern dabei helfen, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser miteinander vereinbaren zu können.
[...]
1 Im Rahmen dieser Arbeit wird für den Bereich der Kindertagesstätten die weibliche Form der Erzieherin und für den Bereich der Erziehungsberatung die männliche Form des Beraters verwendet. Diese männlichen bzw. weiblichen Personenbezeichnungen schließen das jeweils andere Geschlecht mit ein und dienen der besseren Lesbarkeit.
2 Eine Zusammenstellung verschiedener Begriffsbestimmungen von Kooperation, Koordination und Vernetzung können bei van Santen & Seckinger (2003, 26 ff.) nachgelesen werden.
3 Van Santen und Seckinger verstehen interinstitutionelle Kooperationszusammenhänge „als eigenständige komplexe soziale Gebilde, mit einer eigenen Dynamik und eigenem Sinnzusammenhang“ (van Santen & Seckinger 2003, 9).
4 Die Kooperationsforschung betrachtete zu jener Zeit hauptsächlich die Kooperation zwischen Einzelpersonen und nicht zwischen Gruppen und Gruppenvertretern (vgl. Beck 1992, 6).
5 Das Thema Kooperation spielte in der sozialpsychologischen Intergruppen-Forschung eher eine untergeordnete Rolle. Es wurde vielmehr der Frage nachgegangen, wie Konflikte zwischen Gruppen entstehen und wie diese abgebaut werden können oder was die Zugehörigkeit zu einer Gruppe für die soziale Identität einzelner Gruppenmitglieder und deren Handeln bedeutet (vgl. ebd.).
- Arbeit zitieren
- Denise Hechinger (Autor:in), 2013, Kooperation zwischen Kindertagesstätten und Erziehungsberatungsstellen, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/271584