Demenz ist eine der Hauptursachen für Behinderung und Mortalität im Alter (Hauer, Becker, Lindemann & Beyer, 2006). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind fünf Prozent der Weltbevölkerung über 65 Jahren davon betroffen (Ritchie & Lovestone, 2002). Ferri et al. (2005) haben die weltweite Prävalenz und Inzidenz von Demenz auf der Grundlage veröffentlichter Studien geschätzt: alle sieben Sekunden wird eine Neuerkrankung diagnostiziert. Die Zahl der Betroffenen wird sich alle zwanzig Jahre verdoppeln.
Kognitiver Abbau geht mit körperlichem einher, wie Morley (2004) in den „Top 10 Hot Topics in Aging“ im Verweis auf verschiedenen Studien bestätigt. Er ist begleitet vom Verlust motorischer und funktioneller Leistungen. Das führt zu Einschränkungen in der mobilitätsabhängigen Lebensqualität der Betroffenen (Schwenk, Oster & Hauer, 2008).
Komplexere motorische Fähigkeiten gehen früher verloren als grundlegende. Der Abbau spezifischer kognitionsbezogener motorische Funktionen, z.B. von Dual-Task-Leistungen, ist ein Früherkennungszeichen für die Alzheimer Demenz. Das Ausmaß der Beeinträchtigung vergrößert sich noch durch motorische Defizite aufgrund reduzierter körperlicher Aktivität. Dadurch haben Menschen mit Demenz ein dreifach höheres Sturzrisiko sowie ein drei- bis vierfach höheres Mortalitätsrisiko infolge von Stürzen als nicht kognitiv eingeschränkte Gleichaltrige. Besonders hoch sind diese Risiken für Menschen mit vaskulärer und einer Demenz mit Lewy-Körperchen (Hauer et al., 2006).
Mit der demografischen Entwicklung steigt die Anzahl der Pflegeheimbewohnerinnen und Bewohner, insbesondere der über 85-Jährigen ("Pflegebedürftige in Pflegeheimen," 2011). Für 2020 wird für diese Kohorte eine Zunahme von 13% gegenüber dem Jahr 2007 prognostiziert ("Auswirkungen auf Krankenhausbehandlungen und Pflegebedürftige im Bund und in den Ländern," 2010). Da Demenz vorwiegend eine Erkrankung des Alters ist und die Prävalenz mit steigendem Lebensalter zunimmt (Sütterlin, Hoßmann & Klingholz, 2011), wird auch die Zahl der Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner mit Demenz zunehmen. Dies verdeutlicht den Stellenwert von rehabilitativen Konzepten, die das Voranschreiten der Pflegebedürftigkeit hinauszögern und den zunehmenden Pflegeaufwand reduzieren (Ackermann & Oswald, 2006). Um das zu erreichen, gilt es Selbständigkeitspotentiale der Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner wahrzunehmen und zu fördern. Dies ist eines der Ziele des Trainingsprogramms der vorliegenden Arbeit.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Stand der Forschung
3. Alltagskompetenz in Bezug auf Mobilität bei Bewohnerinnen mit Demenz in Pflegeheimen
4. Ziele des Trainingsprogramms
5. Organisation des Trainings
5.1. Auswahl der Trainingsinhalte
5.2. Finanzierung
5.3. Zeitpunkt, Häufigkeit, Dauer und Intensität des Trainings
5.4. Räumlichkeiten
5.5. Materialien
5.6. Teilnehmerinnen
5.7. Trainingsleitung
5.8. Bekanntmachung des Trainingsprogramms
6. Durchführung des Trainingsprogramms
6.1. Didaktische Aspekte
6.2. Besonderheiten des Trainings von älteren Menschen mit Demenz
6.3. Aufteilung der Trainingseinheiten
6.4. Evaluation
6.5. Weiterführung des Trainings
7. Konzeption der Trainingseinheiten
7.1. Körpergrundhaltungen
7.2. Grundübungen
7.3. Beschreibungen von Bewegungsspielen
7.4. Trainingseinheiten
8. Zusammenfassung und Ausblick
9. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Demenz ist eine der Hauptursachen für Behinderung und Mortalität im Alter (Hauer, Becker, Lindemann & Beyer, 2006). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind fünf Prozent der Weltbevölkerung über 65 Jahren davon betroffen (Ritchie & Lovestone, 2002). Ferri et al. (2005) haben die weltweite Prävalenz und Inzidenz von Demenz auf der Grundlage veröffentlichter Studien geschätzt: alle sieben Sekunden wird eine Neuerkrankung diagnostiziert. Die Zahl der Betroffenen wird sich alle zwanzig Jahre verdoppeln.
Kognitiver Abbau geht mit körperlichem einher, wie Morley (2004) in den „Top 10 Hot Topics in Aging“ im Verweis auf verschiedenen Studien bestätigt. Er ist begleitet vom Verlust motorischer und funktioneller Leistungen. Das führt zu Einschränkungen in der mobilitätsabhängigen Lebensqualität der Betroffenen (Schwenk, Oster & Hauer, 2008).
Komplexere motorische Fähigkeiten gehen früher verloren als grundlegende. Der Abbau spezifischer kognitionsbezogener motorische Funktionen, z.B. von Dual-Task-Leistungen, ist ein Früherkennungszeichen für die Alzheimer Demenz. Das Ausmaß der Beeinträchtigung vergrößert sich noch durch motorische Defizite aufgrund reduzierter körperlicher Aktivität. Dadurch haben Menschen mit Demenz ein dreifach höheres Sturzrisiko sowie ein drei- bis vierfach höheres Mortalitätsrisiko infolge von Stürzen als nicht kognitiv eingeschränkte Gleichaltrige. Besonders hoch sind diese Risiken für Menschen mit vaskulärer und einer Demenz mit Lewy-Körperchen (Hauer et al., 2006).
Mit der demografischen Entwicklung steigt die Anzahl der Pflegeheimbewohnerinnen und Bewohner, insbesondere der über 85-Jährigen ("Pflegebedürftige in Pflegeheimen," 2011). Für 2020 wird für diese Kohorte eine Zunahme von 13% gegenüber dem Jahr 2007 prognostiziert ("Auswirkungen auf Krankenhausbehandlungen und Pflegebedürftige im Bund und in den Ländern," 2010). Da Demenz vorwiegend eine Erkrankung des Alters ist und die Prävalenz mit steigendem Lebensalter zunimmt (Sütterlin, Hoßmann & Klingholz, 2011), wird auch die Zahl der Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner mit Demenz zunehmen. Dies verdeutlicht den Stellenwert von rehabilitativen Konzepten, die das Voranschreiten der Pflegebedürftigkeit hinauszögern und den zunehmenden Pflegeaufwand reduzieren (Ackermann & Oswald, 2006). Um das zu erreichen, gilt es Selbständigkeitspotentiale der Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner wahrzunehmen und zu fördern. Dies ist eines der Ziele des Trainingsprogramms der vorliegenden Arbeit.
Im Pflegealltag führt das oft vorherrschende Hotel-ähnliche Setting in der stationären Altenpflege dazu, dass die Bewohnerinnen und Bewohner durch den Verlust ihrer vertrauten Umgebung und der dort gelebten Alltagsaktivitäten nach und nach viele ihrer noch verbliebenen Kompetenzen, ihre Mobilität sowie ihre Selbständigkeit verlieren ("fit für 100 - Ein Bewegungsprogramm zur Förderung der Mobilität und Selbständigkeit für Hochaltrige," "o.J.").
Deshalb sind Bewegung und Beschäftigung besonders für Bewohnerinnen und Bewohner von Altenpflegeheimen wichtig. Zwar verfügen viele dieser Einrichtungen über „ein breites Spektrum ideenreicher, jedoch eher unspezifischer praktischer Umsetzungsbeispiele zur Hockergymnastik, zum Sitztanz, zum Gehirnjogging oder anderen kreativen Spielformen mit vielfältigem Materialeinsatz“ ("fit für 100 - Ein Bewegungsprogramm zur Förderung der Mobilität und Selbständigkeit für Hochaltrige," "o.J.", S. 4). Doch gibt es kaum Bewegungsangebote zur „gezielten Förderung von Alltagskompetenz, Kraft und Gleichgewichtsfähigkeiten“ (ebenda).
Beobachtungen im Rahmen langjähriger Berufspraxis der Verfasserin der vorliegenden Arbeit machen zudem deutlich, dass in den vollstationären Pflegeeinrichtungen mit integrativem Ansatz aus Effektivitätsgründen das Ziel von Körperübungen für Menschen mit und ohne Demenz hauptsächlich im sozialen Gewinn der Aktivitäten gesehen wird und nicht in ihrem rehabilitativen Aspekt. Das zeigt sich beispielsweise darin, dass durch Größe und Zusammensetzung der Übungsgruppen sowie die Auswahl und Intensität der Interventionen kaum Effekte auf die o.g. Kompetenzen wahrzunehmen sind.
Ausgehend von dieser Situation sowie in Zustimmung zu der von Mechling formulierten „dringenden Notwendigkeit der Einführung von effektiven Interventionen für körperlicher Aktivität“ (Mechling, 2008, S. 1) für Menschen mit Demenz hat sich die Verfasserin für eine Konzeption mit Bewegungsübungen für Bewohnerinnen und Bewohner mit Demenz in Pflegeheimen entschieden. Die Trainingseinheiten sollen diese darin unterstützen, basale, alltagspraktische Kompetenzen in Bezug auf Mobilität (Sich Hinsetzen und Aufstehen) zu verbessern und diese möglichst lange zu erhalten. Das fördert ihre relative Selbständigkeit und Unabhängigkeit von der Unterstützung anderer, hier z.B. vom Pflegepersonal und trägt zu körperlichem und emotionalem Wohlbefinden bei.
Zur Vereinfachung der Schreibweise und weil die Mehrzahl der in Altenpflegeeinrichtungen betreuten Personen sowie die Mitarbeitenden Frauen sind, wird in der vorliegenden Arbeit die weibliche Form verwendet. Selbstverständlich sind damit Menschen beiderlei Geschlechts gemeint.
2. Stand der Forschung
Bisher existieren wenige wissenschaftliche Untersuchungen über die Wirksamkeit von körperlichen Übungen bzw. Training auf den Erhalt von körperlichen Potentialen und damit die Verzögerung des körperlichen und kognitiven Abbaus bei älteren Menschen mit Demenz.
Die Mehrheit der Studien der letzten vier bis fünf Jahre ist zwei deutschen Forschungsteams zuzuordnen: dem um Hauer und Schwenk vom Bethanien-Krankenhaus/Geriatrischen Zentrum der Universität Heidelberg (Delbaere, Hauer & Lord, 2010; Gogulla, Lemke & Hauer, 2012; Hauer et al., 2006; Hauer et al., 2011; Hauer et al., 2012; Hüger et al., 2009; Schwenk & Hauer, 2008; Schwenk, Lauenroth, Oster & Hauer, 2010; Zieschang, Schwenk, Oster & Hauer, 2012) sowie dem um Eichberg, Mechling und Nieder (Brach et al., 2007; Brach, Nieder, Nieder & Mechling, 2009; Eichberg, 2008a, 2008b, 2011a, 2011b; Gangel, Nieder & Mechling, 2011; Mechling, 2008) vom Institut für Bewegungs- und Sportgerontologie der Hochschule für Sport in Köln . Ergebnisse zu unterschiedlichen Fragestellungen der einzelnen Studien sind in verschiedenen Fachpublikationen erschienen. Beide Forschungsteams haben auf der Grundlage ihrer Studienergebnisse Trainingsprogramme entwickelt.
Einen guten Überblick über den Stand der Forschung geben Hauer und Kolleginnen in einer Übersichtsarbeit (2006). Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die untersuchten bisherigen Studien hinsichtlich Stichprobenumfang, Methodik, Art der Intervention und motorischen Assessments sehr heterogen sind. Die Ergebnisse der in den Studien durchgeführten Interventionen waren widersprüchlich und es blieb unklar, ob körperliches Training zur Verbesserung von motorischen Leistungen von Menschen mit Demenz führt. Ebenso konnte nicht geklärt werden, ob tatsächlich unzureichendes Rehabilitationspotential der Studienteilnehmer oder methodische Mängel der Studien (z.B. geringe Größe und Heterogenität der Stichprobe, Einsatz von nichtvaliden Test-Instrumenten) für eine geringe Trainingseffektivität verantwortlich waren. Beispielsweise waren die bisherigen Interventionsprogramme nicht an den kognitiven Status der Trainingsteilnehmerinnen angepasst bzw. setzten sich die Testgruppen aus Teilnehmerinnen mit unterschiedlichem kognitivem Status zusammen. Bei vielen Interventionsstudien wurden Hilfestellungen und Unterstützung (z.B. verbal oder durch Körpersignale der anleitenden Person) in den Studienprotokollen nicht ausreichend erfasst und beschrieben, was die Güte der Ergebnisse beeinflusst (Schwenk et al., 2010).
Im Rahmen einer großen Trainingsstudie von 2005 bis 2009 am Bethanien-Krankenhaus/Geriatrischen Zentrum der Universität Heidelberg aktualisierte die Forschungsgruppe den Studienüberblick und entwickelte aus den gewonnen Erkenntnissen eine spezifische Methodologie für Studien zur Untersuchung von Effekten von körperlichem Training auf kognitiv eingeschränkte Personen. Diese umfasst u.a. die Auswahl von sensiblen Messinstrumenten, welche Veränderungen im motorischen, kognitiven und emotionalen Status der Testperson erfassen konnten und nach Möglichkeit validiert wurden (Hüger et al., 2009). Dass die Validierung vorhandener Testinstrumente für das spezifische Forschungsthema möglich ist, zeigte eine Forschergruppe um Hauer. Diese evaluierte die Selbstauskunfts- sowie die Interviewversion des Fragebogens zur Erfassung sturzassoziierter Selbstwirksamkeit (FES und FES-I) und kam zu dem Schluss, dass besonders die letztere für Messungen bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen geeignet ist (Hauer et al., 2010). Weitere Forschung in diese Richtung ist unerlässlich, um sukzessive ein Inventar von Testinstrumenten zu schaffen. Dieses kann für Studien zu weiterführenden Fragestellungen hinsichtlich der Effekte körperlichen Trainings bei älteren Menschen mit Demenz eingesetzt werden und dazu beitragen, Ergebnisse von hoher Güte zu gewinnen.
In der o.g. Trainingsstudie (Hüger et al., 2009) konnte nachgewiesen werden, dass ein progressives standardisiertes Training der Kraft, der funktioneller Leistungen und der posturalen Kontrolle sowie erstmals auch die Schulung motorisch-kognitiver Komplexleistungen (Dual-Task-Leistungen) die motorischen und die funktionellen Leistungen bei älteren Menschen mit Demenz signifikant verbessert. Dies führt zu einer Erhöhung ihrer Selbstständigkeit und wirkt sich positiv auf ihre mobilitätsbezogene Lebensqualität aus (Schwenk et al., 2010). Die Trainingseffekte zeigten Nachhaltigkeit, auch noch neun Monate nach Abschluss des Trainings (Zieschang et al., 2012). Die Studienergebnisse haben einen hohen Stellenwert für die Bewertung des Rehabilitationspotentials von Menschen mit Demenz, weil die Erkrankung bisher keine Indikation für Rehabilitationsmaßnahmen darstellt. Auf deren Grundlage wurde das Trainingsprogramm „Bewegung bei Demenz“ entwickelt und kann als Empfehlung für ein Modell ambulanter geriatrischer Rehabilitation dienen (Hauer et al., 2012).
Das Forschungsteam vom Institut für Sport- und Bewegungsgerontologie führte im Rahmen der Längsschnittuntersuchung für das Projekt „fit für 100“ (Brach et al., 2009) zwei Interventionsgruppen in speziellen Pflegeeinrichtungen für Menschen mit Demenz durch. Es konnte festgestellt werden, dass gezielte Bewegung nicht nur den Muskelaufbau fördert, sondern sich auch beruhigend auf agitierte Bewohnerinnen mit Demenz auswirkt (Brach et al., 2007). Aus dem Projekt „fit für 100“ wurde zunächst ein Trainingsprogramm für Altenpflegeeinrichtungen konzipiert, welches an hochaltrige Menschen allgemein gerichtet war. Aus diesem entwickelte das Forschungsteam in Zusammenarbeit mit der Novartis Pharma GmbH das Trainingsprogramm „MOVE“ (Gangel et al., 2011) für Menschen mit Demenz. Weitere Arbeiten aus dieser Forschungsgruppe stammen von Eichberg (Eichberg, 2008a, 2008b, 2011a, 2011b). Darin weist sie u.a. nach, dass Krafttraining für Menschen mit einer Alzheimer Demenz durchführbar ist und dass dies zu Verbesserungen motorischer Funktionen sowie körperlicher Leistungsfähigkeit führt. Signifikant waren diese jedoch nur in Bezug auf die Handkraft (Eichberg, 2008a). Dies könnte auf die geringe Stichprobengröße (n=32) zurückzuführen sein. Es scheint generell schwierig zu sein, Teilnehmerinnen für Interventionsstudien zu diesem Forschungsschwerpunkt zu gewinnen. Eine mögliche Ursache könnte die geringe Offenheit der Träger der Altenpflegeeinrichtungen sein. Auch die Annahme, körperliche Übungen würden Menschen mit Demenz überfordern, ist weit verbreitet, selbst bei regionalen Alzheimer Gesellschaften (Nieder, F., Telefongespräch, 14.01.2013).
Wichtige Erkenntnisse über Effekte körperlichen Trainings auf ältere Menschen liefert die SimA-Studie (Oswald, Hagen, Rupprecht & Gunzelmann, 2002). Sie konnte belegen, dass eine Kombination aus körperlichem und kognitivem Training am wirksamsten für die Förderung der Selbständigkeit, auch von älteren kognitiv eingeschränkten Menschen ist. Die Ergebnisse zeigen, dass Gleichgewichtsfähigkeit, Bewegungssicherheit und Sturzprophylaxe nicht nur durch körperliche, sondern auch durch kognitive Fähigkeiten bestimmt werden. Dies konnte die SimA-P-Studie (Oswald & Ackermann, 2009) bestätigen. Offensichtlich führt die kognitive Aktivierung zu mehr Wachheit und Aufmerksamkeit, die z.B. zur Vermeidung von Stürzen hilfreich sind. Die SimA-P-Studie ist für die vorliegende Arbeit besonders wichtig, weil sie in einem reinen vollstationären Versorgungssetting durchgeführt wurde. Die einzige weitere Forschungsarbeit in einem Pflegeheim ist eine einjährige Interventionsstudie von Rolland et al (2007). Hier führte ein Gruppen-Training aus einer Kombination von Geh-, Kraft-, Gleichgewichts- und Beweglichkeits-Training bei der Testgruppe zu einer langsameren Verschlechterung in den ADL (englisch: „Activities of Daily Life“) gegenüber der Kontrollgruppe. Signifikant waren jedoch nur die Effekte bei den Gangparametern.
Geschlecht scheint in keiner der Studien eine unabhängige Variable zu sein. 2011 war die Mehrzahl der älteren Menschen mit Demenz Frauen ("Anteil von Demenzkranken je Altersgruppe in Deutschland nach Geschlecht im Jahr 2011," 2012). Zwar scheinen Männer „aufzuholen“, weil ihre Lebenserwartung steigt. Schätzungen zeigen jedoch, dass sie auch 2060 nicht das Niveau der Frauen erreichen (Sütterlin et al., 2011). Diejenigen Studien, in denen die Stichproben hinsichtlich der Geschlechterverteilung beschrieben wurden, zeigen einen sehr hohen Frauenanteil in den Test- und Vergleichsgruppen (Eichberg, 2008a; Oswald, Ackermann & Gunzelmann, 2006). Weil Geschlecht anscheinend keine unabhängige Variable war, konnten die Ergebnisse nicht zwischen Frauen und Männern differenziert werden (Eichberg, 2008a; Oswald et al., 2006). In den Publikationen von Hauer und Kolleginnen (Delbaere et al., 2010; Gogulla et al., 2012; Hauer et al., 2006; Hauer et al., 2011; Hauer et al., 2012; Hauer et al., 2010; Hüger et al., 2009; Schwenk & Hauer, 2008; Schwenk et al., 2010; Schwenk et al., 2008; Zieschang et al., 2012) waren überhaupt keine Differenzierungen der Stichproben zu finden. Das legt die Vermutung nahe, dass geschlechtsspezifische Unterschiede so gering sind, dass sie vernachlässigt werden können. Das erstaunt, da Männer und Frauen auch im höheren Lebensalter geschlechtsspezifische Unterschiede in der Beschaffenheit des Stütz- und Bewegungsapparates aufweisen. Ob vorhandene Trainingsprogramme für ältere und hochaltrige Menschen in Bezug auf Inhalt, Dauer, Häufigkeit und Intensität überhaupt nach Geschlechtern differenziert werden, kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geklärt werden.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass nach jetzigem Stand der Forschung Bewegung und körperlichem Training positive Effekte auf motorische und funktionelle Leistungen bei älteren Menschen mit Demenz zeigen. Die Evidenz in den meisten Interventionsstudien ist bisher jedoch gering. Fast alle Studien wurden in einem ambulanten bzw. teilstationären Setting durchgeführt. Eine der wenigen Ausnahmen bildet die SimA-P-Studie. Deren Studienergebnisse wiesen hochsignifikante Effekte für eine Kombination aus körperlicher und kognitiver Aktivierung nach. Weitere Forschung ist notwendig, um die Ergebnisse von den Idealbedingungen der Studien in evidenzbasierten Empfehlungen (Leitlinien) zu Art, Häufigkeit, Umfang und Intensität von Trainingsprogrammen für die Praxis umzusetzen (Eichberg, 2011b).
3. Alltagskompetenz in Bezug auf Mobilität bei Bewohnerinnen mit Demenz in Pflegeheimen
Alltagspraktische Kompetenz kann als einer der vier Bereiche von Selbständigkeit verstanden werden (Ackermann, 2006). Die verschiedenen Bereiche dienen der Aufrechterhaltung eines sinnerfüllten und Bewältigung der Anforderungen des täglichen Lebens. Aus gerontologischer Sicht gewinnt Selbständigkeit besondere Bedeutung im Hinblick auf die Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung im Alter (Tesch-Römer & Wilms, 1998). Alltagskompetenz ist biografisch geprägt und damit hinsichtlich der Motivation individuell unterschiedlich ausgestaltet sowie von persönlicher Gesundheit und psychischer Leistungsfähigkeit abhängig. Im komplexen Lebensalltag besitzt Selbständigkeit jedoch nicht nur eine rein positive und Unselbständigkeit eine rein negative Konnotation. Vielmehr ist von einer Interdependenz auszugehen, von einer „gegenseitigen Unterstützung und Hilfe bei gleichzeitiger und wechselseitiger Anerkennung von Autonomie“ (Wahl, 2002). Selbst in einer Umwelt wie ein Pflegeheim mit einem starken Abhängigkeits- und Machtgefälle ist dies erkennbar, z.B. zwischen der Ausführung von Alltagsaktivitäten durch die Bewohnerinnen und der Form sowie den Grad der Unterstützung durch die Pflegekräfte. Die Interdependenz kann sich hier z.B. beim Waschen oder Ankleiden der Bewohnerinnen zeigen. Wenn die Bewohnerinnen nicht mitmachen „wollen“, sich gar gegen die Unterstützung der Pflegekräfte wehren, erschwert das deren Arbeit.
Im Rahmen der Berliner Altersstudie (Wilms, Baltes & Kanowski, 1998) wurde ein Zweikomponentenmodell der Alltagskompetenz entwickelt. Dieses unterscheidet zwischen basaler und erweiterter Alltagskompetenz. Erstere entspricht den ADL und umfasst Selbstpflege- sowie einfache instrumentelle Aktivitäten, die überlebensnotwendig sind. Sie laufen weitgehend automatisiert ab. Mit dem Barthel-Index kann die basale Alltagskompetenz über die ADL gemessen werden.
Alle Fähigkeiten, die darüber hinaus gehen und der Bewältigung komplexer instrumenteller, sozialer und Freizeit-Aktivitäten dienen, entsprechen den IADL (englisch: „Instrumental Activities of Daily Living“) und können mit der Skala nach Lawton und Brody erfasst werden.
Wahl integriert in die Alltagskompetenz-Definition ebenfalls das Prinzip der Interpendenz und schlägt die folgende Konzeption vor: „Alltagskompetenz (alter Menschen) umfasst physische, psychische (kognitiv-emotionale) und soziale Fertigkeiten, die in wechselhafter Verschränkung untereinander sowie im Wechselspiel mit Ressourcen und Barrieren der Umwelt zu konkretem Erleben und Verhalten in relevanten Alltagskontexten gemäß eigenen und gesellschaftlichen Erwartungen und Zielen führen“ (Wahl, 1998, S. 247).
Bei einer Demenzerkrankung führt der Abbau kognitiver Fähigkeiten zu einer eingeschränkten Alltagskompetenz. Diese ist zusätzlich zu den Kriterien gemäß der ICD (englisch: International Classification of Diseases) eine der Voraussetzungen für die Diagnosestellung einer Demenzerkrankung (Mahlberg & Adl er, 2009). Der progrediente Verlust der Alltagskompetenz im Verlauf einer Demenz bezieht sich jedoch zunächst auf die komplexen instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens (IADL). Die Ausführung der basalen Aktivitäten ist erst zum einem späteren Zeitpunkt betroffen und steht in engem Zusammenhang mit dem Verlust motorischer Basisleistungen sowie dem zunehmenden Risiko motorischer Fehlleistungen, z.B. Stürze (Schwenk et al., 2008).
Veränderungen in der Basismotorik zeigen sich zuerst z.B. in Gangstörungen sowie in einem veränderten Bewegungsablauf des Sitzen-Stehen-Transfers. Beide sind für die Ausführung von Alltagsaktivitäten von grundlegender Bedeutung. Gangstörungen sind für alle Formen der Demenz symptomatisch, treten jedoch jeweils zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf: bei einer vaskulären am Beginn der Erkrankung, bei einer Alzheimer Demenz später. Ursache der Gangstörungen ist eine Störung der zerebralen Integration sowie der Verarbeitung sensorischer Information. Im weiteren Krankheitsverlauf kommt es zu einem Verlust des physiologisch Bewegungsmusters, der sich typischerweise in einem kleinschrittigem, verlangsamtem Gang mit langem Bodenkontakt beider Füße, verkürzter Schrittlänge und hoher Schrittlängenvariabilität äußert.
Die Beeinträchtigung von Planung und Kontrolle motorischer Handlungen durch kognitive Defizite wird beim Sitzen-Stehen-Transfer in Veränderungen der räumlich-zeitlichen Bewegungskoordination deutlich. Dabei wird die vertikale Bewegung ohne entsprechende Rumpfvorneigung eingeleitet. Der erforderliche höhere Kraftaufwand in der Oberschenkelmuskulatur kann nicht mehr bewältigt werden. Das führt zum Bewegungsabbruch sowie zu erhöhtem Sturzrisiko (Schwenk et al., 2008). Davon sind besonders Pflegeheimbewohnerinnen betroffen, weil sie in der überwiegenden Mehrheit hochaltrig sowie schwer- bis schwerstpflegebedürftig sind. 80% von ihnen sind kognitiv sowie in ihrer Mobilität eingeschränkt (Oswald et al., 2006). Das unterstreicht den Stellenwert, den Trainingsprogramme zur Verbesserung der basalen, mobilitätsbezogenen Alltagskompetenz besitzen.
4. Ziele des Trainingsprogramms
Den meisten hochaltrigen Menschen fällt die Ausführung basaler motorischer Alltagsaktivitäten aufgrund von alters- sowie krankheitsbedingten Veränderungen des Stütz- und Bewegungsapparates sowie des Herzkreislaufsystems schwer. Sie verbringen einen großen Teil ihrer Zeit mit Sitzen (Theune, 2009). Stehen sowie Gehen werden immer schwieriger. Oft ist das Aufstehen mit Schwindel verbunden und wird zunehmend vermieden. Das trifft besonders auf ältere Menschen mit Demenz zu, da die Erkrankung oft zu vermehrter Passivität infolge krankheitsbedingter Antriebslosigkeit führt. Dadurch sind sie anfällig für Muskelatrophie aufgrund von Nichtbenutzung (Mechling, 2008).
Primäres, konkretes Ziel des Trainingsprogramms ist eine verbesserte Ausführung der basalen, mobilitätsbezogenen Aktivitäten „Aufstehen“ und „Sich Hinsetzen“ bei Pflegeheimbewohnerinnen mit mittelschwerer Demenz. Um das zu erreichen, sollen vor allem Kraftausdauer und Bewegungskoordination trainiert werden, ergänzt von kognitiver Aktivierung und Wahrnehmungsübungen.
Das fördert nicht nur die Aktivität der Teilnehmerinnen, welche von Antriebsarmut betroffen sind, sondern fördert auch das Zur-Ruhe-Kommen derjenigen, die sehr agitiert sind.
„Aufstehen“ und „Sich Hinsetzen“ sind zentrale Aspekte von körperlicher Mobilität. Wenn Pflegeheimbewohnerinnen dazu (wieder) in der Lage sind, gewinnen sie ein beträchtliches Stück Lebensqualität zurück. Das ermöglicht ihnen in ein größeres Maß an Selbständigkeit und Unabhängigkeit von der Unterstützung durch die Pflegekräfte. Für diese kann das eine wirksame Form der Entlastung bedeuten, deren Wert in Anbetracht von Zeiten überaus knapper personeller Ressourcen in der stationären Altenpflege nicht zu unterschätzen ist.
5. Organisation des Trainings
Der wichtigste Aspekt, damit ein Training für Bewohnerinnen von Pflegeheimen überhaupt stattfinden kann, ist die Bereitschaft der Leiter/innen der Einrichtung, dies zu unterstützen. Oft steht dem die Ansicht entgegen, ein körperliches Training würde Menschen mit Demenz überfordern oder es wird befürchtet, dass eine Verbesserung der Alltagskompetenz der Bewohnerinnen zu einer Verringerung der Pflegebedürftigkeit und damit der Einnahmen für die Einrichtung führt.
Wenn das Trainingsprogramm durch die Einrichtungsleitung unterstützt wird, ist eine Zusammenarbeit mit dem Sozialdienst/der Sozialen Betreuung im Haus wichtig. Diese Mitarbeiterinnen verfügen nicht nur über Erfahrungen im Umgang mit älteren Menschen mit Demenz sowie Kompetenzen in verschiedensten Formen der körperlichen wie der geistigen Aktivierung. Sie kennen meist jede Bewohnerin persönlich und planen die Gruppen- und Einzelaktivitäten in der Einrichtung entsprechend deren individuellen Bedürfnissen. Diese werden in der Regel in Zusammenarbeit mit den Pflegekräften mithilfe der AEDL regelmäßig in einem PC- oder manuellem System erfasst, dokumentiert und beständig angepasst. Mit Unterstützung der Mitarbeiterinnen können die Teilnehmerinnen für das Training ausgewählt werden und dieses in das Gesamtangebot der Einrichtung gut integriert werden.
5.1. Auswahl der Trainingsinhalte
In den vergangenen Jahren wurden in Deutschland im Rahmen von Interventionsstudien zwei Trainings- bzw. Bewegungsprogramme für ältere Menschen mit leichter bis mittelschwerer Demenz entwickelt:
- „Bewegung bei Demenz“ (Schwenk & Hauer, 2008) für Trainingsgruppen, beispielsweise in Vereinen des Behindertensports sowie für das Heimtraining. Hilfreiche Empfehlungen zu Organisation und Durchführung des Trainingsprogramms sind auf der Website www.bewegung-bei-demenz.de zu finden.
- „MOVE“ (Gangel et al., 2011) für ältere Menschen mit Demenz und deren Angehörige. Verschiedene Gedächtnisambulanzen, beispielsweise in Münster und Oldenburg, setzen dieses bei ihren Patienten ein. „MOVE“ ist eine Weiterentwicklung des Angebotes „fit für 100“ ("fit für 100 - Ein Bewegungsprogramm zur Förderung der Mobilität und Selbständigkeit für Hochaltrige," "o.J."). „Fit für 100“ richtet sich speziell an sehr alte Menschen und wurde für alle Bereiche der Altenhilfe konzipiert.
Für beide Programme existieren Übungsleiterausbildungen. Fit für 100 bietet darüber hinaus Beratung und Begleitung bei der Organisation der Trainingsgruppen sowie eine Zertifizierung an.
Zur Förderung basaler, mobilitätsbezogener Alltagskompetenzen bei älteren Menschen mit Demenz im Pflegeheim eignet sich das Programm „Psychomotorische Aktivierung im SimA®-P“ (Oswald & Ackermann, 2009) ebenfalls sehr gut.
Aus diesen Trainingsangeboten hat die Verfasserin Kraftausdauer-, Funktions- und Dual-Task-Übungen zur Verbesserung der Gangsicherheit und des Sitzen-Stehen-Sitzen-Transfers ausgewählt, teilweise modifiziert und diese in einem Trainingskonzept für die spezifische Zielgruppe zusammengestellt. Dabei wurden Empfehlungen aus den Programmen mit eigenen Erfahrungen aus der Berufspraxis abgeglichen. Wichtige Kriterien dabei waren:
- einfache Ausführbarkeit der Übungen
- wenige, einfache und leicht zu beschaffende Trainingsmaterialien
- das Auskommen mit einem einfachen, nicht aufwendig ausgestatteten, leicht zu erreichenden Raum
- die leichte Vermittelbarkeit der Übungsanleitung an Sozialdienst- bzw. ehrenamtliche Mitarbeiterinnen der Pflegeeinrichtungen
5.2. Finanzierung
In den Pflegeheimen, insbesondere in jenen, die über ambulante, stationäre und teilstationäre Bereiche verfügen, stehen üblicherweise sowohl entsprechend ausgestattete Räumlichkeiten als auch Materialien für ein Trainingsprogramm sowie personelle Ressourcen über den Sozialdienst zur Verfügung. Diese werden aus den Regeleinnahmen der Pflegeeinstufungen der Bewohnerinnen und über Mittel aus der zusätzlichen sozialen Betreuung für Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz (§ 87 b, SGB XI) finanziert. Die zusätzlichen Kosten für eine externe Trainingsleitung könnten über Letzteres gedeckt werden. Berücksichtigt werden sollte auch, dass das Trainingsprogramm nicht nur Kosten verursacht sondern auch verringert. Im Ergebnis der „fit für 100“-Interventionsstudie wurde hervorgehoben, dass „jährliche Personalkosten in Höhe von 3000,- € für eine Übungsgruppe sich bereits amortisieren, wenn … 12 stationär versorgte Teilnehmer … einen Monat länger in Pflegestufe I verbleiben als ohne Training“ (Brach et al., 2007, S. 44).
- Arbeit zitieren
- Katrin Plathner-Visser (Autor:in), 2013, Trainingsprogramm zur Förderung basaler, mobilitätsbezogener Alltagskompetenzen bei älteren Menschen mit Demenz im Pflegeheim, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/271038