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Hausarbeit (Hauptseminar), 2013
19 Seiten, Note: 13 Punkte
Inhalt
Einleitung
1. Klinische Sozialarbeit im Fachdiskurs
2. Das multiprofessionelle Handlungsfeld der Psychiatrie
2.1. Aufgabenbereiche von SozialpädagogInnen
3. Lebensweltorientierung nach Thiersch als originär sozialpädagogisches Konzept
3.1. Grundlagen lebensweltorientierten Handelns
3.2. Praxis lebensweltorientierter Sozialer Arbeit im Handlungsfeld der Psychiatrie
4. Fazit und Ausblick
5. Anhang
5.1. Literaturverzeichnis
„Die Psychiatrie ist keineswegs allein die Wissenschaft von der ärztlichen Behandlung seelischer Störungen“ (Clausen, Dresler, & Eichenbrenner 1997, Soziale Arbeit im Arbeitsfeld Psychiatrie, S.15), vielmehr sind psychische Krankheiten hinsichtlich ihres Doppelcharakters zu verstehen – als eine Form „gesellschaftlich stigmatisierter Abweichung von eingelebten alltäglichen Erwartungen und der vom psychisch kranken Menschen oft schmerzlich empfundenen Störungen seines Erlebens, Wahrnehmens, Denkens und Scheiterns seiner Bemühungen, vertrauten Kontakt zu anderen Menschen und zur Welt aufrechtzuerhalten.“ (von Kardorff 2005, S.1434) Anhand beider Zitate wird sehr schnell deutlich: das ärztlich-pflegerisch geprägte Gesundheitssystem gerät zunehmend an seine Grenzen. Auch der Bericht der Weltgesundheitsorganisation zur psychischen Gesundheit belegte anhand neuer wissenschaftlicher Forschungsergebnisse im Jahr 2001 sehr eindrücklich den engen Zusammenhang biologischer, psychischer und sozialer Prozesse und Strukturen in ihrer Bedeutung für die Gesundheit (vgl. WHO 2001). Vor diesem Hintergrund ist der aktuelle Fachdiskurs der Sozialen Arbeit zum Thema Psychiatrie zu verstehen, der mit seinem Plädoyer, mit der Klinischen Sozialarbeit eine neue Fachsozialarbeit zu entwickeln und zu systematisieren, dem Umstand Rechnung trägt, dass Sozialarbeit an der Behandlung von psychischen Krankheiten durch ihre Profession mitwirken kann und für eine „problemangemessene Behandlung immer bedeutsamer“ (Ansen 2011, S.796) wird. Kritiker der klinischen Sozialarbeit sehen dagegen in dieser Entwicklung einen Angriff auf die berufliche Identität, von der man sich letztlich nur erhoffe „mehr personale und gesellschaftliche Anerkennung zu finden als dies das ‚Grundständige‘ des Berufs biete“ (Crefeld 2002, S.24). Während der Auseinandersetzung mit diesem Diskurs kam die Frage auf, welchen theoretischen Beitrag die Sozialpädagogik im Arbeitsfeld der Psychiatrie tatsächlich leisten kann. Da es für den Umfang dieser Arbeit einer Eingrenzung bedarf, soll die Fragestellung auf ein Konzept heruntergebrochen werden. Im Rahmen mehrerer Seminare und auch in der eigenen praktischen Arbeit konnte das Konzept der Lebensweltorientierung nach Hans Thiersch kennengelernt werden, welches als „Votum gegen die Abstraktion und Generalisierung von Lebensverhältnissen“ (Thiersch et al. 2010, S.181) verstärkt das Interesse an einer differenzierteren Betrachtung geweckt hat. Demnach lautet die Fragestellung der vorliegenden Arbeit wie folgt: Welche Bedeutung hat das originär sozialpädagogische Konzept der Lebensweltorientierung nach Thiersch für das Handlungsfeld der Psychiatrie?
Um dieser Frage nachzugehen, soll im ersten Teil der Hausarbeit die (neuere) Fachdisziplin Klinische Sozialarbeit näher beleuchtet und in den Fachdiskurs eingebettet werden. Kapitel zwei stellt das Arbeitsfeld Psychiatrie in den Fokus und skizziert die Aufgabenbereiche von SozialpädagogInnen in diesem Handlungsfeld. Beiträge der Klinischen Sozialarbeit werden auch in diesem Zusammenhang thematisiert. Am Ende des zweiten Kapitels sollte deutlich geworden sein, welche Hilfestellungen den PatientInnen durch die pädagogische Arbeit erfahren und wo ebendiese Berufsgruppe im multiprofessionellen Team der Psychiatrie zu verorten ist. Kapitel drei wird sich mit dem originär sozialpädagogischen Konzept der Lebensweltorientierung beschäftigen. Nach der Darstellung theoretischer Grundlagen und Methoden lebensweltorientierten Handelns werden diese auf konkrete Arbeitsweisen und Hilfestellungen im Handlungsfeld der Psychiatrie übertragen. Ein abschließendes Fazit fasst in Kapitel vier Kernaspekte der Arbeit zusammen, um zu einer Beantwortung der Fragestellung zu gelangen. Offengebliebene Fragen und noch ausstehende Aufgaben und Überlegungen zum Thema werden in einem Ausblick aufgegriffen, um zum Weiterdenken und -handeln einzuladen.
Seit etwas Mitte der 1990er Jahre gehen insbesondere von der Deutschen Gesellschaft für Sozialarbeit Bemühungen aus, mit der Entwicklung einer sozialarbeitswissenschaftlichen und berufspraktischen Subdisziplin Klinische Sozialarbeit[1] eine Fachdisziplin zu entwickeln, die sich in den USA bereits in den 1970er Jahren als ‚clinical social work‘ etabliert hat. Klinische Sozialarbeit ist also als Teildisziplin der Sozialpädagogik[2] zu verstehen und bezieht sich auf Sozialarbeit im Gesundheitswesen. Modernisierungen und tiefgreifende Veränderungen der Gesellschaft bringen soziale und psychische Anforderungen mit sich, bedeuten für viele Menschen zunehmend Unsicherheit und Orientierungslosigkeit, die sich in vielfältigen, schwerwiegenden, nicht selten auch chronischen Gesundheitsproblemen niederschlagen. Eine Aufforderung, das professionelle Hilfesystem zu überdenken? „Die grundsätzliche Gesundheitsperspektive aller Sozialarbeit darf nicht den Blick dafür verstellen, dass in der beruflichen Praxis zunehmend seelisch stark gefährdete, chronisch kranke und mehrfach belastete Menschen den Schwerpunkt des Klientels bilden und spezialisierte psycho-soziale Behandlung benötigen.“ (Pauls 2004, S.11f.). Der gegenwärtige Fachdiskurs behandelt vor allem die Frage, ob eine solche Spezialisierung für SozialpädagogInnen notwendig ist oder ob Soziale Arbeit nicht genug psycho-soziale Kompetenzen besitzt, um sich als Profession im Gesundheitswesen (also auch in der Psychiatrie) behaupten zu können. Kritiker dieser Fachsozialarbeit befürchten, durch die Annäherung an die Heilberufe könnte der spezifische sozialpädagogische Blick auf soziale Kontexte und Lebenswelten der KlientInnen „zugunsten eines pathologisierenden, defizitorientierten Medizinerblicks verloren gehen“ (Crefeld 2002, S.24). Befürworter der Klinischen Sozialarbeit hingegen sehen in der beschriebenen gesellschaftlichen Entwicklung ihren Appell begründet, „die generalistische Soziale Arbeit durch qualifizierte sozialarbeiterische Kompetenzen einer gesundheitsspezifischen Fachsozialarbeit (zu) ergänzen“ (ebd. S.12), um den beschriebenen komplexen Problemlagen der KlientInnen gerecht werden und auf die spezifischen Anforderungen mit ausreichend theoretischem Wissen und methodischer Kompetenz reagieren zu können. ‚Klinisch‘ wird hier nicht im medizinisch-pathologischen Sinne verstanden, sondern impliziert eine personenbezogene Hilfe. Als zentrales Ziel der Klinischen Sozialarbeit gilt „die durch Krankheit oder Behinderung gefährdeten psychosoziale Funktionsfähigkeit von Individuen, Familien und kleinen Gruppen durch interaktive sowie unmittelbar personenzentrierte Arbeitsformen zu erhalten und zu fördern.“ (Ansen 2011, S.796) KlientInnen werden demnach in ihrer Lebenswelt und in Wechselwirkung zur Umwelt gesehen, soziale und psychische Aspekte von Gesundheit und Krankheit stehen im Mittelpunkt der fallbezogenen Arbeit (vgl. Geißler-Piltz, Mühlum, & Pauls 2005). Klinische Sozialarbeit findet – und das ist ein weiterer Beleg für die oft missverstandene Auslegung des Begriffs – nicht nur in stationären Einrichtungen wie Krankenhäusern oder Psychiatrien statt, sondern kommt auch in ambulanten Settings wie beispielsweise in Wohnheimen, beruflichen Rehabilitationszentren oder Beratungsstellen zum Einsatz (vgl. Pauls 2004). Unabhängig vom Einsatzbereich bleibt der Grundsatz Klinischer Sozialarbeit, Krise als Chance zu Neuorientierung zu nutzen und „Ratsuchenden dabei behilflich zu sein, die inneren und äußeren Bedingungszusammenhänge in ihrer Problematik zu verstehen, neue emotionale und kognitive Zusammenhänge sowie Verhaltensmöglichkeiten zu finden und zu erproben“ (ebd. S.16) – eine Herangehensweise, die insbesondere in der psychiatrischen Arbeit zentrale Bedeutung hat und im nachfolgenden Kapitel detaillierter thematisiert werden soll.
SozialpädagogInnen arbeiten im Handlungsfeld der Psychiatrie in einem multiprofessionellen Team beispielsweise unter Pflegefachkräften, ÄrztInnen, PsychologInnen, HeilpädagogInnen, BeschäftigungstherapeutInnen (vgl. Clausen, Dresler, & Eichenbrenner 2007, Soziale Arbeit im Arbeitsfeld Psychiatrie). Entsprechend der unterschiedlichen Professionen findet man in diesem Setting auch differenzierte Behandlungsgrundsätze und therapeutische Methoden, „die sich teilweise ergänzen und unterstützen, teilweise jedoch auch im Streit miteinander liegen“ (ebd. S.14). Von SozialpädagogInnen wird eine „sozialpsychiatrische Arbeitshaltung“ (Dörner/ Plog 1986 zit. nach von Kardorff 2005, S.1443) gefordert, welche nun näher erläutert werden soll.
In der Auseinandersetzung mit psychischer Krankheit bedarf es vor therapeutischen oder rehabilitativen Interventionen folgender Überlegungen[3] : Psychische Krankheit bedeutet auch eine Konfrontation mit einer anderen Seite oder Möglichkeit menschlicher Existenz. Menschen, deren Wahrnehmung, Erleben, Denken, Handeln, Fühlen ‚ver-rückt‘ ist, haben sich in Teilen seines Verhaltens nicht nur von sich selbst, sondern auch „aus dem Zentrum gesellschaftlicher Normalität“ (von Kardorff 2005, S.1434) entfernt. Dies mag die Angehörigen und das soziale Umfeld verstören und nicht zuletzt die alltägliche soziale Ordnung gefährden. Es zeigt sich, dass psychische Krankheit stets mit einer sozialen Seite konfrontiert ist; Betroffene werden nicht selten folgenreich etikettiert, ausgegrenzt, kontrolliert, deklassiert oder aber aufgrund tiefster Verunsicherung seitens der Umwelt überfürsorglich und entmündigend behandelt. Die Konfrontation mit psychisch kranken Menschen beinhaltet letztlich also auch eine kritische Auseinandersetzung mit Lebensverhältnissen und Lebensqualität der Betroffenen. Vor diesem Hintergrund müssen beispielsweise Fragen nach Wahrung der Menschenwürde, Zugänglichkeit und Nutzerorientiertung vorhandener Angebote, Formen akzeptierenden Umgangs seitens des Fachpersonals und gegebene Möglichkeiten zur Selbsthilfe (selbst)kritisch reflektiert werden.
Mit diesem Wissen um die Zusammenhänge und Auswirkungen psychischer Krankheit gilt es nun, den Betroffenen im psychiatrischen Setting als SozialpädagogIn mit jener sozialpsychiatrischen Arbeitshaltung gegenüberzutreten, die „Verstehen, Sympathie für und Interesse an psychisch kranken Menschen mit Toleranz gegenüber ver-rückter Lebensentwürfen verbindet“ (von Kardorff 2005, S.1443). Der sozialpädagogische, akzeptierende Umgang mit Betroffenen beweist sich im geduldigen Zuhören, im Versuch, vorgefundene Lebensweise zu verstehen und dahingehend mit KlientInnen zu arbeiten, ihre Selbstständigkeit zu fördern oder (wieder)herzustellen, um sie weitergehend am Prozess der Rehabilitation zu beteiligen. Die wesentlichen Aufgaben von Sozialpädagogen im Arbeitsfeld der Psychiatrie liegen daher in der psychosozialen Beratung, in Lebens- und Alltagstrainings und der Erschließung von Ressourcen. Psychische Erkrankung und daraus resultierende Probleme der KlientInnen werden von der Sozialpädagogik stets im Zusammenhang mit der sozialen Umwelt der Erkrankten gesehen und im Rahmen vorhandener Möglichkeiten und Wünschen der Betroffenen bearbeitet. Dementsprechend müssen sozialpädagogische Hilfen und das methodische Vorgehen „gemeinsam mit den Betroffenen und ggf. den Angehörigen abgestimmt“ (ebd.) und ausgehandelt werden. In der 1991 in Kraft getretenen Psychiatrie-Personalverordnung werden Aufgaben von SozialpädagogInnen detaillierter systematisiert und definiert. Diese Aufgabenbereiche können folgendermaßen zusammengefasst werden (vgl. Blanke 1996): Die Sozialpädagogische Grundversorgung als ein Aufgabenbereich beinhaltet das Mitwirken bei Sozialanamnese, psychosozialer Diagnostik und Therapieplanung ebenso wie die Unterstützung zur finanziellen Sicherung des Patienten. Gruppenbezogene Behandlung impliziert Gruppenangebote für PatientInnen, aber auch für deren Angehörige oder die Fachkräfte selbst (beispielsweise Organisation von Teamsitzungen). Die mittelbaren patientenbezogenen Aufgaben beziehen sich auf die verbindliche Teilnahme an verschiedenen internen Besprechungen und Terminen (z.B. Fachberatung oder Supervision) und die Kooperation mit anderen Institutionen im Sinne der KlientInnen.
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[1] Klinisch‘: aus dem Griechischen Kline (Lager, Bett). Der Bezug zur Behandlung von Kranken liegt in der krankheitsbedingten Bettlägerigkeit.. Anders als im Deutschen assoziiert, entspricht der Begriff in Wissenschaft und Heilkunde nicht zwangsläufig dem eines Krankenhauses. Vielmehr steht der Begriff ‚clinical‘ in direktem Bezug zur therapeutischen Behandlung von Personen, ungeachtet des Umstands, ob sie bettlägerig sind, in einem Krankenhaus behandelt oder ambulant unterstützt werden. „Alle Disziplinen, die an der Behandlung beteiligt sind, sind in dem Zusammenhang klinisch tätig.“ (Pauls 2004, S.12)
[2] Die Begriffe ‚Sozialpädagogik‘ und ‚Sozialarbeit‘ werden in der vorliegenden Arbeit synonym gebraucht.
[3] Die nachfolgenden Ausführungen beruhen auf Überlegungen nach von Kardorff (2005) und sind im Text kursiv hervorgehoben.