In wie fern sich Toleranzgedanken in den letzten 30 Jahren wandelten, möchte ich in folgenden Ausführungen näher betrachten, in dem ich mich auf Musik und all ihre Ausdrucksformen in Bosnien-Herzegowina und seinen Nachbarstaaten konzentriere. Denn in einem Land, was politisch eher von Außen zusammengehalten wird, kann man durch Medien, die die Bevölkerung konsumiert, wie zum Beispiel Musik, vermutlich mehr über die Menschen, die dort leben, aussagen, als durch sein politisches System, was diese Menschen nicht selber schufen.
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung. Musik als Kommunikationsmittel
1.1 Nationalhymne, Geschichte und Symbolik Bosnien-Herzegowinas
2. Hauptteil. Welche Musik hört man in Bosnien-Herzegowina? Was sagt sie aus?
2.1 Traditionelle bosnische Musik. Sevdalinka
2.2.0 Moderne bosnische Musik
2.2.1 Turbo-Folk. Rolle von Musik im Krieg
2.2.2 Gegenbewegung. Rockmusik
3. Schluss
4. Literaturverzeichnis und Internetquellen
Einleitung.
Vor kurzem las ich, man könne eine Nation eher durch das Hören ihrer Lieder verstehen, als durch das Erlernen ihrer Sprache. Diese Aussage interessierte mich. Natürlich sollte man, um die Lieder eines Landes auch wirklich zu verstehen, die Sprache in der sie gesungen werden übersetzen, da nicht nur die Melodie eines Liedes, sondern vor allem sein Text etwas aussagt. Musik ist ein Kommunikationsmittel, was im Laufe der Geschichte politisch, wie unpolitisch genutzt und missbraucht wurde. Es gab und gibt verbotene Musik, ob verboten wegen ihres Ursprungs, wie der Jazz von Afroamerikanern, welcher in Nazi-Deutschland als entartete Musik galt, oder verboten wegen ihres Inhalts, wie Musik, die sich gegen Ideologien und Staatssysteme, zum Beispiel in der DDR, richtete.
Der größere Teil der Musik widmet sich jedoch nicht politischen Aussagen, sondern der Unterhaltung und somit oft auch der Ablenkung von politischen Themen. Hierbei geht es um Musik als Ausdrucksform von einem bestimmten Lebensgefühl oder um Musik als reine Kunstform. Will man also eine bestimmte Nation kennen und verstehen lernen, kann man durchaus auf ihre Musikgeschichte schauen und die Texte und Melodien ihrer Lieder studieren. Man wird so erkennen, welche Meinungen und Lebenseinstellungen Mehrheiten und Minderheiten eines Landes vertreten und welche von staatlicher Seite erwünscht oder unerwünscht sind. Daraus kann man politische, wie gesellschaftliche Schlüsse ziehen. Musik ist also eine Quelle, will man den sozialen Diskurs in bestimmten Regionen erforschen.
Im folgenden Text möchte ich diesbezüglich untersuchen, was sich durch die Analyse der Musik in Bosnien-Herzegowina über den sozialen Diskurs seiner Bewohner herausfinden lässt. Sprich, was politisch diskutiert wird, was es für Ideale gibt und was Menschen bewegt. Um die historischen Voraussetzungen und Einflüsse auf die Musik zu verstehen, muss man sich kurz vergegenwärtigen, welche zentralen Geschehnisse es in der bosnischen Geschichte gab. Denn gerade durch diese komplexe Geschichte Bosnien-Herzegowinas und die damit einhergehende Vielfalt von Einflüssen, ist es nicht verwunderlich, dass auch seine Musikkultur weitgefächert ist. Die Römer nannten diese ihrem Reich damals zugehörige Region Dalmatien. Ungefähr um 600 nach Christus wurde dieses Gebiet von Slawen besiedelt und ab dem 15. Jahrhundert von Osmanen. Nach dem Berliner Kongress, Ende des 19. Jahrhunderts gingen die Gebiete an Österreich-Ungarn. Nach dem ersten Weltkrieg wurde Bosnien-Herzegowina Teil des Königreichs Jugoslawien. Bis 1941 erklärte man Bosnien-Herzegowina gemeinsam mit Kroatien zu einem faschistischen Vasallenstaat, namens Unabhängiger Staat Kroatien. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aus Bosnien-Herzegowina eine der sechs Teilrepubliken der kommunistischen Volksrepublik Jugoslawien. Nach einem Referendum erklärte Bosnien-Herzegowina im März 1992 seinen Austritt aus dem Staatenbund. Dies wurde im April darauf international anerkannt. Seit dem ist es eine eigenständige Republik. Es folgten drei Jahre Krieg zwischen Serben, Kroaten und Bosniern. Im Mai 1995 unterzeichnete man in Dayton, USA, einen Friedensvertrag, aus dem die heutige föderale Republik Bosnien-Herzegowina hervorging. Diese wurde in die Teilrepubliken Republika Srpska, Föderation Bosnien und Herzegowina und den Brčko Distrikt gegliedert. Die Föderation ist in zehn Kantone unterteilt, wovon drei mehrheitlich kroatisch, also katholisch, fünf mehrheitlich bosnisch, also muslimisch und zwei relativ ausgewogen gemischt sind. Die Republika Sprska ist mehrheitlich serbisch und damit orthodox. Alles in allem ist die Aufteilung und das politische System aus dem Haus der Völker, dem Abgeordneten Haus und dem Präsidium, mit einem bosnischem, einem serbischen und einem kroatischem Präsidenten, sehr kompliziert und komplex aufgebaut und wird auch in Bosnien-Herzegowina nicht immer ganz verstanden. Das Ambivalente ist, dass man durch dieses so stark auf die verschiedenen Ethnien konzentrierte System mittels Separierung Frieden schaffen will. Aber schürt man damit nicht gerade Zwietracht?
Wenn ich nun auf die Musik des Landes eingehe, möchte ich mich vor allem auf die Zeit seit den 1980er Jahren bis heute beschränken, nehme jedoch auch Bezug auf ältere, traditionelle Musik. Dieser kurze Abriss von Geschichte und politischer Situation heute sollte daher nur als thematischer Einstieg dienen.
Wenn man nach Musik, die ein Land heute repräsentiert, schaut, stößt man zu erst auf das Lied, was international zu öffentlichen Anlässen vorgetragen wird. Ein Lied, was eine Grundbotschaft nach innen und nach außen tragen soll, die Nationalhymne eines jeden Landes. Bosnien-Herzegowinas Nationalhymne zu Ende des Krieges (zwischen 1995 und 1999) hieß „Jedna si jedina“, was so viel bedeutet wie „ Die eine und einzige“. Der Text der Hymne stammt vom bosnischen Komponisten Edin Dervišhalidović und die Melodie von einem Volkslied namens „S one strane Plive“. Darin ist die Rede vom „tausendjährigen Land“ zwischen Meer und Save, zwischen Drina und Una. Dem einigen und einzigen Heimatland- Bosnien-Herzegowina, dem man die ewige Treue schwört und das Gott schützen möge für kommende Generationen. Diese ehemalige Hymne klingt ähnlich wie andere europäische Nationalhymnen kraftvoll und feierlich, sie ist in Dur geschrieben und hat einen fast marschartigen Rhythmus. Am 25. Juni 1999 wurde diese Hymne durch eine neue Nationalhymne, unter dem Arbeitstitel „Intermezzo“ ersetzt, da die vorherige die serbischen und kroatischen Gemeinden in Bosnien-Herzegowina ausschloss. Außerdem wurde die alte in Verbindung mit dem Krieg eingesetzt, von dieser Assoziation wollte man abkommen. Die Melodie wurde nun von Dušan Šestić komponiert. Anfänglich gab es keinen Text zu der neuen Hymne, doch im Februar 2009 wurde ein vom Komponisten und von Benjamin Isović verfasster Text von staatlicher Seite her anerkannt. Dieser Text besingt die landschaftliche Schönheit des Landes und die Berühmtheiten, die aus ihm hervor gingen. Es wird nicht von den zwei administrativen Entitäten gesungen, doch am Ende der Hymne heißt es: „Wir gehen gemeinsam in die Zukunft!“ Was eine positive Botschaft darstellt und das, was Bosnien-Herzegowina einmal für viele Menschen symbolisierte, wieder aufgreift. Nämlich, dass Bosnien-Herzegowina und im speziellen die Stadt Sarajevo, ein Symbol für das friedliche Leben miteinander darstellen. Über 500 Jahre lebten hier Moslems, katholische und orthodoxe Christen und Juden gemeinsam. Man tolerierte sich, ohne seine Eigenständigkeit aufzugeben. Dies wurde bereits am Beispiel Sarajevo versucht darzustellen. Gordan Godeć beschreibt den inneren Teil Sarajevos, die Čaršija als relativ neutrales Zentrum der Stadt, in dem alle Religionen miteinander Handel treiben und deshalb dort alle gleichwertig sind. Karahasan bezeichnet sie deswegen als offen. Die kreisförmig darum angeordneten Stadtteile, Mahalas genannt, sind dagegen separierter, also geschlossener. Man muss hier hinzufügen, dass zwar abzuzeichnen ist, in welchem Viertel mehr Juden, Christen oder Muslime leben, bzw. gelebt haben, es sich jedoch durchaus mischt und nicht ganz strikt trennbar ist. Karahasan vergleicht in seinem Tagebuch der Aussiedlung Sarajevo mit Jerusalem und Babylon, da auch in Sarajevo auf engem Raum die verschiedenen Religionen vertreten sind und es zu Sprachverwirrungen komme. Er sieht die bosnische Hauptstadt als pluralistisch, im Gegensatz zu monotheistischen, dialektisch idealistischen Kultursystem westlicher Städte. Schaut man auf Berlin oder andere große westeuropäische Städte, sieht man nicht auch dort eine Vielfalt von Religionen und Nationen die nebeneinander und miteinander leben? Doch hier ist dies nicht so historisch verankert wie in Sarajevo, wo es seit dem Mittelalter praktiziert wird und wo sich nicht so eindeutige Mehrheiten und Minderheiten abzeichnen lassen wie in Rom, Paris oder London. So stellte Karahasan die Frage, wie er an die Einheit und Ganzheit der Welt glauben solle, wenn diese sich nur noch in Jerusalem bestätige. Damit drückte er seine Angst zur Zeit der Belagerung Sarajevos durch die Serben aus. Seine Angst, vor dem Hass und der Zwietracht, die er damit kommen sah und die eben dieses Sarajevo, was er fast sehnsüchtig und liebend beschreibt, zu zerstören drohte. Seit dem 19. Jahrhundert wuchs ein Bewusstsein für die Zugehörigkeit zu verschiedenen Ethnien, zuvor unterschied man sich nur religiös. In wie fern sich Toleranzgedanken in den letzten 30 Jahren wandelten, möchte ich in folgenden Ausführungen näher betrachten, in dem ich mich auf Musik und all ihre Ausdrucksformen in Bosnien-Herzegowina und seinen Nachbarstaaten konzentriere. Denn in einem Land, was politisch eher von Außen zusammengehalten wird, kann man durch Medien, die die Bevölkerung konsumiert, wie zum Beispiel Musik, vermutlich mehr über die Menschen, die dort leben, aussagen, als durch sein politisches System, was diese Menschen nicht selber schufen.
Hauptteil
Die Musik Bosnien-Herzegowinas gehört grob gesehen erst einmal zur südosteuropäischen oder auch Balkan-Musik. Musik aus Serbien, Kroatien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und dem gesamten Balkan beeinflussten sich stets gegenseitig. Hinzu kamen Einflüsse byzantinischer Mittelalter-Musik, basierend auf musikalischen Modellen des alten Griechenlands. Dazu gehören griechisch orthodoxe Gesänge und die griechische Volkstanztradition, begleitet von Instrumenten wie der Lyra, der Klarinette, der Gitarre und der Geige. Weitere Einflüsse kamen durch die Osmanen. Diese brachten neue Instrumente in den Balkan, unter anderem die Zurna, eine traditionelle Oboe und die Darabuka, eine Doppelmembran-Trommel. Außerdem führten sie neue Melodieführungen und Rhythmen ein. Im 19. Jahrhundert imitierte man türkische Militärkapellen. Zuvor im Mittelalter gab es eine höfische Musiktradition, hierbei musizierte man vor allem mit Hörnern, Trompeten, Lauten, Psalter, Trommeln und Zimbeln, und eher ländliche traditionelle Musik, wo auch Instrumente wie der Dudelsack, Trommeln, Holsblasinstrumente, wie Zurna und Okarina und Saiteninstrumente, wie Ud und Lyra, sowie die Gusle verwendet wurden. Schaut man nun einmal auf die heute gespielte traditionelle Musik in Bosnien-Herzegowina findet man zu aller erst die Sevdalinka, ein bosnisches Liedgut und eine bosnische Kulturtradition besonderer Art. Sehr bekannt wurde sie in den letzten Jahren durch die international erfolgreiche Band „Mostar Sevdah Reunion“. Aleksander Hemon nennt sie in seinem Roman „Nowhere Man“ den „bosnischen Blues“. Dies ist passend, da es sich hierbei um meist sehr melancholische Lieder handelt. Die Bezeichnung Sevdalinka kommt vom Begriff „sevdah“, was im Türkischen Liebe und im Arabischen auch schwarze Galle bedeutet. Die schwarze Galle war für arabische und griechische Ärzte das vierte Element, was den Körper formt, durch Liebesleid.
Die Sevdalinka, ursprünglich eine städtische Liebeslyrik, entstand während der osmanischen Herrschaft, im Milieu besser abgesicherter Händler und Handwerker, welches vor allem islamisch war. So werden Sevdalinke vorwiegend als Ausdruck muslimischer Lebensweise und Kultur gesehen. Trotzdem sind sie historisch betrachtet auch Teil ethnischer und kultureller Identität serbischer und kroatischer Bosnier. Neben deutlichen osmanischen, vor allem türkischen Einflüssen findet man in ihr auch Merkmale der Musik der Roma und Sinti. So wird teilweise die umgangssprachlich als „Zigeunertonleiter“ bezeichnete Skala mit zwei übermäßigen Sekundenschritten, in der Sevdalinka benutzt. Es wird auf ruhige, schwermütige Weise über Liebesleid, unerfüllte Leidenschaft zu einer Person, aber auch zu einer Stadt oder Region, gesungen. Es heißt, ihre Entstehung hänge auch mit der Ankunft der Sephardim, der spanischen Juden, im 16. Jahrhundert zusammen, da Elemente der Sevdalinka an mittelalterliche spanische Volksmusik und Fado erinnern. Anfänglich wurden Sevdalinke nur im kleineren Kreis aufgeführt, dass heißt in Häusern wohlhabender muslimischer Familien. Später wurden sie nicht mehr nur in privilegierten Haushalten vorgetragen und es entwickelte sich daraus eine populäre Musikform, die von Vertretern aller Schichten geschätzt wurde; vom wohlhabenden Landbesitzer „beg andaga“ bis hin zum einfachen Bürger „raja“. Mit der Okkupation Österreich-Ungarns wurde das Akkordeon verstärkt in der Sevdalinka eingesetzt. Zuvor nutzte man vor allem das arabische Saz und auch die Geige, das Tamburin und die Gitarre. Heute ist die Sevdalinka vor allem bei der älteren Bevölkerung Bosniens beliebt, wird aber auch in Serbien, Montenegro und Kroatien gehört. Im ehemaligen Jugoslawien gab es sowohl in Sarajevo, als auch in Zagreb und Belgrad Sevdalinka- Archive. Ursprünglich wurden Sevdalinke nur mündlich weitergegeben, inzwischen hat sich dies geändert. Die Autoren der Sevdalinke waren häufig anonym oder unbekannt, manche stammen aber auch von berühmten bosnischen Dichtern, wie Aleksa Santić, Safvet Beg Basagić und Osman Dikić. Zu berühmten musikalischen Vertretern gehören Safet Isović, Meho Puzić, Silvana Armenulić, Nada Mamula und Zaim Imamović. Auch die beiden Musik-Legenden Šaban Bajramović und Ljiljana Buttler sangen Sevdalinke. Die Blütezeit der Sevdalinka ging bis zum zweiten Weltkrieg. Heute gibt es um die 4000 Sevdalinke, wobei ein Großteil im 19. und 20. Jahrhundert durch Kriege zerstört wurde. Moderne Sevdalinka-Interpretationen weichen durch verschiedene Einflüsse (zum Beispiel Weltmusik) von ihrer ursprünglichen Form ab. In ihrer traditionellen Form findet man sie fast nur noch in Museen. Verschiedene Organisationen kümmern sich um den Erhalt dieses kulturellen Erbes, so zum Beispiel das Internet-Projekt „World of sevdah“, was seit 2009 läuft und von dem Akkordeonist, Sänger und Pianist Mirza Bašić geleitet wird. Für viele Hörer stellt die Sevdalinka Tradition eine ruhige, emotionale und in die Vergangenheit gewandte Musikform dar. Hierbei wird vermutlich auch romantisiert, da Autoren des „World of sevdah“ Projekts schreiben, sie rufe in unserer Epoche des technologischen Fortschritts nach alten Zeiten, in denen man einfacher lebte und mehr liebte. Es geht hierbei also auch um einen rückwärtsgewandten, eventuell konservativen und melancholischen Blick auf das Leben und die heutige Gesellschaft. Dies lässt vermuten, dass Krieg, soziale Spannungen und wirtschaftliche Schwäche Bosnien-Herzegowinas dazu beitrugen, dass einige Bosnier die Vergangenheit beschönigen und aufwerten, als Kompensation der komplizierten und abgelehnten gegenwärtigen Lebenssituation. Man sagt Sevdah sei nicht nur Musik, sondern ein Lebensgefühl, wahrscheinlich ist eben diese nach Innen und ins Früher gewandte Melancholie damit gemeint. Durch den wachsenden Einsatz des Akkordeons und Einflüsse serbischer Musik, gibt es inzwischen aber auch fröhlichere Kompositionen mit tänzerischem Charakter, die Elemente des serbischen Kolo Tanzes aufgreifen. Inzwischen reichen moderne Variationen bis hin zum Jazz, Heavy Metal, Techno und Turbofolk. Auf letzteren werde ich später noch genau eingehen. Diese Nutzung kulturellen Erbes wird von einigen Seiten stark kritisiert, da derartige Stilmixe nichts mehr mit der ursprünglichen Idee der Sevdah zu tun haben. Ein Leser der Internetseite „World of sevdah“ kommentiert dies damit, dass die Balkanländer Gefahr laufen würden, von Turbo-Folk verschluckt zu werden und dass die Besucher des Balkans keine Traditionen mehr kennen lernen würden. Es herrscht vielerorts also eine Angst vor Verlust von Tradition durch deren Verdrängung mittels populärer Musik wie dem Turbo-Folk. Miljenko Jergović schrieb zu Sevdalinka: „Hört euch diese Lieder an, im Frieden eurer eigenen Seele, ohne euch zu fragen wo sie her kommen und zu wem sie eigentlich gehören. Denn sie gehören uns allen, die wir sie heute weltweit hören und singen leise für unsere eigenen Seelen.“ So betont er die stille Innerlichkeit der Sevdalinka, die schwermütig und Trost suchend gesungen wird, um Leid zu verarbeiten und dies nicht nur in Bosnien-Herzegowina, sondern weltweit. So bildet die Tradition der Sevdalinka den Mittelpunkt der bosnischen Musikkultur und spiegelt ein Lebensgefühl wider, was in der bosnischen Kultur wie ein zentrales Motiv immer wieder auftaucht.
Neben dieser Form der traditionellen bosnischen Musik gibt es weitere Formen, so zum Beispiel die Ravne Pjesme, was so viel heißt wie flache Lieder und die poliphonen Ganga Gesänge. Letztere ist eine vor allem im ländlichen Raum Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas praktizierte Gesangsform. Dabei werden teilweise alte slawische Weisen und Gedichte von Instrumenten wie dem Dudelsack, der Holzflöte, der Sargija und der Gusle begleitet. Diese im Englischen als bosnische „roots music“ bezeichnete, ursprüngliche Musikform stammt aus Zentral-Bosnien, der Posavina, dem Drina Tal und Kalešija. Seit dem ersten Weltkrieg wird sie von Sängern, zwei Geigern und einem Sargija Spieler performt und wurde in dieser Form in den 60ern sehr beliebt. Nach der Sevdalinka und der Ilahija ist sie die dritt älteste Musikform in Bosnien-Herzegowina. Sie wurde nur mündlich tradiert und nie in Noten aufgeschrieben. Vermutlich haben sie Perser nach Bosnien gebracht und dort wurde sie dann von Bosniern, Serben und Kroaten praktiziert. Auch die jüdische Musik hat die Ganga Lieder beeinflusst. Jedes Jahr findet einmal ein „roots music“ Festival in Kalešija statt. Gangas werden von Männern und Frauen gesungen, jedoch immer in getrennten Gruppen. Ein Hauptsänger singt eine Zeile, dann stimmen die anderen mit ein. Sie werden vornehmlich in kleinen Ortschaften gesungen. Es handelt sich um eine sehr leidenschaftliche Gesangsform. Kürzlich wurden Gangas in Verbindung mit politischen Inhalten gesetzt, vor allem mit nationalistischen Unabhängigkeitsstreben der Kroaten. Früher wurden Ganga Lieder häufiger von Bosniern und Kroaten gemeinsam gesungen. Zum Erhalt dieser Tradition gab es ein Projekt namens "Grudsko pivanje", in dem an Hand einer Doppel CD ein Überblick über Gangas aus der Gemeinde Grudsko festgehalten wurde. Es heißt, dass außerhalb des Standards westeuropäischer Tradition, Ganga von Nicht-Experten als roh und primitiv wahrgenommen wird. Musikwissenschaftler, loben sie jedoch, wegen ihrer harmonischen Polyphonie. Heute findet man Elemente des Ganga auch in moderner Musik in Verbindung mit zeitgenössischen Rhythmen. Ganga drückt eine Mentalität des ländlichen Raums aus, in dem traditionelle Werte zählen. Es wird ähnlich wie bei der Sevdalinka gesagt, das Ganga einenin die Heimat zurückkehren lasse. Jedoch handelt es sich nicht um melancholische Lieder, sondern um kraftvolle, hoffnungsvolle und klangvolle Gesänge.
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