„Es fehlt uns noch ein großer Berliner Roman, der die Gesamtheit unseres Lebens schildert, etwa wie Thackeray in dem besten seiner Romane, „Vanity Fair“, in einer alle Klassen umfassenden Weise das Londoner Leben geschildert hat.“
T. Fontane
Ob diese Lücke durch Wladimir Kaminers mit „Russendisko“ in Gänze geschlossen wurde, lässt sich bezweifeln, zumal es sich bei dem im Jahre 2000 erschienen Werk eher um einen Erzählband, als um einen Roman handelt. In einem Punkt gelingt es ihm jedoch: in der Beschreibung des Alltags eines Neuberliners, der zu Beginn der 1990er Jahre auf eine sich transformierende Stadt trifft, selbst gedanklich zwischen der sowjetischen und der neuen Heimat hängt und das multikulturelle Berlin genauestens beobachtet; getreu seinem Motto „Nie etwas ausdenken, sondern dem Leben vertrauen.“.
In der vorliegenden Hausarbeit beschäftige ich mich mit der Frage, in wie fern die Schauplätze zur Charakterisierung der Handlung beitragen. Warum sie gewählt wurden, um welche es sich handelt und wo sie sich befinden. Die Betrachtung räumlicher Strukturen als Teilmenge gesellschaftlicher Strukturen ist für mich persönlich ein interessantes Forschungsgebiet. Denn, wie schon Winston Churchill bemerkte: „ „We give shape to our buildings, and they, in turn, shape us “.
Nach mehrmaliger, ausführlicher Lektüre des Erzählbandes und Ausarbeitung der dort genannten Orte betrachtete ich deren Lage zunächst auf der Karte Berlins, wodurch sich ein deutlicher Kristallationspunkt erkennen ließ - zur optischen Erläuterung habe ich beide Karten als Anhang hinzugefügt. Daraufhin ordnete ich sie nach ihrer Gewichtung für die Handlung an und befasste mich mit den, meiner Meinung nach, vier wichtigsten intensiver. Somit konnte ich zunächst die einzelnen Etappen der Ankunft in Berlin herausarbeiten und die Symbolik, welche die Orte inne haben.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Autor
3. Inhalt
4. Orte
4.1 Nebenschauplätze
4.2 Hauptschauplätze
4.2.1 Lichtenberg
4.2.2 Marzahn
4.2.3 Mitte
4.2.4 Prenzlauer Berg
5. Schluss
6. Bibliographie
7. Anhang
1. Einleitung
„Es fehlt uns noch ein großer Berliner Roman, der die Gesamtheit unseres Lebens schildert, etwa wie Thackeray in dem besten seiner Romane, „Vanity Fair“, in einer alle Klassen umfassenden Weise das Londoner Leben geschildert hat.“[1]
T. Fontane
Ob diese Lücke durch Wladimir Kaminers mit „Russendisko“ in Gänze geschlossen wurde, lässt sich bezweifeln, zumal es sich bei dem im Jahre 2000 erschienen Werk eher um einen Erzählband, als um einen Roman handelt. In einem Punkt gelingt es ihm jedoch: in der Beschreibung des Alltags eines Neuberliners, der zu Beginn der 1990er Jahre auf eine sich transformierende Stadt trifft, selbst gedanklich zwischen der sowjetischen und der neuen Heimat hängt und das multikulturelle Berlin genauestens beobachtet; getreu seinem Motto „Nie etwas ausdenken, sondern dem Leben vertrauen.“[2].
In der vorliegenden Hausarbeit beschäftige ich mich mit der Frage, in wie fern die Schauplätze zur Charakterisierung der Handlung beitragen. Warum sie gewählt wurden, um welche es sich handelt und wo sie sich befinden. Die Betrachtung räumlicher Strukturen als Teilmenge gesellschaftlicher Strukturen ist für mich persönlich ein interessantes Forschungsgebiet. Denn, wie schon Winston Churchill bemerkte: „ „We give shape to our buildings, and they, in turn, shape us “[3]. Nach mehrmaliger, ausführlicher Lektüre des Erzählbandes und Ausarbeitung der dort genannten Orte betrachtete ich deren Lage zunächst auf der Karte Berlins, wodurch sich ein deutlicher Kristallationspunkt erkennen ließ - zur optischen Erläuterung habe ich beide Karten als Anhang hinzugefügt. Daraufhin ordnete ich sie nach ihrer Gewichtung für die Handlung an und befasste mich mit den, meiner Meinung nach, vier wichtigsten intensiver. Somit konnte ich zunächst die einzelnen Etappen der Ankunft in Berlin herausarbeiten und die Symbolik, welche die Orte inne haben.
In meiner Hausarbeit werde ich zunächst kurz auf Autor und das hier behandelte Werk eingehen. Im Anschluss daran fasse ich den Inhalt bündig zusammen um dann zur Hauptaufgabe zu kommen: der Analyse der einzelnen Schauplätze und deren Charakterisierung. Je nach Wichtigkeit wird diese mehr oder weniger umfangreich ausfallen.
2. Autor
Wladimir Kaminer, geb. 1967 in Moskau, ist ein deutsch-russischer Schriftsteller. Mit 14 brach er die Schule ab und absolvierte eine Ausbildung als Toningenieur für Theater und Rundfunk. Im Anschluss an den Militärdienst studierte er Dramaturgie am Moskauer Theaterinstitut. Im Juli 199o kam K. als jüdischer Kontingentflüchtling nach Ost-Berlin, wo er bald und kurz vor dem Ende der DDR die deutsche Staatsangehörigkeit erhielt. Ab Anfang 2ooo organisierte er im "Kaffee Burger" die wegen ihrer guten Stimmung berühmt gewordene "Russendisko" mit der ganzen Palette osteuropäischer Musik von Balalaika-Rock, bis Gypsy Punk und Klezmer Ska.
Seine ersten literarischen Versuche machte Kaminer auf Russisch. 1998 begann er deutsch zu schreiben und hatte damit durchschlagenden Erfolg auf den Berliner Lesebühnen. Sein erster Erzählband erschien 2ooo - benannt nach seiner Partyreihe - unter dem Titel "Russendisko". 2o12 kam sein 19. Werk, „Onkel Wanja kommt. Eine Reise durch die Nacht.“, heraus. Er tourt regelmäßig mit seinen Büchern und der Partyreihe durch Deutschland und lebt mit seiner Frau Olga und den beiden gemeinsamen Kindern im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg.[4].
3. Inhalt
In seinem Erzählband „Russendisko“ hält der Autor in 5o zusammenhängenden Kurzgeschichten seine Stadterfahrungen in Berlin zu Beginn der 199oer Jahre fest. Er erzählt von sich, seiner Familie und seinen Eindrücken Berlins. Die Kapitel tragen kuriose Überschriften wie "Das Mädchen mit der Maus im Kopf", "Russischer Telefonsex" oder "Warum ich immer noch keinen Antrag auf Einbürgerung gestellt habe". Mit sehr viel Liebe zum Detail beschreibt Kaminer den Alltag seiner Mitmenschen, in schnörkelloser Sprache und mit hintergründigem Witz schildert er Episoden aus dem russischen Emigrantenmilieu, fokussiert sich aber nicht ausschließlich darauf, sondern stellt Berlin als multikulturellen Ort dar.[5].
4. Orte
Die Episoden in Kaminers „Russendisko“ sind in den meisten Fällen eng mit Handlungsorten verknüpft. Allen voran Berlin, aber auch in Erinnerungen seine Heimatstadt Moskau, die Insel Sachalin, die Heimat seiner Frau, und Grosnij, in der sie eine Zeit lang lebte. Aufgrund des Themas fokussiere ich mich in meiner Analyse auf die Berliner Orte. Zu beachten ist hierbei seine unterschiedliche Aufteilung: teilweise belässt er es bei einer Nennung der Stadtteile, teils geht er ins Detail durch genaue Nennung der Straßennamen. Zu den Absichten dahinter möchte ich später kommen.
Insgesamt kommen im Erzählband zehn Berliner Stadtteile vor. In chronologischer Reihenfolge sind dies: Lichtenberg, Marienfelde, Mitte, Marzahn, Biesdorf, Prenzlauer Berg, Spandau, Wilmersdorf, Wedding & Friedrichshain [6]. In ihrer Bedeutung für die Geschichten sind all diese Orte unterschiedlich gewichtet. Spielen einige lediglich nebengeordnete Rollen, stehen andere wiederum symbolisch für die Menschen, die dort wohnen, für Ansichten und Meinungen. Alle im Buch genannten Orte existieren auch in der Realität [7]. Aus den genannten zehn Berliner Handlungsorten habe ich die für mich vier wichtigsten ausgewählt und werde auf diese im Folgenden genauer eingehen. Diese wären Lichtenberg, Marzahn, Mitte & Prenzlauer Berg. Die restlichen sechs Orte habe ich als Nebenschauplätze eingeordnet, die ich zuvor lediglich kurz behandeln möchte.
Bevor ich mit den Analysen beginne, noch ein kurzer Exkurs zu Orten bzw. Räumen als Symbol:
„In der Anthropologie gilt der symbolische Raum als materieller Bedeutungsträger, der auf die Werte einer Gruppe hinweist. Ein physisches Element, in dem die Gruppe ihre Werte darstellt und gleichzeitig Verkörperung dieser Werte ist. Der symbolische Raum stellt die Übersetzung des sozialen Systems ins Räumliche dar.“[8]
4.1 Nebenschauplätze
In der Reihenfolge ihres Auftretens sind dies:
Marienfelde„Aufgrund der Geburtsurkunde, in der schwarz auf weiß stand, dass unsere beiden Eltern Juden sind, bekamen wir eine Bescheinigung in einer extra dafür eingerichteten Westberliner Geschäftsstelle in Marienfelde.“[9] lautet die einzige Erwähnung dieses Stadtteils, eine Durchgangsstation nach der Ankunft in Lichterfelde auf dem Weg nach Marzahn. Wie auf der Karte ersichtlich, liegt es abseits von den restlichen Orten. Historisch interessant, allerdings nicht direkt in Verbindung mit Kaminer, höchstens in seiner Rolle als Flüchtling, ist das dort von 1949 bis 199o existierende Notaufnahmelager Marienfelde für Flüchtlinge aus der DDR, das heute das Museum „Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde“ beherbergt.[10]
Biesdorf„Ich bin damals mit den Zigeunern mitgefahren, und landete so in Biesdorf, wo sie in einer ehemaligen Kaserne der ostdeutschen Armee lebten, die in eine Unterkunft des gesamtdeutschen Roten Kreuzes umgewandelt worden war.“[11]. Dieser Ort zählt ebenfalls zu den Durchgangsstationen des frisch in Berlin eingetroffenen Kaminers. Wenngleich ihn die Vergnügungen der Sinti & Roma zunächst amüsieren, will er bald von dort weg „Nach zwei Wochen hatte ich das Zigeunerleben satt.“[12]. Interessant ist Bliesdorf im Hinblick auf die jüngere Geschichte, als Teil des Bezirks Marzahn, auf den ich später noch zu sprechen komme. Hier wurde im Jahre 1936 ein Arbeitslager für Zigeuner errichtet, der sog. „Zigeunerrastplatz Marzahn“[13]. In diesem Zusammenhang bekommt der Satz „Die Zigeuner fühlten sich hinter dem Stacheldraht der Kaserne sehr wohl.“[14] einen faden Beigeschmack. Ob dieser historische Aspekt Kaminer bekannt war, konnte ich jedoch nicht herausfinden.
[...]
[1] Fontane, Theodor: Werke, Schriften und Briefe. Hrsg. v. W. Keitel & H. Nürnberger. Abt. III., Bd. 1. München 1962 ff. S. 568.
[2] Kaminer, Wladimir: Russendisko. München 2000. S. 2.
[3] Richter, Peter: Architekturpsychologie: Hrsg. v. Peter G. Richter. Lengerich, 2oo9. S. 24.
[4] www.munzinger.de
[5] Vgl. ebd.
[6] Siehe hierzu Anhang Karte 1.
[7] Einzige Ausnahme bildet die im Buch genannte „Dimitrowstraße“, allerdings gehe ich davon aus, dass damit dieDimitroffstraßeim Bezirk Prenzlauer Berg gemeint ist und es sich lediglich um einen Schreibfehler handelt. Kaminer, S. 134.
[8] Nach Fischer, G.: Psychologie des Arbeitsraumes. Frankfurt, New York, 199o.
[9] Kaminer, S.12.
[10] www.notaufnahmelager-berlin.de
[11] Kaminer, S.25.
[12] Ebd. S.26.
[13] Brucker-Boroujerdi, Ute, Wippermann, Wolfgang:Das ,Zigeunerlager' in Berlin-Marzahn.In:Pogrom – Zeitschrift für bedrohte Völker.Göttingen, 1987. S. 77–80.
[14] Kaminer S. 25.