Bildung ist eine wesentliche Grundlage für die Teilhabe an einer Kultur und an der Gesellschaft, die die Kultur formt. Auf den hohen Stellenwert der Bildung in ihrer eigenen Kultur führen die Esten den Fortbestand ihrer Gesellschaft bis in die Gegenwart zurück. Das estnische Institut erklärt beispielsweise: Das Überleben ihrer kleinen Nation sei dank der tiefgreifenden Verankerung des Bildungsbewusstseins in der Gesellschaft möglich gewesen. Bildung stellte das Wissen bereit sich gegenüber großen Staaten, die Estland mehrfach einnahmen, anzupassen und Strategien zu finden, um sich gegen die Fremdherrscher zu behaupten.
Während der Zeit der Sowjetunion erkämpfte sich Estland mehr Freiheit bei der Entwicklung eigener Curricula besonders für naturwissenschaftliche, sprachliche und musische Sonderklassen, um sich von der russischen Einheitsbildung abzugrenzen.
Das Programm „Learning Estonia“ war 1997 die herausragende Wegmarke auf dem selbsterklärten Weg hin zum Ziel „Wissens- und Informationsgesellschaft“. Zwei Erklärungen halte ich hierbei für entscheidend. Zum einen: „Education […] is the main source of our future and well-being, and as such must it be raised to become the focus of society’s care and attention . It is possible to built Estonia as a knowledge centred society.“ Bildung wird folglich als Aufgabe der Gesellschaft verstanden und muss, sollte sie tatsächlich auf das Wohl aller abzielen, konsequent auch allen zugänglich gemacht werden. Der zweite Punkt knüpft daran an: „Educational conditions in Estonia reveal increasingly worrying tendencies […]. The solution to the sensitive areas in education lies in the following key words: effectiveness, adequacy, quality and justice.“ Als solche besorgniserregenden Entwicklungen verstehe ich die sprachliche Zweiteilung des Bildungssystems, die Etablierung von Eliten und vor allem die Verschärfung von Stadt-Land-Disparitäten im Bildungsbereich. Auf alle drei Problemfelder möchte ich im Verlauf meiner Arbeit eingehen und die zuvor erarbeiteten Strukturen und Besonderheiten des estnischen Bildungssystems mit den im folgenden Kapitel dargestellten demografischen, strukturräumlichen und soziostrukturellen Prozessen in Verbindung setzen.
Inhalt
1 Bedeutung der Bildung für Estland
2 Demografische, strukturräumliche und soziostrukturelle Entwicklung
2.1 Ein kleiner Staat
2.2 Die demografische Entwicklung
2.3 Die strukturräumliche Entwicklung
2.4 Soziostrukturelle Entwicklung
2.4.1 Einkommensverhältnisse
2.4.2 Ethnische Struktur
3 Das estnische Bildungssystem.
3.1 Die Geschichte- breite Volksbildung und nationalsprachliches Prinzip
3.2 Die Struktur
4 Auswirkungen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse auf die allgemeinbildenden Schulen
4.1 Die russische Minderheit im Schulsystem
4.2 Stadt-Land-Disparitäten
4.3 Informelle Gymnasien oder Eliteschulen
5 Ausblick
6 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
7 Quellen
1 Bedeutung der Bildung für Estland
Bildung ist eine wesentliche Grundlage für die Teilhabe an einer Kultur und an der Gesellschaft, die die Kultur formt. Auf den hohen Stellenwert der Bildung in ihrer eigenen Kultur führen die Esten den Fortbestand ihrer Gesellschaft bis in die Gegenwart zurück. Das estnische Institut erklärt beispielsweise: Das Überleben ihrer kleinen Nation sei dank der tiefgreifenden Verankerung des Bildungsbewusstseins in der Gesellschaft möglich gewesen. Bildung stellte das Wissen bereit sich gegenüber großen Staaten, die Estland mehrfach einnahmen, anzupassen und Strategien zu finden, um sich gegen die Fremdherrscher zu behaupten.[1]
Während der Zeit der Sowjetunion erkämpfte sich Estland mehr Freiheit bei der Entwicklung eigener Curricula besonders für naturwissenschaftliche, sprachliche und musische Sonderklassen, um sich von der russischen Einheitsbildung abzugrenzen.
Das Programm „Learning Estonia“ war 1997 die herausragende Wegmarke auf dem selbsterklärten Weg hin zum Ziel „Wissens- und Informationsgesellschaft“. Zwei Erklärungen halte ich hierbei für entscheidend. Zum einen: „Education […] is the main source of our future and well-being, and as such must it be raised to become the focus of society’s care and attention . It is possible to built Estonia as a knowledge centred society.“[2] Bildung wird folglich als Aufgabe der Gesellschaft verstanden und muss, sollte sie tatsächlich auf das Wohl aller abzielen, konsequent auch allen zugänglich gemacht werden. Der zweite Punkt knüpft daran an: „Educational conditions in Estonia reveal increasingly worrying tendencies […]. The solution to the sensitive areas in education lies in the following key words: effectiveness, adequacy, quality and justice.“[3] Als solche besorgniserregenden Entwicklungen verstehe ich die sprachliche Zweiteilung des Bildungssystems, die Etablierung von Eliten und vor allem die Verschärfung von Stadt-Land-Disparitäten im Bildungsbereich. Auf alle drei Problemfelder möchte ich im Verlauf meiner Arbeit eingehen und die zuvor erarbeiteten Strukturen und Besonderheiten des estnischen Bildungssystems mit den im folgenden Kapitel dargestellten demografischen, strukturräumlichen und soziostrukturellen Prozessen in Verbindung setzen.
2 Demografische, strukturräumliche und soziostrukturelle Entwicklung
Mit der Unabhängigkeitserklärung im Jahre 1991 vollzogen sich in der Republik Estland in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens einschneidende Veränderungen. Die nach 1918 zum zweiten Mal erlangte Selbstständigkeit verlangte der estnischen Regierung grundlegende politische Entscheidungen ab (z.B. über die Struktur des Bildungswesens) und stellte sie von Beginn an vor eine Vielzahl gesellschaftlicher Wandlungsprozesse und daraus resultierenden Herausforderungen. Im nachfolgenden Abschnitt möchte ich daher die wesentlichen Entwicklungstendenzen und deren Konsequenzen für die estnische Gesellschaft kurz beschreiben. Sofern nicht anders gekennzeichnet, beziehe ich mich dabei auf das online bereitgestellte Datenmaterial der „Statistics Estonia“ von 2010.
2.1 Ein kleiner Staat
Einige Basisdaten sind an dieser Stelle zu erwähnen, da sie bei der Zusammenführung der Erkenntnisse zur gesellschaftlichen Entwicklung und zum Bildungssystem in Kapitel 4 von Relevanz sein werden.
Estland ist ein sehr kleiner Staat. Die Landesfläche erstreckt sich über 45.227 km²[4] und entspricht damit ungefähr der Größe Niedersachsens. Mit einer Bevölkerungszahl von 1.340.127 Einwohnern[5] ist der Staat noch dünner besiedelt als Mecklenburg-Vorpommern.
Die Bedeutung des Dienstleistungssektors mit einem Anteil von 67% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) übertrifft die des industriellen Sektors mit 28% am BIP und des primären Sektors mit 5% Anteil deutlich[6]. Die Transformation von der zuvor agrarisch und industriell geprägten hin zur Dienstleistungsgesellschaft vollzog sich in Estland innerhalb von zwei Jahrzehnten, nachdem Estland 1991 seine Unabhängigkeit erlangt hatte.
2.2 Die demografische Entwicklung
Nachdem die Bevölkerungszahlen im Jahre 1990 ihren Höhepunkt erreichten, nahmen sie laut Statistischem Amt Estlands bis ins Jahr 2010 (mit Ausnahme des Jahres 2003)konsequent ab. Vergleicht man den Zeitraum von zwanzig Jahren, so leben in Estland mit 1,34 Mio. Einwohnern im Jahr 2010 über 230.000 Menschen weniger als 1990. Die Bevölkerung schrumpfte in diesem Zeitraum somit um 14,8%.
Eine Erklärung ist in der ursprünglich russischstämmige Bevölkerung zu suchen, die nach Russland zurückkehrte. Außerdem siedeln sich kaum noch Russen aus wirtschaftlich schlecht entwickelten Regionen ihres eigenen Landes in Estland an, wie es vor 1991 noch der Fall war.
Als weitere Ursache muss die sinkende Geburtenzahl betrachtet werden. Ähnlich wie in Deutschland bringt eine estnische Frau im Jahr 2008 nur 1,5 Kinder zur Welt. 1998 wurden so wenige Kinder geboren wie im ganzen 20.Jahrhundert zuvor nicht[7]. Die Bevölkerung Estlands ist somit nicht mehr in der Lage sich selbst zu reproduzieren, zumal Zuwanderung nach Estland nicht in der Intensität wie in Deutschland stattfindet und man deshalb die fehlenden Geburten durch Einwanderer nicht ausgleichen kann.
Die Gesellschaft überaltert zunehmend, weil die jungen Nachkommen ausbleiben. Die verhältnismäßig steigende Zahl der Todesfälle verstärkt den Bevölkerungsrückgang zusätzlich. Seit nunmehr 20 Jahren übersteigt die Zahl der Todesfälle die der Geburten (vgl. 2009: 15.736 Geburten; 16.081 Todesfälle).
Abb. 1: Bevölkerungszahl in Estland im Zeitraum 1970-2010
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Statistics Estonia 2010, Stand 01.01.2010
2.3 Die strukturräumliche Entwicklung
Zu den am dichtesten besiedelten Gebieten Estlands zählen der Norden des Landes und die Küstengebiete, hier liegen allein drei der fünf größten Städte Estlands Tallinn, Narva und Kohtla-Järve.
Verallgemeinernd lassen sich zwei für meine Arbeit wichtige Prozesse bei der Raumentwicklung beobachten: In den Städten konzentriert sich die Bevölkerung verstärkt, während sie den ländlichen Raum verlässt. Ins Verhältnis gesetzt leben mittlerweile 65% der estnischen Bevölkerung in den Städten(866.842 Einwohner), der andere Teil auf dem Land (473.285 Ew.).
Bereits unter der sowjetischen Herrschaft wuchsen vor allem die Städte bevölkerungsmäßig- besonders Tallin (399.340 Ew.) und Narva (65.881 Ew.) im Norden und Tartu als älteste Universitätsstadt(103.284 Ew.) im Zentrum des Landes, da sich die russischen Einwanderer in städtischen Zentren vorzugsweise niederließen.
Abb. 2: Bevölkerungsdichte in den Landkreisen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Statistics Estonia, Stand 01.01. 2009
Heute verzeichnen die beiden größten Städte jährlich eine fortlaufende, wenn auch geringe Bevölkerungszunahme. Für Narva gestaltet sich die Situation anders. Hier geht die Bevölkerung, die sich aus einem großen Teil der russischen Minderheit zusammensetzt und einem kleineren Teil estnischer Bevölkerung, von Jahr zu Jahr zurück.
Demzufolge sind die drei Landkreise mit der höchsten Bevölkerungsdichte Harju (mit Tallin), Tartu (mit der Stadt Tartu) und schließlich der Landkreis Ida-Viru (mit Narva). Althergebracht ist die dünne Besiedelung der westlichen Landkreise. Augenscheinlich ist ebenfalls die geringe Bevölkerungsdichte der südlichen Landkreise, ausgenommen des Landkreises Tartu. Im Westen und Süden finden momentan die stärksten Abwanderungsprozesse statt.
In Zentral- und Südestland wird überwiegend Landwirtschaft betrieben, der Wirtschaftssektor, der am wenigsten zum BIP beiträgt und als Arbeitsplatz am unattraktivsten für die Bevölkerung scheint. Um im wachsenden Dienstleistungssektor Beschäftigung zu finden ziehen die Menschen daher in die oben bereits genannten Zentren im Norden und an der Küste.
Außerdem wurde die Enteignung estnischer Landbesitzer während der Sowjetzeit zwar nach der Unabhängigkeitserlangung 1991 für unrechtmäßig erklärt und das Land seinen Vorbesitzern wieder zugesprochen, doch nur wenige Menschen zogen deshalb wieder auf ihre alten Besitztümer auf dem Land zurück. Die alten Besitzungen verwaisten.
Interessant ist außerdem, wenn es später um die Auswirkungen der gesellschaftlich-strukturellen Änderungen für die Schulen geht, den Anteil der Kinder an der Gesamtbevölkerung in den Kreisen und Gemeinden zu untersuchen (vgl. Abb. 3). Hier fällt auf, dass sich die Regionen mit einem hohen Kinderanteil auf die Städte und deren Umland konzentrieren, während die Regionen mit anteilsmäßig wenig Kindern auf den Inseln, in Nordost-, Zentral- und in Südestland liegen.
Abb. 3: Anteil der Kinder an der Gesamtbevölkerung in den Landkreisen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Statistics Estonia, Stand 01.01.2010
Als Zusammenfassung der oben beschriebenen Entwicklungen (Bevölkerungszahlen absolut, Bevölkerungsanteil des Landkreises an der Gesamtbevölkerung und das Verhältnis städtische-ländliche Bevölkerung) habe ich Abb. 4 eingefügt. Das Datenmaterial stammt aus dem Jahr 2000 doch die Tendenzen waren zu diesem Zeitpunkt dieselben und haben sich bis heute nicht wesentlich geändert.
[...]
[1] vgl. The role of learning in a culture; http://www.estonica.org [Stand 22.07.2010]
[2] OECD 2001, S.85
[3] OECD 2001, S.85
[4] Fischer Weltalmanach (2010): http://www.weltalmanach.de/staat/staat_detail.php?fwa_id=estland [Stand 22.07.2010]
[5] Stand 01.01.2010
[6] Estonian Institute (2009): http://www.estonica.org/en/Economy/General_overview_of_Estonian_economy/
Structure_of_the_economy/ [Stand 22.07.2010]
[7] Hinno(2004), S.41