Dieser Essayist macht sich Gedanken über das Stück "Untertagblues" von Peter Handke und hinterfragt vor allem die Figur des Wilden Mannes. Er reflektiert sich selbst, fragt sich, wer der Wilde Mann ist: sind wir alle Wilde Männer? Er versucht die Intention von Handke zu erforschen. Die berühmt-berüchtigte Frage "Was will uns der Autor sagen?" beantwortet er auf eine philosophische und sprachgewandte Weise.
Der Untertagblues und die Wilden Männer
Ein kleiner Essay
Der Wilde Mann schreit sich seine Wut, Enttäuschung und Verachtung gegenüber den Mitfahrenden in der U-Bahn, seine Last, seine aufgestauten Gefühle von der Seele. Er beschimpft sie alle. Ist er wirklich wütend auf die, die er anschreit oder auf sich selbst? Was macht ihn tatsächlich wild? Andere Menschen, sein Schicksal oder sein eigenes Unvermögen, mit dem Leben fertig zu werden, seine eigenen Fehler? Sucht er nicht einen Schuldigen oder besser noch eine Menge Schuldiger, um von sich und seinen Fehlern abzulenken und sich im Endeffekt von diesen zu entlasten? Warum scheinen diese wüsten Ausdrücke aus ihm hervorzubrechen, was treibt ihn an? Ist er wirklich einfach nur von den anderen gereizt und genervt, in seinem natürlichen Freiraum begrenzt, bedrängt, bedroht? Ist er wirklich ein Individualist mit einem kranken Ego, welches sich durch die Ablehnung seiner Umwelt und durch die Abgrenzung von dieser definiert?
Und noch eins: er schreit und schimpft und klagt an, aber nur innerlich, niemand bekommt sein Toben mit. Er wagt keine reale Konfrontation. Er ist nicht nur ein wilder Mann, sondern auch ein stummer und feiger Mann. Warum spricht er seine Gedanken nicht aus? Nun, möglicherweise ist er auch ein kluger Mann. Solch eine Konfrontation mit anderen hätte sicher sehr unangenehme Konsequenzen, bis hin zu einer Schlägerei. Sicher aber denken seine Mitreisende genauso über ihn und die anderen. Vielleicht käme es zu einem Konsens zwischen den Fahrgästen und gegenseitigem Verständnis. Doch der Wilde Mann hält seine Gedanken unter der Oberfläche, „unter Tage“, keiner bekommt sie mit, ahnt sie höchstens durch seine körperliche Unruhe. Es ist wie mit der U-Bahn: der nicht eingeweihte fremde Passant oben auf der Straße weiß nichts von den Zügen und dem Treiben unter der Straßenoberfläche, nur kann er es erahnen anhand von U-Bahn-Eingängen und durch Windzüge und Rattergeräusche, die durch Schächte nach oben dringen. Gibt es nicht in jedem von uns solch eine Untertagewelt, von denen Fremde nichts wissen, welche sie nur erahnen können durch unsere Aussagen und Verhaltensweisen? Geistert nicht auch in jedem von uns dieser Zug voller Menschen, die wir verachten, beschimpfen und anschreien, herum? Sind wir nicht auch wilde Männer und Frauen? Wir sehen uns den Wilden Mann und sein Schreien an und verachten ihn dafür: „mehr Contenance!“ wollen wir ihm zurufen oder auch einmal lauter werden: „Sei endlich still, du Idiot!“ Doch tun wir es? Nein. Wir sehen uns das Stück an, werden innerlich wild, bleiben aber stumm. Wie der Wilde Mann. Also: der Wilde Mann weckt in uns den Wilden Mann und dient uns als Spiegel. Ein Spiegel, welcher das gespiegelte Objekt nach dem Vorbild des Spiegelbildes formt. Nicht wir formen unser Spiegelbild, sondern dieses uns und damit sich selbst? Verrückt, erinnert an den Horrorfilm Mirrors. Doch das sei nur am Rande bemerkt.
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- Arbeit zitieren
- B.A. Manuel Kröger (Autor:in), 2012, Der Untertagblues und die Wilden Männer, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/263761