Diese Arbeit setzt sich zum Ziel, den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Formen der literarischen Codierung von Gewalt im Nibelungenlied und den ihnen zugrundeliegenden kulturellen Denkformen herauszuarbeiten. Dabei wird zu untersuchen sein, ob sich diese Denkformen in der – freilich sehr schematischen – Dichotomie einer ’archaischen‘ gegenüber einer ’höfischen‘ Logik fassen lassen, und wenn ja, welche spezifischen Unterschiede die diesen Logiken folgenden Codierungen von Gewalt aufweisen. Diese Arbeit versteht sich damit als ein Prozess der Analyse, der die heuristische These von ”archaischer versus höfischer Gewaltcodierung“ im Nibelungenlied zuallererst zu verifizieren hat, und nur wenn das gelungen ist, untersuchen kann.
Ich verstehe das Nibelungenlied als das Ergebnis einer kontinuierlichen Überschreibung eines Erzählstoffes (bzw. Liedes) in der kulturellen Logik der jeweiligen Erzähler. Die dieser Arbeit zugrundeliegende kanonisierte Fassung dieses Stoffes weist nun deutliche Züge einer ’höfischen‘ Überschreibung auf, die der Schlüssel zu vielen Erzählphänomenen im Text sein könnte.
Der Opposition von ”archaischer versus höfischer Logik“ folgend möchte ich in diesem Text eine unterschiedlichen Logiken folgende Codierung und Motivation von Gewalt herausarbeiten, die ein wesentlicher Bestandteil des ambivalenten, brüchigen, widersprüchlichen Textcharakters im Nibelungenlied zu sein scheint. Ich denke, das erschütternde Phänomen nicht integrierbarer, unaufhaltsam ausbrechender, exzessiver Gewalt im Text lässt sich u.a. aus und in der Kollision zweier unterschiedlicher Logiken erklären und darstellen. Die im Referat entwickelte Opposition leitet sich kulturhistorisch aus einem ’Prozess einer fortschreitenden Zivilisation‘ her, wie ihn Norbert Elias entworfen hat.
Diese Arbeit gliedert sich in einen theoretischen und einen praktischen Teil. Zunächst wird darzustellen sein, von welchem kultur- und literaturgeschichtlichen Modell aus das Nibelungenlied untersucht werden soll. Danach folgen Überlegungen zu den Voraussetzungen einer Analyse der Gewaltcodierung in einem literarischen Text des Mittelalters. Im zweiten Teil dieser Arbeit sollen einzelne Textstellen genauer untersucht werden, um so die Plausibilität und Anwendbarkeit der zuvor dargestellten Modelle und Denkansätze zu prüfen.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- 1. Theoretischer Teil: Hintergrund, Zielstellungen und Voraussetzungen
- 1.1 Palimpsest – 'archaische' versus 'höfische' Logik
- 1.1.1 Fortschreitende Zivilisation Norbert Elias' "Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation"
- 1.1.2 Das Nibelungenlied als Ausdruck der nachträglichen Überschreibung eines 'archaischen Stoffes in der Logik des höfischen Ritterideals
- 1.1.3 'Archaisch' versus 'höfisch' - eine Opposition als Arbeitshypothese
- 1.2 Formen der Codierung von Gewalt im Nibelungenlied
- 1.2.1 Kriterien zur Analyse von Gewalt in einem literarischen Text: Bestimmung und Kategorisierung
- 1.2.2 'Archaisch' versus 'höfisch‘: Zur Logik von Gewaltformen
- 2. Praktischer Teil: Analysen
- 2.1 Brautnachtbetrug (X., 631-683)
- 2.1.1 Komik und Gewalt – die erste Brautnacht
- 2.2 Etzels Tafel: Kindesmord und Saalkampf (XXXIII., 1951-2008)
- 2.2.1 'Spiel mir das Lied vom Tod' – die Fiedlermetaphorik Volkers
- 2.3 Finale: Hagen und Kriemhild (IXXXX., 2353-2379)
- 3. Schlußbemerkungen
- 4. Literatur
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Formen der literarischen Codierung von Gewalt im Nibelungenlied und den ihnen zugrundeliegenden kulturellen Denkformen. Dabei wird der Frage nachgegangen, ob sich diese Denkformen in der Dichotomie von einer 'archaischen' gegenüber einer 'höfischen' Logik fassen lassen und welche spezifischen Unterschiede die diesen Logiken folgenden Codierungen von Gewalt aufweisen.
- Das Nibelungenlied als Palimpsest, das Spuren älterer Überlieferungen und Denkformen in der höfischen Überschreibung des 13. Jahrhunderts trägt
- Analyse der literarischen Codierung von Gewalt im Kontext der kulturhistorischen Entwicklung der 'fortschreitenden Zivilisation' nach Norbert Elias
- Untersuchung der Opposition zwischen 'archaischer' und 'höfischer' Logik als ein zentrales Motiv für die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit des Textes
- Die Darstellung von Gewalt im Nibelungenlied als Ausdruck der Kollision zweier unterschiedlicher Denkformen und Motivationen
- Die Bedeutung der 'fortschreitenden Zivilisation' als analytisches Modell für die Untersuchung von Veränderungen in der literarischen Repräsentation von Gewalt
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in das Thema der Arbeit ein und erläutert die Zielsetzung und den methodischen Ansatz. Der theoretische Teil befasst sich mit dem kulturhistorischen und literaturgeschichtlichen Hintergrund des Nibelungenliedes und analysiert die Opposition zwischen 'archaischer' und 'höfischer' Logik anhand des Modells der 'fortschreitenden Zivilisation' nach Norbert Elias. Der praktische Teil analysiert einzelne Textstellen des Nibelungenliedes im Hinblick auf die Codierung von Gewalt und ihre Beziehung zu den unterschiedlichen Denksystemen. Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse und Schlussfolgerungen.
Schlüsselwörter
Nibelungenlied, Gewaltcodierung, archaische Logik, höfische Logik, Palimpsest, Fortschreitende Zivilisation, Norbert Elias, literarische Analyse, Ambivalenz, Widerspruch.
- Quote paper
- Michael Obenaus (Author), 1999, Codierungen und Logiken von Gewalt im Nibelungenlied, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/23529