Diese wirklich interessante Arbeit beschäftigt sich mit einem jungen Mädchen, das einen behinderten Bruder an ihrer Seite hat. Im Laufe der Arbeit soll herausgearbeitet werden, ob ihre Persönlichkeitsentwicklung trotz aller Schwierigkeiten erfolgreich war. Des Weiteren gewinnt man einen Einblick in die qualitative Forschung. Ein Interview-Leitfaden, sowie das Transkript meines Interviews mit dem Mädchen sind im Anhang der Arbeit beigefügt. Eine Arbeit mit wirklich überraschenden Ergebnissen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Erläuterung und Begründung der Fragestellung
1.2 Begriffsklärung „Behinderung“
1.2.1 Das Angelman-Syndrom
1.2.2 Epilepsie
1.3 Eine „normale“ Geschwisterbeziehung
2. Datenerhebung
2.1 Interviewmethode
2.2 Zielgruppe
2.3 Leitfaden
3. Auswertung
3.1 Kurze Fallzusammenfassung
3.2 Kategorienbildung
3.3 Kategorienbasierte Auswertung mittels einer Themenmatrix
3.4 Vertiefende Einzelfallinterpretation mit einer Analyse der Zusammenhänge zwischen den Kategorien
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
Anhang
1. Flyer
2. Leitfaden
3. Transkript
4. Themenmatrix
1. Einleitung
Unsere Gesellschaft begegnet Menschen mit Behinderung oftmals befangen, unsicher und ablehnend. Eltern, die plötzlich der Behinderung des eigenen Kindes gegenüber- stehen, müssen lernen diese zu akzeptieren und sich mit der plötzlich veränderten Le- benssituation zu arrangieren. Häufig werden dabei die Geschwister vergessen, die in gleicher Weise Bewältigungsstrategien für diese besondere Familiensituation entwi- ckeln müssen. Auch in der deutschsprachigen Literatur wird den Geschwistern behin- derter Kinder kaum Beachtung geschenkt, während für die Situation der Eltern zahlrei- che Fachliteratur zur Verfügung steht. Deshalb stehen in dieser Arbeit die nicht-behin- derten Geschwister im Zentrum des Interesses. Es gilt festzustellen, wie sie mit der besonderen Familiensituation umgehen und welche Auswirkungen die Behinderung des Geschwisters auf ihre eigene Persönlichkeitsentwicklung hat. Nach einer Klärung der grundlegenden Begriffe und einer Einführung in die qualitative Forschung, wird ein Einzelfall, basierend auf einem Leitfaden-Interview, analysiert.
1.1 Erläuterung und Begründung der Fragestellung
Geschwister behinderter Kinder „müssen früh Rücksicht üben, Verantwortung überneh- men, mit allerlei Einschränkungen […] leben […]. Dazu kommt, dass sie in einer Leis- tungsgesellschaft aufwachsen, deren Leitbilder Jugend, Schönheit, Gesundheit und „Power“ sind. Die Kinder spüren deutlich die Diskrepanz zwischen dem, was ihre Fami- lien täglich praktizieren und was gesellschaftliche Norm ist“ (Achilles 2003, S. 43). Wer sind die Geschwister von Kindern mit Behinderung? Es stellte sich die Frage, ob es tatsächlich allen Kindern in dieser Situation gleich ergeht, oder ob jedes Kind eine ganz eigene Bewältigungsstrategie entwickelt. Die Fragestellung lautet: „Wie geht das nicht-behinderte Geschwisterkind mit der besonderen Situation in der Familie um?“ Lässt es sich unterkriegen und zieht sich vollkommen aus der Familie zurück? Steckt es immer ein und nimmt kontinuierlich Rücksicht auf die Bedürfnisse des Geschwister? Oder kann es für sich selbst Partei ergreifen und rebelliert, bei Bedarf, gegen zu viele Aufgaben? Und wodurch wird das zutreffende Verhalten konstituiert? Es liegt ein großes Interesse darin diese Fragen beantworten zu können.
1.2 Begriffsklärung „Behinderung“
Obwohl in dieser Arbeit die Geschwister von Kindern mit Behinderung im Vordergrund stehen, ist es von großer Bedeutung genauer zu definieren, was im allgemeinen unter einer „Behinderung“ verstanden wird. Der Begriff ist sehr vielschichtig und erscheint durch seine Heterogenität überaus unübersichtlich, da er sich aus zwei Bedeutungs- ebenen zusammensetzt. Ganz allgemein betrachtet, ist eine „Behinderung“ eine Be- zeichnung für Hemmnisse und Eingrenzungen, wie auch z. B. eine Straßensperre. Im medizinischen Sinne allerdings, wird eine „Behinderung“ als eine andauernde Schädi- gung aufgefasst. Die Bezeichnung „Behinderung“ allein, gibt jedoch weder Auskunft über die Art, noch den Grad der Behinderung (vgl. Spieß 1992). Über die Schwere kann niemals eine allgemeingültige Aussage gemacht werden, da eine Behinderung stets subjektiv vom Betroffenen wahrgenommen wird und jeder anders damit umgeht. Laut dem Gesetz sind „Menschen […] behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geis- tige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinde- rung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.“ (SGB IX § 2 I). Beeinträchti- gungen beschreiben also alle körperlichen, geistigen und seelischen Einschränkungen eines Menschen, sowie sich daraus ergebende Folgen (vgl. Hansen/Stein 2006). Die Begriffe Beeinträchtigung und Schädigung werden häufig synonym verwendet, dabei „bezeichnet [eine Schädigung vielmehr] einen irreparablen Defekt, der allenfalls kom- pensiert werden kann. Beeinträchtigungen sind in der Regel die Folge einer irgendwie gearteten Schädigung“ (ebd., S. 12). Oft setzt man eine Behinderung mit einer persön- lichen Eigenschaft eines Menschen gleich, dies geschieht beispielsweise, indem man sagt: Ein Mensch ist behindert. Man kann eine Beeinträchtigung zwar auf eine Person beziehen, allerdings sollte diese niemals als ein Merkmal dieses Menschen betrachtet werden, dies wäre diskriminierend und unzutreffend (vgl. Kobi 1993). Die Gesellschaft versuch oft den Begriff „Behinderung“ zu beschönigen und ersetzt ihn durch Umschrei- bungen, wie z. B. Seeelenpflegebedürftige Kinder, Kinder mit besonderen Bedürfnis- sen, Andersfähige Kinder. Diese Umschreibungen sollen vor allem die Geschwister vor der Wahrheit „beschützen“ doch diese werden durch eine Verschleierung der Realität meist nur verwirrt und zusätzlich belastet (vgl. Winkelheide/Knees 2003).
1.2.1 Das Angelman-Syndrom
Beim Angelman-Syndrom handelt es sich um eine angeborene Veränderung im Be- reich des 15. Chromosoms. Dies hat eine starke Verzögerung der körperlichen und geistigen Entwicklung zur Folge. Es wurde erstmals 1965 von Harry Angelman ent- deckt. Aufgrund der ruckartigen Laufbewegungen, welche durch eine Gleichgewichts- störung verursacht werden, wurden betroffene zunächst „Marionettenkinder“ genannt. Drei von vier Angelman-Kindern leiden zusätzlich unter Epilepsie, was durch unkon- trollierte Stürze ein sehr hohes Verletzungsrisiko birgt. Kinder mit dem Angelman-Syn- drom haben eine normale Lebenserwartung und fallen durch ihr überdurchschnittlich häufiges Lachen auf, bisher ist noch unbekannt, warum dieses so ausgeprägt ist. Al- lerdings haben nur wenige ein „anfallartiges Lachen“, das die Mitmenschen stört. Die Pränatale Phase verläuft weitgehend normal erst im Säuglingsalter fallen Probleme beim Stillen auf. Durch ein anormales Herausstrecken der Zunge wird das Schlucken behindert. Im Alter zwischen ein und drei Jahren ist die Entwicklungsstörung schon sehr deutlich. Die Kinder leiden an ersten Kampfanfällen, sind daher oft überreizt und ständig in Bewegung. Die Kinder scheinen die Sprache zu verstehen, werden aber selbst niemals das Sprechen erlernen. Sie können ihre Bedürfnisse lediglich durch eine nonverbale Sprache zum Ausdruck bringen. Im Alter von drei bis acht Jahren sind die Kampfanfälle immer schwerer in den Griff zu bekommen. Die Kinder leiden an Schlafproblemen und sind motorisch Hyperaktiv (vgl. www.angelman.de). „AS-Kinder mit starken Anfällen oder extrem hyperaktivem Verhalten können nicht genug Aufmerk- samkeit aufbringen, um auch nur die ersten Schritte einer Kommunikation (wie z. B. Augenkontakt halten) zu erlernen“ (www.angelman.de). Durch intensives Training be- steht allerdings eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass das Kind kontinent wird. Von acht bis 15 Jahren macht es langsame aber stetige Fortschritte. Das endgültige Entwick- lungspotential ist bisweilen noch nicht bekannt. Besondere Merkmale dieser Kinder sind zum einen eine sehr helle Pigmentierung (Hypopigmentierung), sodass eine Ten- denz zum Albinismus vermutet wird, zum anderen leiden sie häufig an Sehstörungen, wie dem Schielen (vgl. www.angelman.de).
1.2.2 Epilepsie
Epilepsie ist eine „Erkrankung des Nervensystems - eine neurologische Erkrankung -, die sich in (epileptischen Anfällen) äußert, die auf einer pathologischen biolelektrischen Aktivität des Gehirns beruhen“ (Theunissen/Kulig/Schirbort 2007, S. 101). Eine medizinische Behandlung durch Antiepileptika oder Antikonvulsiva ist möglich, um die Schwere und Anzahl der Anfälle zu verringern. Durch die Unvorhersehbarkeit und Intensität Anfälle ist die schulische Leistungsfähigkeit, die Erwerbstätigkeit und die Fahrtüchtigkeit des Betroffenen stark eingeschränkt (vgl. ebd.).
1.3 Eine „normale“ Geschwisterbeziehung
„Die Frage nach der Bedeutung eines behinderten Kindes für die Entwicklung seiner Geschwister impliziert den Vergleich mit der „normalen“ Geschwisterbeziehung“ (Ha- ckenberg 1992, S. 29). Die Geschwisterbeziehung ist die dauerhafteste aller Bindun- gen, sie kann mit einem unauflöslichen Band verglichen werden, das die Geschwister zusammenhält (vgl. Achilles 2002). Sie müssen sich stets die Zeit und Aufmerksamkeit ihrer Eltern teilen, wodurch eine gewisse Ambivalenz entsteht. „Liebe und Haß [sic!], Rivalität und Unterstützung sind Pole, zwischen denen Geschwisterbeziehungen sich in besonderem Maß bewegen“ (Hackenberg 1992, S. 30). Insbesondere im Wettstreit um elterliche Anerkennung bildet sich eine extreme Rivalität heraus. Die Deidentifikation (Betonung der Andersartigkeit) gilt als Versuch, die Rivalität zu vermindern. Bei verschieden geschlechtlichen Geschwistern kann die Rivalität aufgrund der von Natur gegeben Andersartigkeit im Aussehen und den Interessen nicht so groß werden. Dennoch geben sich Geschwister auch oft Trost und Halt vor allem bei Auseinandersetzungen mit den Eltern (vgl. ebd.). Sie brauchen sich vor ihren Geschwistern nicht zu verstellen, und wissen um die Beständigkeit der Beziehung.
2. Datenerhebung
Bei der Datenerhebung (Wahl der Interviewmethode, Auswahl der Zielgruppe und die Erstellung eines geeigneten Leitfadens) müssen einige Besonderheiten beachtet wer- den, damit möglichst aussagekräftige Daten gesammelt werden können. Es handelt sich in der zeitlichen Dimension bei des vorliegenden Studie um eine Querschnittstu- die, die sich mit einem Einzelfall auseinandersetzt. Hierbei steht die Biographie eines Kindes, das ein behindertes Geschwisterkind hat, im Vordergrund. Dabei geht es vor- rangig darum individuelle Erfahrungen, Relevanzen und Handlungsbegründungen zu erfassen (vgl. Reinders 2012).
2.1 Interviewmethode
Ein Interview ist stets der Weg zu Informationen. D en Informationen, die so wichtig sind, um die Fragestellung hinreichend beantworten zu können. Deshalb ist es sehr wichtig, je nach den erwünschten Ergebnissen, eine passende Interviewmethode aus- zuwählen. Sie soll den Interviewpartner zum Reden animieren, um in Worte gefasste, subjektive Angaben für die anschließende Auswertung zur Verfügung zu haben. Men- schen, die weniger eloquent sind, benötigen einen stärker standardisierten Leitfaden, als redegewandtere. Weil die Interviewpartnerin in diesem Fall noch ein Kind ist, eignet sich ein teil-standardisiertes Verfahren in besonderer Weise. Denn gerade Kinder be- nötigen eine etwas entlastende Gedächtnisstütze und Orientierung während des Ge- sprächs, damit sie sich nicht überfordert fühlen. Die teil-standardisierte Methode be- steht aus einer „Kombination von offenen, erzählgenerierenden Fragen und eher struk- turierten Nachfragen“ (ebd., S.101). Aufgrund dessen fiel die Wahl auf ein problemzen- triertes Interview, welches in erster Linie dazu dient die subjektive Wahrnehmungen gesellschaftlicher Probleme zu erfragen und die daraus resultierenden Erfahrungen mit der gesellschaftlichen Realität zu erfassen. Da eine Problemstellung explizit im Mit- telpunkt der Befragung steht, ist ein fundiertes Vorwissen über diese Problematik un- bedingt erforderlich. Der vorab konstruierte Leitfaden basiert folglich auf dem Vorwis- sen des Forschenden und wird deduktiv erstellt, da der Interviewer ein gesellschaftli- ches Problem erforschen will, generiert er anhand seiner Vorkenntnisse einen Leitfa- den. Er strukturiert die Interviewsituation und gibt dem Befragten bestimmte Stimuli vor, um das Thema vorab einzugrenzen. Allerdings wird die Reihenfolge der Fragen meist recht flexibel einem natürlichen Gesprächsverlauf angepasst und orientieren sich an den Erzählungen des Befragten. Der häufige Sprecherwechsel ähnelt viel mehr einem lebendigen Gespräch, als einer künstlichen Befragung. Das spontane Nachfragen begünstigt ein besseres Verständnis für die individuelle Sichtweise des In- terviewpartners (vgl. ebd.). Im ersten Schritt, noch vor dem Interview, wird vom For- schenden ein Problem analysiert, das es zu erforschen gilt. In Anschluss daran kann ein Leitfaden erstellt werden, der dieses Problem thematisiert. Bei dem betreffenden Interview wurde dem Befragten zum Einstieg ein Bild gezeigt, auf dem eine harmo- nisch wirkende Familie beim Frühstück abgebildet war. Durch das Bild wird ein offener Einstieg ermöglicht, wodurch der Befragte frei assoziieren kann, was er mit dem Bild verbindet, was er dabei empfindet und ob es eine ihm vertraute Situation ist. In der an- schließenden Interviewphase wird mittels des Leitfadens nach den subjektiven Erleb- nissen und Empfindungen des Befragten gefragt. In der Auswertungsphase werden die gewonnenen Informationen dann inhaltsanalytisch ausgewertet (vgl. Reinders 2012).
2.2 Zielgruppe
Bei der Auswahl der Zielgruppe steht zu Beginn immer die Frage, wer Informationen zur gegebenen Fragestellung liefern kann. „Die Wahl der Befragten wird aus dem Vor- wissen deduziert“ (Reinders 2012, S. 116), daher war die Zielgruppe von Anfang an schon ziemlich klar definiert. Es lag fest, dass es sich um ein nicht-behindertes-Ge- schwister eines Kindes mit Behinderung handelt, das zwischen sieben und 19 Jahren alt ist. Der Altersabstand der beiden Geschwister sollte nicht mehr als fünf Jahre betra- gen und die Kinder sollten beide zusammen bei ihrer Mutter leben. Um einen Inter- viewpartner zu finden, wurden in Absprache mit zwei Förderschulen an deren „Schwarzem Brett“ ein Flyer ausgehängt (siehe Anhang 1), auf welchem um Teilnahme gebeten wurde. Ebenso war eine kurze Information über das Forschungsprojekt und ein Ansprechpartner aufgeführt. Aufgrund mangelnder Resonanz wurden an einer der beiden Förderschulen nochmals Flyer an die Busfahrer des Kinder verteilt, welche die- se direkt an deren Eltern weiterleiteten. Durch die Bereitschaft zur Teilnahme ergibt sich eine zweite Selektion der Zielgruppe. Es ist für das Interview förderlich, wenn die Beteiligten freiwillig daran teilnehmen, da somit ein erhöhter Redefluss zu erwarten ist (vgl. Reinders 2012). Auf die Flyer meldeten sich einige Familien, die an der Teilnahme interessiert waren. Somit war es für jeden unserer Forschungsgruppe möglich einen passenden Interviewpartner zu finden.
2.3 Leitfaden
Der Leitfaden ist sequenziell aufgebaut und umfasst die folgenden Themen- bereiche:
- Freizeitverhalten
- Aufgabenbereiche in der Familie
- Erwartungen der Eltern
- Einschätzung von persönlichen Stärken
- Bezugspersonen
- Zukunftswünsche
Die Gliederung der Fragen ist so aufgebaut, dass man über das Allgemeine in die Tie- fen des inneren Erlebens und Empfindens dringt. Da die Befragte Person noch sehr jung ist, gilt es dabei zu beachten, das Interview nicht vollkommen offen zu halten, da vor allem Kinder teil-strukturierte Fragen zur Gesprächsorientierung und Gedächtnis- stütze brauchen. Dennoch sollte der Leitfaden nur eine grobe Struktur des Gesprächs- verlaufs vorgeben und niemals so starr sein, dass man sich nicht auf spontane Exkur- se oder sich neu ergebende Fragen einlassen könnte. Der Leitfaden kann in gewisser Weise als Operationalisierung der grundlegenden Fragestellung verstanden werden. Die Fragen im Leitfaden versuchen Antworten zu entlocken, die einen Rückschluss auf die Fragestellung ermöglichen (vgl. Reinders 2012). Deshalb besitzt jede gestellte Fra- ge einen Bedeutungshintergrund, den es nun genauer zu erläutern gilt. Zu Beginn wur- de ein Bild von einer Familie vorgezeigt, die am Frühstückstisch sitzt. Der Einstieg war also sehr offen und erzähl-generierend gestaltet. Der Interviewpartner hatte somit die Möglichkeit ganz frei von sich aus zu erzählen, was er mit einer solchen Situation, wie auf dem Bild gezeigt, verbindet. Dadurch sollte ein Vergleich zu anderen Familien her- gestellt werden. Durch die Fragen zum Freizeitverhalten, wurde das nicht behinderte Geschwister ganz deutlich in den Fokus des Interviews gerückt, es soll spüren, dass es bei diesem Interview vorrangig um seinen Alltag und seine Gefühle geht. Des Wei- teren gilt es herauszufinden, ob die Freizeit in irgendeiner Hinsicht durch das behin- derte Geschwister beeinträchtigt ist, bzw. ob das Geschwisterkind in die eigene Frei- zeit integriert wird. Es wurde danach gefragt, ob die Freunde von der Behinderung des Geschwisters wissen, um die Beziehung zu den Freunden und den Grad der Vertraut- heit Ihnen gegenüber nachvollziehen zu können. Anschließend lag ebenfalls das Ver- hältnis zur Familie im Zentrum des Interesses, indem danach gefragt wurde, wie viel Zeit sie zusammen verbringen und was sie gemeinsam unternehmen. Daraufhin wur- de explizit nach der Geschwisterbeziehung gefragt und ob Hinderungen beim gemein- samen Spiel aufkommen können. Es sollte ebenso herausgestellt werden, ob und wie viel Verantwortung das nicht behinderte Geschwister in der Familie übernehmen muss, weshalb nach festen Aufgaben innerhalb der Familie gefragt wurde. Daraus ergab sich die Frage ob das Geschwister durch zu viele Aufgaben überfordert sein könnte oder ob die anderen Familienmitglieder zu gleichen Anteilen in das Familienleben eingebun- den sind. Nun sollte durch die vorhergehenden Fragen eine gewisse Vertrauensbasis zwischen dem Interviewer und dem Interviewten hergestellt sein, deshalb folgen dar- auf die etwas persönlicheren Fragen, die direkt auf das Gefühlsleben des Interview- partners eingehen. Da sich das Gefühl von Druck und Überforderung nicht direkt erfra- gen lässt, wurde eine alternative Frage gewählt, die genau dies ermitteln sollte. Es wurde gefragt, ob das nicht behinderte Geschwister weiß, was die Eltern für Erwartun- gen an es haben und ob es denkt, dass es diese auch erfüllen kann. Anschließend sollte es seine persönlichen Stärken einschätzen, um zu sehen, ob es ein reflektiertes Selbstbild entwickeln konnte und die Persönlichkeitsentwicklung erfolgreich war. Um den Bogen noch einmal zum behinderten Geschwisterkind zu spannen, sollte der In- terviewpartner darüber nachdenken, ob er auch vom behinderten Geschwister noch etwas lernen kann, dadurch wird nochmals ein Zeugnis zur gegenseitigen Beziehung abgegeben und der Interviewer erhält einen Eindruck davon, welches Bild der Inter- viewpartner von seinem Geschwister hat. Um auf die wichtigsten Bezugspersonen zu stoßen, wurde danach gefragt, zu wem der Interviewpartner mit seinen Sorgen geht. Wird er damit zu seiner Familie gehen, weil sie eine gute Beziehung zueinander ha- ben, oder lieber zu Freunden, weil der familiäre Rückhalt zu zu schwach ist und keine Vertrauensbasis besteht? Unterstützend folgte die Frage danach, wer sonst noch wichtig für den Interviewpartner ist. In Bezug auf die Menschen, die dem Interviewten wichtig sind, galt es ebenso herauszufinden, ob der Interviewpartner zufrieden mit sei- ner jetzigen Situation ist oder ob er sich manchmal allein gelassen oder sogar ver- nachlässigt gefühlt hat. Deshalb erkundigte man sich beim befragten Geschwister ob es sich manchmal noch mehr Zeit von seinen Bezugspersonen gewünscht hätte. Ab- schließend sollte nochmals die Gelegenheit gegeben werden frei zu erzählen, das soll- te durch die Frage nach persönlichen Zukunftswünschen ermöglicht werden. Die Fra- ge danach, impliziert immer auch inwieweit das behinderte Geschwister in die eigene Zukunftsplanung mit einbezogen wird, bzw. wie sehr die Zukunftsplanung von diesem abhängig ist. Es wird ebenso deutlich, inwiefern diese Wünsche von den Eltern vorge- geben werden oder von ihnen unbeeinflusst sind, was wiederum einen Rückschluss auf die Persönlichkeitsentwicklung des Interviewten ermöglicht.
3. Auswertung
3.1 Kurze Fallzusammenfassung
Anina (die Namen wurden geändert) ist ein dreizehnjähriges Mädchen, das mit ihrer geschiedenen Mutter und ihrem behinderten zwölfjährigem Bruder zusammenlebt. Sie verbringt ihre Freizeit viel mit ihrer Familie und auch besonders mit ihrem behinderten Bruder. Die beiden haben einen guten Draht zueinander. Da Anina's Freunde auch über die Behinderung ihres Bruder Bescheid wissen und sehr locker damit umgehen, können sie auch öfter alle zusammen spielen oder spazieren gehen. Jedes zweite Wo- chenende verbringt Anina alleine bei ihrem Vater, was ihr viel Freude bereitet, da sie dort die Aufmerksamkeit ganz bei sich hat. Anina hat keine direkten festen Aufgaben, sie hilft dort, wo etwas anfällt und übernimmt manche Hausarbeitstätigkeit, wie z. B. das Kochen oder Waschen. Ihre Mutter erledigt sonst alles andere alleine, sie regelt den Haushalt und pflegt ihren behinderten Sohn. Thomas kann auf Grund seiner Be- hinderung nur kleinere Aufgaben, wie das Gemüseschneiden beim Kochen, überneh- men. Aninas Mutter erwartet von ihr, dass sie manchmal auf ihren Bruder aufpasst und ihre Mutter im Alltag unterstützt. Des Weiteren ist es ihrer Mutter wichtig, dass Anina auf sich selbst aufpasst. Anina ist sich sicher, dass sie die Erwartungen ihrer Mutter er- füllen kann, sie ist ebenso in der Lage ihre persönlichen Stärken explizit zu nennen, sie hilft gern anderen Menschen, ist gut in der Rechtschreibung und ist schon sehr selbstständig. Bei größeren Sorgen geht sie immer zu ihrer Mutter, da diese stets ein offenes Ohr für sie hat und ihr dabei hilft eine Lösung zu finden. Ihre Zukunftswünsche gestalten sich unabhängig von der Behinderung ihres Bruders, sie möchte einmal selbst mit behinderten arbeiten, um ihre persönlichen Stärken dort einbringen zu kön- nen (vgl. Transkript).
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