In der täglichen Praxis im Kindergarten ist mir immer wieder aufgefallen, dass das Außengelände der Einrichtungen von den pädagogischen Fachkräften als ,Extra‘-Raum, der nicht in das gesamte pädagogische Konzept einer Institution einbezogen, sondern für bestimmte eng begrenzte Aktivitäten genutzt wird, betrachtet wird. Weitere persönliche Erfahrungen zeigen, dass sich die Begleitung der kindlichen Aktivitäten durch die pädagogischen Fachkräfte im Gegensatz zum Kindergartengebäude im Außengelände stark reduziert. Dies wird mit der zu gewährleistenden Aufsichtspflicht und der im Außengelände stattfindenden Phase des ,Freispiels‘ der Kinder gerechtfertigt. Eine solche Argumentation ist natürlich völlig unzulässig, da die pädagogischen Fachkräfte Freispielphasen natürlich auch im Kindergartengebäude, und nicht nur im Außengelände, zu initiieren haben. Weiterhin bedeutet Freispielphase der Kinder auch nicht, dass sich die pädagogischen Fachkräfte an dieser Stelle zurückziehen, um mit KollegInnen (im schlechtesten Falle über private Themen) ins Gespräch zu kommen oder die Kinder zu beaufsichtigen (Aufsichtspflicht gewährleisten). Vielmehr sollten die Fachkräfte diese Phasen nutzen, um zwei der zentralen Aufgaben ihrer Arbeit in den Fokus zu rücken, nämlich die Begleitung und die Beobachtung und Dokumentation kindlicher Bildungsprozesse. Österreicher (2012, 180) führt noch weitere zeitlich-organisatorische Aspekte an, die von den Fachkräften als Gründe genannt werden, das Außengelände nicht zu nutzen. Hierzu zählen z.B. Personalnot, die bereits erwähnten ungünstigen Wetterbedingungen und Programmpunkte, „die aufgrund eines bestimmten Bildungsverständnisses als wichtiger angesehen werden“ (Österreicher 2012, 180). Pädagogische Fachkräfte sollten also den „Wert des Draußen-Seins“ (Österreicher 2012, 180) erkennen und sich im Klaren darüber sein, dass ihr Handeln und die Interaktion mit einem Kind/ den Kindern nicht nur im Kindergartengebäude, sondern auch im Außengelände von hoher Bedeutung ist.
Da mich dieses Thema also sowohl persönlich als auch fachlich sehr interessiert, hatte ich mich dazu entschlossen, mich im Rahmen meiner Bachelorarbeit damit tiefer auseinanderzusetzen. Im Fokus meiner Arbeit war die Frage, wie sich Interaktionsmomente zwischen pädagogischen Fachkräften und einem Kind/ Kindern im Außengelände bzw. im Gebäude der Kita vollziehen und ob es zwischen beiden Settings qualitative Unterschiede gibt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Bedeutung von Sensitivitat im Handeln padagogischer Fachkrafte in Kindertageseinrichtungen
2.1. Sensitivitat in der Eltern-Kind-Interaktion
2.1.1. Die Entwicklung der Bindungstheorie
2.1.2. John Bowlbys Konzeption von Bindung
2.1.3. Die Fremde Situation
2.2. Sensitivitat in der Fachkraft-Kind-Interaktion
2.2.1. Das Konzept der Sensitiven Responsivitat
2.2.2. Die Strategien der intuitiven Didaktik und deren reflexive Nutzung
2.2.2.1. Der triangulare Blickkontakt
2.2.2.2. Einuben von Dialogregeln
2.2.2.3. Spannung ab-/ aufbauen mit der Stimme
2.2.2.4. Intonationsmarkierungen
2.2.2.5. Transmodal spiegeln
2.2.2.6. Musikalisch interagieren
2.3. Zwischenfazit
3. Zusammenhang zwischen dem Handeln der padagogischen Fachkrafte und den Raumbedingungen
3.1. Padagogische Arbeit in Raumen
3.2. Padagogische Arbeit im AuGengelande
3.3. Raumbedingungen, die das Handeln padagogischer Fachkrafte unterstutzen
3.4. Zwischenfazit
4. Teilnehmende Beobachtung in einer Kindertageseinrichtung
4.1. Der Marihena Kindergarten
4.2. Teilnehmende Beobachtung
4.3. Datenerhebung mit Videotechnik
4.4. Probleme bei der Durchfuhrung
5. Auswertung der Videoaufzeichnungen
5.1. Videoaufzeichnungen sichten
5.2. Operationalisierung
5.3. Transkription der ausgewahlten Sequenzen
5.4. Beschreibung der Szenen
5.4.1. Beschreibung der Szenen im Gebaude
5.4.1.1. Beschreibung Szene
5.4.1.2. Beschreibung Szene
5.4.1.3. Beschreibung Szene
5.4.2. Beschreibung der Szenen im AuGengelande
5.4.2.1. Beschreibung Szene
5.4.2.2. Beschreibung Szene
5.4.2.3. Beschreibung Szene
5.5. Probleme bei der Auswertung
6. Diskussion der Ergebnisse der Videoanalyse
7. Fazit
i. Literaturverzeichnis
ii. Tabellenverzeichnis
iii. Abbildungsverzeichnis
iv. Anhang
1. Einleitung
In der taglichen Praxis im Kindergarten[1]ist mir immer wieder aufgefallen, dass das AuGengelande der Einrichtungen von den padagogischen Fachkraften[2]als ,Extra‘- Raum, der nicht in das gesamte padagogische Konzept einer Institution einbezogen, sondern fur bestimmte eng begrenzte Aktivitaten genutzt wird, betrachtet wird. So kann ich aus meiner eigenen Erfahrung berichten, dass ich es oft erlebt habe, dass das AuGengelande nur zu einem bestimmten Zeitpunkt am Vormittag und ab einer bestimmten Uhrzeit am Nachmittag genutzt wird - wenn (laut der padagogischen Fachkrafte) die Wetterbedingungen dies zugelassen haben. Weitere personliche Erfahrungen zeigen, dass sich die Begleitung der kindlichen Aktivitaten durch die padagogischen Fachkrafte im Gegensatz zum Kindergartengebaude im AuGengelande stark reduziert. Dies wird mit der zu gewahrleistenden Aufsichtspflicht und der im AuGengelande stattfindenden Phase des ,Freispiels‘ der Kinder gerechtfertigt. Eine solche Argumentation ist naturlich vollig unzulassig, da die padagogischen Fachkrafte Freispielphasen naturlich auch im Kindergartengebaude, und nicht nur im AuGengelande, zu initiieren haben. Weiterhin bedeutet Freispielphase der Kinder auch nicht, dass sich die padagogischen Fachkrafte an dieser Stelle zuruckziehen, um mit KollegInnen (im schlechtesten Falle uber private Themen) ins Gesprach zu kommen oder um die Kinder zu beaufsichtigen (Aufsichtspflicht gewahrleisten). Vielmehr mussen die Fachkrafte diese Phasen nutzen, um in solchen Momenten zwei der zentralen Aufgaben ihrer Arbeit in den Fokus zu rucken, namlich die Begleitung und die Beobachtung und Dokumentation kindlicher Bildungsprozesse. Osterreicher (2012, 180) fuhrt weitere zeitlich-organisatorische Aspekte an, die von den Fachkraften als Grunde genannt werden, das AuGengelande nicht zu nutzen. Hierzu zahlen z.B. Personalnot, die bereits erwahnten ungunstigen Wetterbedingungen und Programmpunkte, „die aufgrund eines bestimmten Bildungs- verstandnisses als wichtiger angesehen werden“ (Osterreicher 2012, 180).
Padagogische Fachkrafte sollten also den „Wert des DrauGen-Seins“ (Oster- reicher 2012, 180) erkennen und verstehen, dass ihr Handeln und die Interaktion mit einem Kind/ den Kindern nicht nur im Kindergartengebaude, sondern auch im AuGengelande von hoher Bedeutung ist. Moglicherweise vollziehen sich im AuGengelande sogar qualitatvollere Interaktionen zwischen einer padagogischen Fachkraft und einem Kind/ Kindern, aufgrund der Tatsache, dass auGerhalb des Gebaudes eine groGere Flache, auf der sich die Kinder verteilen konnen, zur Verfugung steht und der Gerauschpegel im Gruppenraum bedeutend hoher als im AuGengelande ist. Sollte dies so sein, dann ware es ein Grund fur padagogische Fachkrafte, das AuGengelande viel intensiver und bewusster zu nutzen.
Aus diesen Gedanken ergeben sich fur mich also zwei zentrale Fragen: Hat das Raumsetting (,im Kindergartengebaude‘ versus ,im AuGengelande‘) Auswirkungen auf die Interaktion zwischen der padagogischen Fachkraft und einem Kind/ mehreren Kindern bzw. vollzieht sich im AuGengelande eine qualitatvollere Interaktion zwischen der padagogischen Fachkraft und einem Kind/ mehreren Kindern als im Kindergartengebaude? Um dieser Fragen nachzugehen, werde ich meine Bachelorarbeit wie folgt aufbauen:
Grundsatzlich besteht diese Arbeit aus zwei Abschnitten - einem theoretischen und einem qualitativen Teil. Im ersten Teil mochte ich zunachst die Bindungstheorie von Bowlby und die qualitativen Testsituationen von Ainsworth, die die Annahmen von Bowlby bestatigten, darlegen. Dies ist notwendig, da die Bindung als Grundlage fur enge zwischen-menschliche Beziehungen dient. Diese sind fur Kinder Voraussetzung, um Autonomie zu entwickeln und sich die Welt anzueignen (Mergeay 2009, o.S.)[3]. Somit ergibt sich also auch fur padagogische Fachkrafte aus dem Bereich der fruhkindlichen Bildung die Notwendigkeit, sich einen Uberblick uber die Bindungstheorie Bowlbys und Ainsworths empirischen Untersuchungen zu verschaffen und in der taglichen Arbeit zu berucksichtigen. Deshalb soll im nachsten Schritt das Konzept der Feinfuhligkeit, welches in der Eltern-Kind-Bindung von groGer Bedeutung ist, auf den Bereich der fruhkindlichen Bildung ubertragen und beispielhaft aufgezeigt werden, welche Untersuchungen (Remsperger 2011) und Konzepte (Gutknecht 2012) dazu bereits vorliegen. Im dritten Kapitel soll naher betrachtet werden, welchen Einfluss Raumsettings und - konzepte auf die Feinfuhligkeit der padagogischen Fachkrafte, die professionelle Responsivitat, haben. Im zweiten Teil der Arbeit soil mit Hilfe von Videodaten und deren Analyse das Interaktionsverhalten padagogischer Fachkrafte im Kindergartengebaude und im AuGengelande naher betrachtet werden. Im Fazit wird, neben einer Zusammenfassung der gesammelten Erkenntnisse, auf die zentralen Fragestellungen, ob das Raumsetting (,im Kindergartengebaude‘ versus ,im AuGengelande‘) Auswirkungen auf die Interaktion zwischen Fachkraft und Kind/ Kinder hat und ob sich im AuGengelande eine qualitatvollere Interaktion als im Kindergartengebaude vollzieht, ausfuhrlich eingegangen. Parallel dazu werden Schlussfolgerungen fur die Praxis formuliert.
2. Die Bedeutung von Sensitivitat im Handeln padagogischer Fachkrafte in Kindertageseinrichtungen
Um mich dem Themenfeld ,die Bedeutung von Sensitivitat im Handeln padagogischer Fachkrafte in Kindertageseinrichtungen‘ annahern zu konnen, ist es notwendig, dass ich mich zunachst mit der Bindungstheorie John Bowlbys auseinandersetze, die die Grundlage fur das Konzept der Feinfuhligkeit bildet. AnschlieGend wird eine Auseinandersetzung mit den Untersuchungen Mary Ainsworths zum Bindungsverhalten von Muttern und Kindern stattfinden. Ihre Erkenntnisse konnen auch in den Bereich der institutionellen Bildung und Erziehung ubertragen werden. Dies wird deutlich durch die Forschungsarbeit von Regina Remsperger. Sie nutzt das von Ainsworth entwickelte Konzept der Feinfuhligkeit, um die Interaktion zwischen padagogischer Fachkrafte und dem Kind/ den Kindern naher zu betrachten. Im letzten Teil des Kapitels stelle ich die von Dorothee Gutknecht beschriebenen Strategien der intuitiven Didaktik vor. Diese Verhaltensstrategien konnen von padagogischen Fachkraften in der Interaktion mit Kindern genutzt werden, um auf deren Signale prompt und angemessen zu reagieren.
2.1. Sensitivitat in der Eltern-Kind-Interaktion
Der Begriff der Sensitivitat, in Bezug auf die Interaktion zwischen einer erwachsenen Person und einem Kind, ist auf die Erkenntnisse John Bowlbys und die damit verbundene Entwicklung der Bindungstheorie in der Mitte des 20. Jahrhunderts zuruck zu fuhren. Die Ursprunge der Bindungstheorie gehen bis ins 19. Jahrhundert zuruck und beziehen sich auf die Evolutionstheorie von Charles Darwin. Mary Ainsworth hat in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die Bindungstheorie Bowlbys weiterentwickelt und dazu empirische Untersuchungen unternommen (Otto 2011, 392 ff). Auf Grundlage dieser Untersuchungen wurde eine Bindungsklassifikation des Kindes erstellt, bestehend aus vier verschiedenen Bindungstypen. Hierbei konnten auch Zusammenhange zwischen der Bindungs- sicherheit der Kinder und der Qualitat des mutterlichen Interaktionsverhaltens hergestellt werden (Otto 2011, 397 f; Grossmann 2008, 32 ff). Das Interaktions- verhalten der Bezugsperson sollte im Idealfall feinfuhlig - also sensitiv - sein (Otto 2011, 398; Grossmann 2008, 32). Ausgehend von diesen Erkenntnissen konnte u.a. nachgewiesen werden, dass „Bindungssicherheit ( ... ) zu einer kompe- tenteren Bewaltigung weiterer Entwicklungsaufgaben im sozioemotionalen und kognitiven Bereich“ (Otto 2011,399) fuhrt.
2.1.1. Die Entwicklung der Bindungstheorie
Bezugnehmend auf die Evolutionstheorie von Charles Darwin, die davon ausgeht, dass wahrend der Entwicklung von Lebewesen bzw. bestimmter Verwandtschafts- gruppen immer wieder adaptive Veranderungen auftreten, die es dem Lebewesen ermoglichen zu uberleben, entwickelte John Bowlby die Theorie , dass es sich beim Bindungssystem auch um ein „evolviertes Verhaltenssystem“ (Otto 2011, 392) handelt, das in der Vergangenheit das Uberleben des Sauglings sicherte. Ein Kind, das in widrigen Umweltbedingungen wie Kalte, Ubergriffe durch Raubtiere etc. aufgewachsen ist, hatte eine hohere Wahrscheinlichkeit durch „Bindungs- verhaltensweisen wie Weinen, Lacheln, Klammern oder Nachfolgen ( ... ) in engem Kontakt zu seinen Bezugspersonen zu bleiben“ (Otto 2011, 392 f). Somit schlussfolgerte Bowlby, dass das Bindungsverhalten ein uberlebenswichtiger Faktor war und es deshalb „im Laufe der Phylogenese im menschlichem Genom verankert wurde“ (Otto 2011,393). In einer Untersuchung an 44 bereits kriminell in Erscheinung getretenen Jugendlichen, in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts, stellte Bowlby fest, dass ein GroGteil schon in jungen Jahren die Mutter verloren hatten. Weiterhin konstatierte er, dass diese Jugendlichen dann einen GroGteil ihres Lebens in Kinderheimen verbrachten. Hier galt es zu dieser Zeit als Grundsatz ein Kind mit „Kontaktminimierung bei ausreichender Nahrung und Hygiene“ (Otto 2011, 391) so wenig wie moglich „zu verwohnen“ (Otto 2011, 391). Otto (2011, 391 f) macht darauf aufmerksam, dass selbst Fachliteratur und Ratgeber „bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts“ (Otto 2011, 391) diese Grundsatze vertraten: „Liebevolle Zuwendung, emotionale Nahe oder auch enger Korperkontakt blieben in diesen Empfehlungen weitestgehend ausge- klammert“ (Otto 2011, 392). Somit ergibt sich ein klares Bild von der Motivation Bowlbys, sich in der Mutter-Kind-Forschung zu engagieren und bestehende Grundsatze im Umgang mit Kleinstkindern und Kindern zu uberdenken und - arbeiten. Besonders der Bereich der institutionellen Pflege und Erziehung von Kindern, in dem Bowlby auch personliche Erfahrungen als Internatslehrer machte und der zu der damaligen Zeit oft verheerende Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder hatte (korperliche und geistige Entwicklungsverzogerungen, Hospitalismus etc.) (Otto 2011, 392), veranlasste ihn eine psychoanalytische Ausbildung zu machen, um in der, in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts neu entstandenen, Fachrichtung Kinderpsychiatrie tatig zu sein (Web- Dokument ,Integrative Psychotherapie‘)[4]. Bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts existierte in Bezug auf Bindung nur eine weit verbreitete psychoanalytische Erklarung. Diese besagt, dass Menschen nur aufgrund bestimmter Triebe Bindungen eingehen: In der Kindheit benotigt der Saugling andere Menschen, um z.B. Nahrung zu erhalten und im Erwachsenenalter ist der Sexualtrieb Grund fur die Menschen eine starke Beziehung miteinander einzugehen (Bowlby 1987, 22).
Neben dem evolutionsbiologischen Denken Darwins und den Einflussen der Psychoanalyse, denen Bowlby aber eher kritisch gegenuberstand, ist jedoch noch ein dritter und entscheidender Strang, in der Entstehung der Bindungstheorie, zu nennen. John Bowlby setzte sich zunehmend mit der ethologischen Forschung Konrad Lorenz u.a.[5]auseinander (Braun u.a. 2008, 281 f; Remsperger 2011, 44; Otto 2011, 393 f). Lorenz hatte bereits 1935 bei Untersuchungen[6]mit Vogelarten nachgewiesen, dass diese sich, wenn die naturliche Bezugsperson nicht prasent ist, auch auf Menschen fixieren, ihm hinterher schwimmen, nachlaufen oder fliegend begleiten. Bei diesem ersten nachgeburtlichen Lernvorgang, der so genannten sensiblen Phase (Otto 2011, 394; Braun u.a. 2008, 281) spricht man auch von Filialpragung (Braun u.a. 2008, 281). „Bowlby vermutete im Bindungssystem des Menschen einen analogen Mechanismus zum Pragungs- lernen: Auch hier gibt es eine sensible Phase - das erste Lebensjahr - und reflexhafte Verhaltensweisen - das Lacheln und Weinen eines Neugeborenen -, die zu einer dauerhaften Bindung weit uber die sensible Phase hinaus fuhren“ (Otto 2011, 394). Dies bedeutet, dass in der sensiblen Phase des Menschen fur gewohnlich eine Bindungsbeziehung aufgebaut wird. Wie sich diese allerdings entwickelt, hangt auch von Umwelteinflussen ab, sprich Bindung entsteht auch durch die Interaktion mit der Umwelt. Dies ist als ein Ergebnis der menschlichen Phylogenese zu betrachten. Das Bindungssystem, so Bowlbys Annahme, ist also in der Lage, sich auf mehrere InteraktionspartnerInnen und diverse Umweltbedingungen einzustellen (Braun u.a. 2008, 282; Otto 2011, 394). Hierin ist ein Hinweis auf die grundsatzliche Konstitution eines Kleinstkindes zu sehen: Kinder sind ab der Geburt in der Lage mit mehreren Personen feste Bindungen einzugehen. Bowlby widerlegt somit also das Konzept der „Monotropie“ (Grossmann 2008, 37), welches in der Tradition der Psychoanalytik steht (Otto 2011, 394; Grossmann 2008, 37). Das bedeutet, dass ein Kind auch auGerhalb der Familie - z.B. mit einer padagogischen Fachkraft - eine Bindungsbeziehung aufbauen kann, sofern das Verhalten des Interaktions- partners/ der Interaktionspartnerin gegenuber dem Kind angemessen ist. Welches Verhalten, einer padagogischen Fachkraft gegenuber einem Kind als angemessen zu bewerten ist, so dass eine sichere Bindung aufgebaut werden kann, wird in dieser Arbeit noch diskutiert.
2.1.2. John Bowlbys Konzeption von Bindung
Laut John Bowlby ist es fur Menschen typisch, intensive und gefuhlsbetonte „Beziehungen miteinander einzugehen“ (Bowlby 1987, 22). Er spricht dabei auch von einem emotionalen Band, das sich in der Beziehung zwischen Kind und Mutter innerhalb des ersten Lebensjahres[7]entwickelt (Bowlby 1982, 179 in Otto 2011, 395) - es kann also von einer besonderen Beziehung zwischen Bezugsperson (meistens die Mutter) und Kind gesprochen werden. Die Mutter nimmt somit in der Bindungstheorie John Bowlbys eine herausragende Stellung ein. Sie reagiert auf das Bindungsbedurfnis des Kindes, das sich durch verschiedenste Verhaltensweisen auGern kann, wie z.B.: Lachen, Weinen, Krabbeln, Folgen, Festhalten, Protest (Bowlby 1987, 23; Otto 2011, 395) und reagiert (im Normalfall) mit intuitivem Fursorgeverhalten, das dem Saugling physische und/ oder psychische Sicherheit gibt (Otto 2011, 395). Das Fursorgeverhalten der Mutter kann unterschiedlich ausfallen, so dass man Bindungstheorie auch im Zusammenhang mit der „Qualitat der Bindung“ (Gross- mann 2008, 29) betrachten muss. Das optimale Verhalten von Bindungspersonen erfordert von den Fursorgenden „erstens, verfugbar zu sein und zu antworten, wie und wann dies gewunscht wird, und zweitens, umsichtig einzugreifen, wenn sich das Kind ( ... ) in Schwierigkeiten bringt“ (Bowlby 1987, 25 f). Es kann also festgehalten werden, dass sich ein Kind zwar generell an verschiedene Muttertypen binden kann - auch wenn sich diese in der Interaktion mit dem Kind weniger optimal verhalt -, jedoch die Auspragung der Bindungsqualitat von der Fursorge (der Qualitat der Interaktion) der Mutter abhangig ist. Insofern ist das Bindungssystem des Kindes auf der einen Seite als „umweltstabil“ (Anpassung an verschiedenste InteraktionspartnerInnen) und auf der anderen Seite als „umweltlabil“ (Grad des Fursorgeverhaltens der Mutter) zu betrachten (Grossmann 2008, 28 f). Das bedeutet, dass nicht nur die Mutter, sondern auch Vater, Geschwister oder Personen auGerhalb der Familie naturliche Bindungsperson sein konnen (Grossmann 2008, 29) und das Kind eine optimale Interaktion erfahrt, wenn die Mutter bzw. die Bindungsperson durch promptes und angemessenes Antworten (Grossmann 2008, 30) auf die Signale des Kindes reagiert. Der hohe Anspruch, dem Bindungspersonen gerecht werden mussen, um prompt und angemessen auf die Signale eine Kindes zu reagieren und somit eine optimale Entwicklung des Kindes zu gewahrleisten[8], besteht im Kern aus den folgenden drei Punkten: Sie mussen in der Lage sein, die Signale des Kindes zu erkennen, korrekt zu interpretieren und sich daraufhin angemessen zu verhalten: „Feinfuhligkeit kann nur gelingen, wenn man aus der Sicht des Kindes handelt. Das Kind ,fuhlt‘, ob es verstanden wurde oder nicht“ (Grossmann 2008, 30).
Grossmann macht die differenten Interpretationsmoglichkeiten einer Bindungsperson und die daraus resultierenden verschiedenen Verhaltensweisen eines Kindes an einem Beispiel deutlich: „Die Integration negativer Gefuhle in eine kommunikative Strategie erlebt z.B. ein Saugling, der argerlich auf die Trennung von seiner Mutter reagiert. Wenn die Mutter den Arger als Signal der Unsicherheit interpretiert, wird sie zuruckkommen, um das Kind zu vergewissern und es eventuell mit einer anderen Basis zu versorgen. Auf diese Weise steht die Funktion des Ausdrucks von Arger und Distress klar und eindeutig im Dienste von Nahe und psychischer Sicherheit. Wenn jedoch die Mutter den kindlichen Arger etwa als gegen sie gerichtete Aggression interpretiert, konnte sie dazu neigen, das kindliche Verhalten zu ignorieren oder zuruckzuweisen. Unter solchen Bedingungen wurde sich der Arger-Ausdruck des Kindes „dysfunktional“ entwickeln und seinen Zweck verfehlen, weil das Ziel von Nahe und psychischer Sicherheit nicht erreicht wird und der Arger dadurch schwellt“ (Grossmann 2008, 31). Dieses Beispiel macht deutlich, dass die differente Interpretation der kindlichen Signale durch die Mutter bei dem Kind unterschiedlichste Verhaltensweisen auslost. Dies hat wiederum auf die Bindungsqualitat zwischen Mutter bzw. Bindungsperson und Kind Auswirkungen. Wahrend es die Mutter im ersten Beispiel versteht, den Arger des Kindes als Ausdruck von Unbehagen und Unsicherheit zu interpretieren und sich daraufhin angemessen zu verhalten, wird im zweiten Beispiel deutlich, dass nicht nur die Fehlinterpretation auf die gegenwartige Situation Einfluss hat - namlich, dass sich das Kind nicht beruhigt und weiterhin schreien wird -, sondern besonders auf das zukunftige Verhalten des Kindes und dessen Fahigkeiten, die Bindungsperson durch eindeutige Handlungen und Verhaltensweisen auf seine situativen Gefuhlslagen (hier: Unsicherheit und Angst) und Bedurfnisse aufmerksam zu machen. Werden die Signale des Kindes nicht erkannt oder korrekt interpretiert bzw. handelt die Mutter aus dem obigen Beispiel nicht angemessen, so wird der Arger-Ausdruck des Kindes keine Veranderung bewirken und lost beim Kind Desorganisation aus. Die Signale konnen auch als „Informationstrager“ (Grossmann 2008, 31) gedeutet werden, durch diese die Mutter bzw. die Bindungsperson die Gelegenheit erhalt, das Kind in seiner gesamten Personlichkeit kennenzulernen. Dies sollte von der Mutter bzw. der Bindungsperson als eine Gelegenheit und Chance betrachtet werden, fordert aber auch gleichzeitig von ihnen, sich auf diese ,Einladung des Kindes‘ feinfuhlig einzustellen (Grossmann 2008, 31).
Wie bereits oben erwahnt, finden Bindungserfahrungen und Situationen, in denen das Kind entsprechende Verhaltensweisen zeigt, besonders im Sauglingsalter statt. Bowlby belegt das an einem Modell, nachdem sich Bindung in vier Phasen entwickelt (Bowlby 1969/ 1982 in Otto 2011, 395). Die ersten drei Phasen durchlauft das Kind in den ersten 12 Monaten seines Lebens. In dieser Zeit durchlauft das Kind verschiedene Stadien der Bindung. Wahrend in den ersten sechs Monaten nach der Geburt die Bindungsperson noch beliebig wechseln kann, ohne das dies Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes hatte (erste Phase; „preattachement“), erlebt das Kind in den folgenden sechs Monaten die Phase der starksten Pragung. Hierbei kommt es zu immer festeren Bindungen zwischen Kind und Bindungsperson(en) (zweite Phase; „attachement in the making“). Mit dem Einsetzen der Lokomotion des Kindes im siebten bis achten Monat, beginnt es damit, sich aktiv in die Nahe der Bezugsperson und von ihr weg zu bewegen. Hier wird erstmalig das Explorationssystem, als komplementares Verhaltenssystem gegenuber dem Bindungssystem, deutlich. Die Mutter bzw. Bindungsperson stellt nun immer mehr eine sichere Basis fur das Kind dar. Von dieser Basis aus erkundet das Kind nun mehr und mehr seine Umwelt und kehrt besonders dann zuruck, wenn es angstlich oder mude ist (Bowlby 1987, 25). In den ersten 12 Monaten entwickelt sich eine sehr innige Beziehung zwischen Bezugsperson und Kind, das „eine Vorstellung erworben (hat) von der Verlasslichkeit und den Reaktionen seiner Bezugsperson in Gefahren- situationen“ (Otto 2011, 396) (dritte Phase; „clearcut attachement“). Die vierte und letzte Phase („goal-corrected partnership[1]') ist durch partnerschaftliches Handeln gepragt. Dies bedeutet, dass sich die Mutter bzw. die Bindungsperson und das Kind „in die Lage des anderen versetzen und den Zustand des anderen in ihren Planungen berucksichtigen“ (Otto 2011, 396). An dieser Stelle wird deutlich, welche Bedeutung bereits das erste Lebensjahr auf die kindliche Entwicklung (insbesondere auf die Entwicklung des Bindungssystems) hat und welche Anforderungen an Mutter bzw. Bindungspersonen bestehen. In den ersten 12 Monaten werden entscheidende Weichen fur den weiteren Lebensweg gestellt. Diese Erkenntnisse haben selbstverstandlich auch weitreichende Auswirkungen auf die Fachkrafte in den Kitas. Werden Kinder, die erst einige Monat alt sind, bereits in der Krippe betreut, so mussen die padagogischen Fachkrafte in der Lage sein, auf deren Signale feinfuhlig zu reagieren. Dieser Anspruch setzt sich selbstredend in der Arbeit mit alteren Kindern fort und ist ein Zeichen professionellen Handelns.
Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass ein Kind in der Lage ist, sein Bindungsverhalten nach einer klaren Praferenz auf eine Person oder mehrere Menschen auszurichten und diese uber einen langen Zeitraum aufrecht zu erhalten. Eine erste Bindung zu einem anderen Menschen entwickelt ein Kind in der Regel in den ersten 12 Monaten seines Lebens, wobei dadurch aber noch keine Aussage uber die Qualitat der Bindung getroffen werden kann. Im Verlauf des Lebens konnen Bindungen aufgegeben werden bzw. bestehende Bindungen durch neue erganzt werden, wobei dies immer mit intensiven Emotionen gekoppelt ist. Das Kind ist auf eine Bindungsperson angewiesen, da es diese Person braucht, um bestimmte „Aktivitaten“ (Bowlby 1987, 24), wie z.B. „Fremdheit, Hunger, Mudigkeit und alles, was Angst auslost“ (Bowlby 1987, 24) zu beenden. Dies gelingt, indem die Mutter bzw. die Bindungsperson die Signale des Kindes erkennt, diese korrekt interpretiert und entsprechend feinfuhlig darauf eingeht. Es ist auch die Mutter bzw. die Bindungsperson, die das Kind beim Explorieren unterstutzt und es in die Welt ,entlasst‘. Die Muster von Bindungsverhalten sind bis ins Erwachsenenalter individuell ausgepragt und hangen von verschiedenen Faktoren wie Geschlecht, sozialer Stellung, fruhen Bindungserfahrungen, die eine Person erlebt hat und dem Alter ab (Bowlby 1987, 23). Aufgrund der in diesem Abschnitt erarbeiteten Ergebnisse, habe ich folgende Definition fur Bindung gewahlt: „Bindung entwickelt sich also in der Interaktion von Bezugsperson und Kind, d.h. in einem dyadischen und dynamischen Prozess ( ... ), der als Ziel den Zustand der Ausgeglichenheit anstrebt, d.h. die physische und psychische Sicherheit des Kindes“ (Otto 2011,395).
2.1.3. Die Fremde Situation
Mary Ainsworth, die in den 1950er Jahren zum Forschungsteam John Bowlbys stieG, hat durch ihre Felduntersuchungen in Uganda die Bindungstheorie der ersten empirischen Untersuchung zuganglich gemacht. In dieser Untersuchung hat sie „13 Verhaltensmuster identifiziert, welche die Bindung des Kindes an die Mutter und kurze Zeit darauf an andere bevorzugte Personen erkennbar machen“ (Ainsworth 1964, 108 f). Die hier erstellten Operationalisierungen nutzte sie als Grundlage, um spater Untersuchungen in den USA zum Bindungsverhalten von Mutter und Kind durchzufuhren. Hierbei ergab sich das Problem, dass die Untersuchungen zunachst zu Hause durchgefuhrt werden sollten und sich gezeigt hatte, dass die Kinder in dieser Situation selten beunruhigt waren (Otto 2011, 397). Aufgrund dieser Tatsache wurden zwei Raume (die mit einem Einwegspiegel verbunden waren) in der Universitat eingerichtet, um hier die Untersuchung stattfinden zu lassen[9]. In Raum 1 wurde eine ,Fremde Situation‘ geschaffen, in der Kind, Mutter und eine fremde Person, nach festgelegten Sequenzen, agierten. Durch die Untersuchungen sollte u.a. die Ainsworths Hypothese, dass die Mutter nicht nur auf das Bindungsverhalten, sondern auch auf das Explorationsverhalten des Kindes positiv wirkt, belegt werden. Diese Annahme ist auf die Erkenntnisse ihres Forschungsaufenthalts in Uganda zuruckzufuhren (Ainsworth u.a. 1969, 112 f). Fur die Untersuchung wurden 56 Kinder im Alter von 49 bis 51 Wochen beobachtet (Ainsworth u.a. 1970, 150). Die Fremde Situation ist in acht jeweils ca. drei Minuten dauernde Episoden aufgeteilt, in denen das Kind zunehmendem Stress ausgesetzt wird. Dieses „Minidrama“ (Otto 2011, 397) ist in Tabelle 1 dargestellt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 1: Episoden in der Fremden Situation (Ainsworth u.a. 1969, 115) *Episode wird abgekurzt, wenn das Baby sehr verzweifelt ist.
Die Standardisierung der Untersuchung erlaubte den Forscherinnen eine Bindungsklassifikation, die anhand der „Reaktionen der Kinder bei den zwei Trennungs- und Wiedervereinigungssituationen mit der Mutter sowie (durch) das Interaktionsverhalten der Kinder gegenuber der fremden Person“ (Otto 2011, 397) beobachtet werden konnten, zu erstellen (Ainsworth u.a. 1969, 132):
Sicher gebundene Kinder (Gruppe B) zeigen in der Trennungssituation ihre Emotionen deutlich und versuchen der Mutter zu folgen. Bei der Wieder- vereinigung suchen sie Kontakt zur Mutter, suchen ihre Aufmerksamkeit (hochnehmen) und beruhigen sich wieder. Bei Anwesenheit der Mutter explorieren die Kinder die Umgebung und interagieren mit der fremden Person. Unsicher-vermeidende Kinder (Gruppe A) zeigen ein hohes Explorationsverhalten (auch bei Abwesenheit der Mutter). Sie zeigen kaum Bindungsverhalten, sind unbeeindruckt von der Trennung der Mutter und ignorieren die Ruckkehr bei der Wiedervereinigung.
Unsicher-ambivalente Kinder (Gruppe C) zeigen Emotionen in der Trennungs- situation, die sich besonders durch Arger manifestieren. Bei der Wiedervereinigung konnen sich die Kinder kaum beruhigen - sie sind uberwaltigt von ihren Emotionen, klammern sich an die Mutter, sind dadurch aber nicht zu trosten und bleiben zornig. Mit der fremden Person interagieren sie nicht (auch nicht bei Anwesenheit der Mutter).
In den 1980er Jahren wurde eine weitere Kategorie erstellt (Main und Solomon 1986):
Die desorganisierte Bindung (Gruppe D). Kinder, die in keine der drei oben genannten Kategorien eingestuft werden konnten, durch merkwurdige, stereotype Verhaltensweisen auffielen und vollige Emotionslosigkeit zeigten, wurden in dieser Gruppe zusammengefasst. Sie haben anscheinend keine Strategie, um mit Trennungs- und Wiedervereinigungssituationen umzugehen (Otto 2011, 397 f; Remsperger 2011,47).
Weiterhin hat Ainsworth in dieser Studie Skalen zur „Qualitat der Fursorge durch die Mutter“ (Ainsworth u.a. 1974, 262 ff) herausgearbeitet, „wovon die Skala ,Feinfuhligkeit versus Unfeinfuhligkeit gegenuber den Mitteilungen des Babys‘ die bekannteste geworden ist“ (Remsperger 2011, 46). Ainsworth macht anhand dieser Klassifikation - „sensitivity - insensitivity[1]' (Ainsworth u.a. 1974, 251) deutlich, dass feinfuhliges Verhalten von Muttern im Alltag dazu fuhrt, dass Kinder „in der Fremden Situation haufiger sicheres Verhalten (zeigen), wohingegen Kinder von Muttern, die sich im Alltag als wenig feinfuhlig erwiesen, in der Fremden Situation haufiger unsicheres Verhalten zeigten“ (Otto 2011, 398). Ausgehend von der Klassifikation ,sensitivity - insensitivity[1] „definiert Ainsworth das feinfuhlige Verhalten einer Mutter gegenuber ihrem kleinen Kind anhand von vier Merkmalen“ (Remsperger 2011,46):
- Kindliche Signale wahrnehmen
- Diese Signale korrekt interpretieren
- Prompt reagieren
- Die Reaktion muss angemessen sein (dem Verlangen des Kindes angepasst) (Ainsworth 1974, 273 f).
Diese Merkmale verlangen von der Mutter bzw. der Bindungsperson, dass mit dem Kind kooperiert wird, wobei die Personlichkeit und Autonomie respektiert werden muss. Somit kann bei feinfuhligem Verhalten auch nicht von ,Verwohnen‘ gesprochen werden, da das FeinfuhligkeitsmaG immer an den aktuellen Signalen und Bedurfnissen des Kindes ausgerichtet sein soll und somit dazu beitragt, die Integritat des Kindes herzustellen (Ainsworth u.a. 1974, 274). An dieser Stelle wird die Bedeutung des Konzepts der Feinfuhligkeit fur den Bereich der institutionellen Bildung und Erziehung von Kindern deutlich. Kinder, die sich noch in der Phase des „autonom werden“ (Schulze 2010, 10) befinden, benotigen Unterstutzung in ihrer Entwicklung und Sozialisation (Schulze 2010, 10). Diese Bedurfnisse (hierunter zahlt auch das Bedurfnis nach feinfuhligem Verhalten des Erwachsenen) mussen auch Professionelle erkennen und, entsprechend den 4 oben genannten Merkmalen fur Feinfuhligkeit, darauf reagieren. Weiterhin ist dies ein Hinweis darauf, dass nicht nur die Mutter bzw. die Bindungsperson das Bindungs- bzw. Explorationsverhalten des Kindes unterstutzen mussen, sondern auch Professionelle aufgefordert sind, dem Kind eine ,sichere Basis‘ zu sein und Bindungssicherheit fur weitere Entwicklungsaufgaben zu geben.
2.2. Sensitivitat in der Fachkraft-Kind-Interaktion
Wie oben dargestellt, ist eine gelungene Beziehung zwischen Kind und Erwachsenen als Pradiktor fur die weitere positive Entwicklung des Kindes zu werten. Bindungspersonen geben dem Kind nicht nur Halt und Sicherheit in Situationen, in denen es sich unsicher fuhlt und Angst zeigt, sondern unterstutzen es auch bei der kindlichen Exploration, dem Erobern der Umwelt. Kann eine Bindungsperson diese Qualitat der Beziehung nicht gewahrleisten, so ist das Kind nicht in der Lage, die vielfaltigen Umwelteindrucke zu nutzen und sich anzueignen. Somit ergibt sich also, dass „der Aufbau sicherer Bindungsbeziehungen ( ... ) von besonderer Bedeutung fur den Verlauf kindlicher Bildungsprozesse und die Qualitat der Beziehungen zwischen dem Heranwachsenden und seinen Bezugspersonen ( ... ) von grower Bedeutung fur dessen Weltkonstruktion (ist)” (Viernickel 2007, 5 in Schelle 2011, 21). Hier wird deutlich, dass sich Kinder nicht alleine dadurch Wissen aneignen, weil sie sich sicher und selbstandig in einer Welt, die aus vielfaltigsten Reizen und Informationen besteht, bewegen. Es ist ebenso wichtig, dass sie beim Sortieren dieser Eindrucke Unterstutzung erfahren und Hilfestellung bei der Entwicklung von Wissensstrukturen erhalten (Schelle 2011, 21): „Der Anregungsgehalt einer Umwelt (muss) uber soziale Vermittlung transportiert werden ( ... ), um mentale Kompetenz entstehen zu lassen” (Ahnert 2006, 19 in Schelle 2011, 21). Schelle verweiGt auf Studien die zeigen, dass Kinder, die im Vorschulbereich eine sichere Bindung zu einer Fachkraft hatten, „eine hohe Lernmotivation und mehr empathisches und kooperatives Verhalten zeigten sowie unabhangiger und zielorientierter waren, als Kinder mit unsicheren Bindungserfahrungen zur Fachkraft” (Schelle 2011, 21). Eine intensive Beziehung zwischen Fachkraft und Heranwachsenden ist also nicht nur zu Beginn der Kindergartenzeit, wenn ein Kind individuelle Zuwendung und Sicherheit erfahren will, von hoher Bedeutung, sondern auch im weitern Verlauf essentiell, da das Begleiten (,Assistent sein’) und die Unterstutzung der Exploration des Kindes als ein wesentliches Element in der Arbeit einer Padagogischen Fachkraft betrachtet werden kann (Schelle 2011, 21).
Es wird also ganz deutlich, dass auch an padagogische Fachkrafte Anforderungen gestellt werden, wie sie die Beziehung zu einem Kind gestalten sollten, damit sich eine intensive und sichere Bindung zu dem Jungen oder dem Madchen entwickeln kann. Dabei orientieren sich diese Anforderungen an der Klassifikation ,sensitivity - insensitivity[1] von Mary Ainsworth, was ich in den folgenden zwei Abschnitten verdeutlichen werde.
2.2.1. Das Konzept der Sensitiven Responsivitat
Das gegenwartige Bildungsverstandnis geht davon aus, dass Kinder in selbsttatiger Auseinandersetzung mit der Umwelt sich ihre Welt aneignen. Dabei werden sie von Erwachsenen unterstutzt, die das Kind als kompetentes Individuum betrachten, das von der Geburt an in der Lage ist, sich Bildung anzueignen und diesen Vorgang als Prozess verstehen, der nicht abschlieGt, sondern sich bis ins (hohe) Alter fortsetzt (TKM 2008, 13 ff; Schafer 2005 a, 30 ff). Diese Haltung, deren Grundlage ein humanistisches Menschenbild ist, ist eine Grundvoraussetzung - man konnte von einem Berufsethos sprechen - fur die Arbeit padagogischer Fachkrafte in Kitas. Bereits Jean Piaget beschrieb in seiner Theorie zur kognitiven Entwicklung bzw. zur Konstruktionsleistung kindlichen Denkens, dass die aktive Auseinandersetzung zwischen Organismus und Umwelt Basis „fur jegliches biologisches und intellektuelles Funktionieren” (Piaget 1975, 339 in Remsperger 2011, 27) ist. Aber wie bereits oben beschrieben, ist die Auseinandersetzung mit der Umwelt alleine noch nicht ausreichend fur das Kind, um sich Wissensbestande anzueignen. Das Kind benotigt einen Assistenten/ eine Assistentin, zur Strukturierung der Eindrucke. Lern- und Entwicklungsprozesse konnen aber nur stattfinden, wenn die Beziehung zwischen der padagogischen Fachkraft und dem Kind durch Feinfuhligkeit gepragt ist. Regina Remsperger hat hierzu eine Studie veroffentlicht. Sie hat die Feinfuhligkeit im Interaktionsprozess zwischen padagogischer Fachkraft und Kind anhand von Videostudien analysiert, „um die zentrale Funktion, die einem feinfuhligen Verhalten fur die Bildungs-, Lern- und Entwicklungsprozesse der Kinder zukommt, naher zu betrachten” (Remsperger 2011, 22). Im Verlauf ihrer Arbeit macht Remsperger deutlich, dass innerhalb der BRD ein Mangel an Interaktionskultur im Bereich der fruhkindlichen Bildung herrscht (Remsperger 2011, 83). An dieser Stelle lasst sich eine Forschungslucke erkennen, die die Intentionen Remspergers aber auch die generelle wissenschaftliche Notwendigkeit, Sensitive Responsivitat padagogischer Fachkrafte gegenuber Kindern im Kitaalltag zu untersuchen, deutlich werden lasst. Als Grundlage diente ihr das Konzept der Feinfuhligkeit von Mary Ainsworth, welches mit weiteren Konzepten[10]in Verbindung gebracht wurde. In Anlehnung an diese verschiedenen Konzepte arbeitete Remsperger eine Definition zu padagogischer Feinfuhligkeit aus. Hierzu wahlte sie eine „Kombination der Begriffe ,Sensitivitat‘ und ,Responsivitat‘. Wahrend , Responsivitat die Reaktion der Fachkraft an sich fokussiert (Erfolgt uberhaupt eine Reaktion?), umfasst der Begriff der ,Sensitivitat‘ verstarkt einen qualitativen Faktor (Wie feinfuhlig ist die Reaktion?)“ (Remsperger 2011,275). Unter Berucksichtigung der Erkenntnis, dass die Betrachtung der Dimensionen ,Quantitat‘ und ,Qualitat‘ von herausragender Bedeutung ist, um von Feinfuhligkeit in der padagogischen Interaktion zu sprechen, verfasst Remsperger folgende, an Ainsworth angelehnte, Definition zur Begrifflichkeit ,Sensitive Responsivitat: „Eine Erzieherin, die mit Sensitiver Responsivitat auf die Signale von Kindergartenkindern reagiert, muss die Signale des Kindes bemerken und sich auf die Signale des Kindes hin angemessen verhalten“ (Remsperger 2011, 276). Remsperger hat mit dieser Formulierung nicht nur eine Definition, sondern auch eine Grundlage, fur professionell gestaltete Interaktionen zwischen Erwachsenen und Kind verfasst, die auch im weiteren Verlauf dieser Arbeit von Bedeutung sein wird.
Weitere zentrale Ergebnisse ihrer Studie machen deutlich, dass sich Sensitive Responsivitat unabhangig vom „Erzieher-Typ“ (Remsperger 2011, 279) gestaltet. Das bedeutet, dass eine padagogische Fachkraft in unterschiedlichen Situation auch unterschiedlich sensitiv-responsiv sein kann. Parallel dazu zeigt ein weiteres Resultat, dass sich Sensitive Responsivitat auch losgelost von der padagogischen Situation gestaltet (Remsperger 2011, 278): „Die Analyse der Videoszenen hat gezeigt, dass sich Erzieherinnen grundsatzlich in jeder Situation feinfuhlig verhalten konnen. Dabei spielt es keine Rolle, in welcher padagogischen Situation sie mit Kindern interagieren“ (Remsperger 2011, 278). Padagogischen Fachkraften gelingt es, „trotz Ablenkung und weiterer widriger Umstande ( ... ), insgesamt gesehen, weitgehend sensitiv-responsiv mit den Kindern umzu- gehen“ (Remsperger 2011,278). Remsperger weiGt darauf hin, dass bereits Konig (2006) in ihrer Video-Studie festgestellt hat, „dass die Atmosphare in den Kindergarten generell durch ein ,Wertschatzendes Eingehen auf das einzelne Kind‘ dominiert wurde“ (Remsperger 2011, 278). Auf diese Erkenntnis werden ich am Ende der Arbeit noch einmal Bezug nehmen und auch diskutieren.
2.2.2. Die Strategien der intuitiven Didaktik und deren reflexive Nutzung
Wie weiter oben bereits herausgearbeitet, ist die Entwicklung eines Kindes von der Responsivitat der Bindungspersonen abhangig. Bindungspersonen konnen auch padagogische Fachkrafte, die taglich mit Kindern zusammenkommen und mit ihnen Interaktionen eingehen, sein. Wahrend ich im vorherigen Abschnitt durch Remspergers Untersuchungen aufgezeigt habe, dass Sensitive Responsivitat in der Interaktion zwischen Fachkraften und Kindern in der Kita tatsachlich beobachtet werden und sich in verschiedensten Situationen zeigen kann, sollen im folgenden Abschnitt Verhaltensstrategien dargestellt und erlautert werden, die von padagogischen Fachkraften in der Interaktion mit Kindern genutzt werden konnen, um auf deren Signale prompt und angemessen zu reagieren. Allerdings beziehen sich die Ausfuhrungen von Dorothee Gutknecht auf die Arbeit im Krippenbereich. Die Kinder in den Videos, die ich im zweiten Teil dieser Arbeit analysieren werde, sind im Alter zwischen drei und sechs Jahren. Trotzdem sind die professionell- responsiven Strategien (Gutknecht u.a. 2012, 38), die Gutknecht erlautert und zu denen sie Handlungshinweise fur die Praxis gibt, auch fur padagogische Fachkrafte, die mit Kindern uber drei Jahren arbeiten, von hoher Bedeutung. SchlieGlich ist doch eine entscheidende Kompetenz padagogischer Fachkrafte in der Interaktion mit Kindern „Verhalten und Korpersignale von Kindern zutreffend einschatzen und responsiv und einfuhlsam auf sie eingehen zu konnen“ (Gut- knecht 2012, 5). Auch wenn Gutknecht, unter Berufung auf Kenntnisse aus den Pflegewissenschaften, verdeutlicht, dass pflegerische MaGnahmen - deren Anteile im U3-Bereich logischerweise viel hoher sind, als bei alteren Kindern - starker beziehungsorientiert ausgefuhrt werden mussen, so ist das fur mich kein Grund, die hier genannten Verhaltensstrategien bloG auf den Krippenbereich zu beziehen:
1. ) Es ergeben sich auch mit alteren Kindern immer wieder Situationen im Kitaalltag, bei denen die Pflege im Mittelpunkt steht. Diese Situationen unterscheiden sich allerdings dahingehend, dass die padagogische Fachkraft eher die Aufgabe hat, anzuleiten und das Handeln des Kindes sprachlich zu begleiten, als selbst aktiv an der Pflege mitzuwirken. Dennoch muss die padagogische Fachkraft auch in einer solche Situation responsives und einfuhlsames Verhalten dem Kind gegenuber zeigen und beziehungsorientiert agieren.
2. ) Intensive Interaktionen zwischen padagogischer Fachkraft und Kind finden nicht nur in Pflegesituationen statt. Aus meiner eigenen Praxiserfahrung kann ich behaupten, dass intensive Interaktionen in verschiedensten Alltagssituationen stattfinden konnen, so z.B. in Essenssituationen, wahrend des Freispiels oder auch bei Bildungsangeboten. Diese Situationen erfordern allerdings nicht zwangslaufig eine Beteiligung von Fachkraften. Besonders Kinder uber 3 Jahren sind schon oftmals in der Lage, ohne Unterstutzung zu essen oder Spiel- situationen mit anderen Jungen und Madchen selbsttatig zu gestalten. Es ist entscheidend, dass padagogische Fachkrafte aber auch solche Situationen von Zeit zu Zeit begleiten und sich als InteraktionspartnerIn anbieten, um mit dem Kind/ der Kindergruppe gemeinsam Probleme zu losen, Gedankengange zu sortieren und besprechen oder Geschichten weiter zu erzahlen. Die hier beschriebene Strategie des sogenannten ,sustained shared thinking[1] ist eine Moglichkeit, Interaktionsprozesse qualitatvoll zu gestalten und kann in verschiedensten Situationen und auch mit mehreren Kindern angewandt werden (Strehmel 2007, 12). Intensive Interaktionsprozesse konnen also in verschiedensten Situationen und mit Kindern unterschiedlichsten Alters stattfinden, allerdings mussen padagogische Fachkrafte in der Lage sein, diese Situationen zu erkennen und zu nutzen.
Bei der intuitiven Didaktik handelt es sich um „das Zusammenspiel von biologisch verankerten Fahigkeiten und Motivationen ( ... ), die sowohl auf Seiten des Sauglings als auch seitens der Eltern angelegt sind und einander auf erstaunliche Weise erganzen. Die intuitive Didaktik gilt als Teil des artspezifischen, uberlebenswichtigen Brutpflegeverhaltens. Die Eltern, aber auch - und dies wird immer betont - andere Bezugspersonen, zeigen im Umgang mit Sauglingen und Kleinkindern ganz spezifische ,intuitive Kommunikationsfahigkeiten‘“ (Gutknecht 2012, 5). Das bedeutet also, dass bestimmte Interaktionsmuster vom Menschen ,verinnerlicht‘ wurden und stets abrufbar sind. Markantes Verhalten im Umgang mit Kindern, wie z.B. sprechen mit heller Stimme, das Kind wiegen, um seine Emotionen zu regulieren oder als GruGreaktion die Augenbraue hoch- zuziehen, wird automatisch und ganz intuitiv gezeigt (Gutknecht 2012, 5). Kinder losen diese Kommunikationsstrategien aber nicht nur in ihren Eltern aus, sondern auch bei weiteren Bindungspersonen, wie z.B. padagogischen Fachkraften. An dieser Stelle wird deutlich, dass der Einsatz dieser Verhaltensmuster reflektiert geschehen muss. Padagogische Fachkrafte mussen sich also der Bedeutung bestimmter responsiver Strategien bewusst werden und lernen, diese im Kitaalltag nicht nur intuitiv, sondern gezielt und fachlich begrundet einzusetzen.
Im weiteren Verlauf werde ich nun sechs intuitiv-didaktische Strategien vorstellen, die bei reflexiver Nutzung als professionell-responsive Strategien zu bewerten sind (Gutknecht 2012, 38). Ich habe mich bewusst fur die folgenden Strategien entschieden, da diese auch unabhangig von sprachlichen AuGerungen seitens der padagogischen Fachkrafte zu beobachten sind. Die im folgenden beschriebenen Strategien konnen also als Grundlage fur die spatere Videoauswertung genutzt werden, da ich mich auf nonverbale und paraverbale AuGerungen bei den Fachkraften konzentrieren werde.
2.2.2.1. Der triangulare Blickkontakt
Der triangulare Blickkontakt ermoglicht dem Kind „die Welt der Personen mit der Gegenstandswelt zu verbinden“ (Gutknecht 2012, 40). Diese kindliche Kompetenz ist Voraussetzung, um das oben beschriebene ,sustained shared thinking[1] als effektive Interaktionsstrategie anzuwenden. Das Kind ist zunachst in der Lage nur einem zu folgen: Entweder dem Gesicht des Interaktionspartners/ der Interaktionspartnerin oder einem von ihm/ ihr in die Situation eingefuhrten Spielgegenstand. Das Kind kann an der Stelle noch keine Verbindung zwischen beidem herstellen. Damit sich diese Fahigkeit bei dem Kind entwickeln kann, um somit die Grundlage fur zukunftige qualitatvolle Interaktionen zwischen Fachkraft und Kind(ern) zu legen, mussen padagogische Fachkrafte permanent versuchen einen „Face-to-face-Austausch mit den Kindern ( ... ) herzustellen“ (Gutknecht 2012, 41). Allerdings muss dieses Engagement seitens der padagogischen Fachkrafte auch dann weiter aufrecht erhalten bleiben, wenn das Kind den Entwicklungsmeilenstein des ,triangularen Blickkontakts‘ genommen hat. Denn dann konnen in „Situationen geteilter Aufmerksamkeit“ (Gutknecht 2012, 41) (,sustained shared thinking‘) mit Hilfe von Gegenstanden, die Teil der Interaktion sind, „Blickdialoge“ (Gutknecht 2012, 41) hergestellt werden. Und genau diese Blickdialoge zwischen Kind, Fachkraft und (Spiel-) Objekt, und die sich daraus im weiteren Verlauf entwickelnden sprachlichen Dialoge, sind zentrale Grundlage fur die kognitive und sprachliche Entwicklung des Kindes.
Der triangulare Blickkontakt als nonverbales Merkmal fur eine qualitatvolle Interaktion.
2.2.2.2. Einuben von Dialogregeln
Das Kind erschliefet sich, aufgrund von Anregung und Stimulation durch kompetente erwachsene Menschen, „kulturspezifische, ritualisierte Verhaltens- weisen aus denen Sicherheit und Struktur zur Gestaltung von Kommunikation gewonnen wird“ (Gutknecht 2012, 41). Diese Dialogregeln sind Grundvoraus- setzungen fur das Kind, um sich im weiteren Entwicklungsverlauf mit Interaktionspartnerlnnen (Erwachsene und Kinder) verbal auseinanderzusetzen. Fur die verbale Auseinandersetzung benotigt der Mensch allerdings nonverbale Zeichen und Signale, sozusagen ,Spielregeln‘ fur Konversationen. Gutknecht beschreibt das ,Turn-Taking‘ als entscheidende Strategie fur einen gelungenen Dialog (Gutknecht 2012, 41 f). ,Turn-Taking‘ bedeutet, dem Dialogpartner/ der Dialogpartnerin zu signalisieren, wenn ein Sprecherwechsel stattfindet. Diese ,Turn-Taking-Signale‘ werden intuitiv ausgesandt und wurden bereits im Mutter-Saugling Kontext erforscht (Horsch 2004 in Gutknecht 2012, 41). Bei den Untersuchungen von Horsch wurde deutlich, dass Mutter bestimmte (intuitive) Strategien besitzen, um ihren Kindern „ein eindeutiges Signal zu geben, dass es nun mit der antwortenden Turn-Ubernahme an der Reihe ist“ (Gutknecht 2012, 42). Turn-offnende Angebote, um den Kind den Sprecherwechsel zu signalisieren, sind folgende nonverbale AuGerungen:
- Das Halten des Blickkontakts, bis das Kind ihn von sich aus abbricht,
- der Gebrauch von Stimm-Modulationen, die eine auffordernde Intonations- struktur haben,
- Veranderungen der Korperhaltung, durch die optisch ein Raum geschaffen wird, in den das Kind sich einbringen kann,
- Pausensetzungen, die Raum schaffen fur eine Antwort (Gutknecht 2012, 41 f).
Im Professionskontext betrachtet, ist das Wissen und Anwenden des Turn- Wechsel Prinzips fur padagogische Fachkrafte von groGer Bedeutung. Sie mussen in der Lage sein, „Signale des Raumgebens uber Korperausdruck und Stimme in der Interaktion mit dem Kind zeigen zu konnen“ (Gutknecht 2012, 42), um somit ein ,Spielfeld‘ fur den gemeinsamen Dialog zu eroffnen.
Das Einuben von Dialogregeln (,Turn-Taking-Signale‘) als nonverbales Merkmal fur eine qualitatvolle Interaktion.
2.2.2.3. Spannung ab-/ aufbauen mit der Stimme
Die Stimme kann seitens der padagogischen Fachkraft eingesetzt werden, um ein Kind, das emotional angespannt ist, weint oder schreit, zu beruhigen. Der mutterliche intuitive Einsatz der Stimme, um sprachlich beruhigend und entspannend auf das Kind einzuwirken, wird ,Motherese‘ genannt. Weiterhin ist es im Rahmen der ,Motherese‘ moglich, mit eher hohen Frequenzen und steigender Melodie beim Kind Aktivitaten anzuregen. Im Professionskontext wird der bewusste Einsatz der Stimme als ,Teacherese‘ bezeichnet (Papousek und Papousek 1987 in Gutknecht 2012, 46).
In einer fur das Kind stressigen Situation ist die padagogische Fachkraft angehalten, „eine dunklere Stimmfarbung und eine langsam fallende Sprechmelodie“ (Gutknecht 2012, 46 f) zu verwenden, um das Kind beim Spannungsabbau zu unterstutzen. Zusatzlich ist das Teacherese hilfreich, um die erhohte Spannungslage von Kindern nach unten zu regulieren. Soll ein Kind/ sollen mehrere Kinder beispielsweise fur ein Bildungsangebot aktiviert werden, so kann die padagogische Fachkraft mit Hilfe der Stimme einen Spannungsbogen aufbauen, um somit den Auftakt fur die neue Situation zu schaffen und die Kinder dabei ,mitzunehmen‘ (Gutknecht 2012, 47).
Mit der Stimme beim Kind Spannung abbauen/ aufbauen (,Teacherese‘) als ein Merkmal fur eine qualitatvolle Interaktion.
2.2.2.4. Intonationsmarkierungen
Um Kindern das Kennenlernen und Einuben von „assoziative(n) Verknupfungen zwischen sprachlicher AuGerung und Gegenstand/ Handlung/ Ereignis“ (Gutknecht 2012, 47) zu ermoglichen, ist es entscheidend, dass die padagogische Fachkraft „in auGerst vielfaltiger Weise die bedeutungstragenden Worter in ihrer Sprechweise hervorhebt“ (Gutknecht 2012, 47). Die padagogischen Fachkrafte sind also angehalten, im Dialog mit Kindern bestimmte Gegenstande, auf die sie sich beziehen, mit Hilfe von Intonation zu markieren und hervorzuheben, um somit das Verstehen der Sprache zu unterstutzen.
Intonationsmarkierungen als ein Merkmal fur eine qualitatvolle Interaktion.
2.2.2.5. Transmodal spiegeln
Zur intuitiven Didaktik gehort auch das ,Ubersetzen‘ von „Bewegungs- oder Stimmgebungsmuster“ (Gutknecht 2012, 48) des Kindes durch die padagogische Fachkraft. Gutknecht erlautert das Prinzip der korperlichen Resonanzprozesse an folgendem Beispiel: „Wenn das Kind Lautierungen wie z.B. ein uberraschtes ,Oh!‘ von sich gibt, spiegelt die Padagogin z.B. mit einem theatralen Hochziehen und abrupten Fallenlassen der Schultern. Sie ubersetzt also das ,Oh!‘ in diese Bewegungen“ (Gutknecht 2012, 48). Weiterhin ist es allerdings auch moglich, dass die padagogische Fachkraft das Handeln des Kindes lautmalerisch spiegelt. Ein Beispiel hierfur ware das Kind, dass mit einer Eisenbahn spielt, diese uber die Schienen schiebt und die padagogische Fachkraft dies parallel mit typischen Eisenbahngerauschen begleitet, z.B. ,Uuhh, uuhhhhh! Pfff, pfff, pfff, pfff!‘. Fur diesen Prozess ist es notwendig, dass die padagogische Fachkraft
1. das Kind im Vorfeld genau beobachtet, um zu wissen mit welchem Thema/ Gegenstand es sich gerade beschaftigt/ auseinandersetzt, um dann.
[...]
[1]Aufgrund der besseren Lesbarkeit (keine andauernde Wortwiederholung) werden in dieser Arbeit die Begriffe Kindergarten, Kindertageseinrichtung und Kita synonym verwandt. Sie meinen damit alle institutionellen Einrichtungen der fruhkindlichen Bildung, wie z.B. auch Kinderkrippe und Hort.
[2]Aufgrund der Tatsache, dass MitarbeiterInnen in Kindertageseinrichtungen inzwischen uber verschiedenste Berufs- und Studienabschlusse, die sie zur Arbeit in Einrichtungen der fruhkindlichen Bildung und Erziehung befahigen, verfugen, benutze ich in dieser Arbeit den Begriff ,padagogische Fachkraft‘.
[3]http://www.deutschehebammenzeitschrift.de/dhz/leseprobe/bindung (13.06.2013).
[4] http://www.sgipt.org/biogr/bowlby.htm (01.04.2013).
[5]An dieser Stelle sind auch Harlows Untersuchungen an jungen Rhesusaffen zu nennen, die eine Mutterattrappe bevorzugen, die weich ist und an der sich die Tiere festhalten konnen - auch wenn sie von dieser Mutterattrappe keine Nahrung erhalten (Bowlby 1987, 22; Otto 2011, 394).
[6]Die Untersuchungen beziehen sich auf die Forschung zur Nachfolgepragung bei Graugansen.
[7] Bindungsverhalten ist in der Kindheit (und vor allem im Sauglingsalter) besonders stark ausgepragt. Gleichzeitig macht Bowlby aber auch darauf aufmerksam, dass das Bindungsverhalten bis ins hohe Alter eine Rolle spielt und es ein menschliches Grundbedurfnis bleibt. Allerdings nimmt die Bindungsmotivation mit zunehmendem Alter stetig ab (Bowlby 1987, 23; Otto 2011, 395).
[8] Es besteht ein Zusammenhang „zwischen der Erfahrung eines Individuums mit seinen Eltern und seiner spateren Fahigkeit ( ... ), affektive Bindungen einzugehen“ (Bowlby 1987, 26). Weiterhin kann das Verhalten der Eltern und die Art und Weise, wie sie ihre Rollen ausgefullt haben, sich auf die spateren Fahigkeiten des Kindes, Beziehungen einzugehen (z.B. zum Ehepartner/ zur Ehepartnerin, gegenuber den eigenen Kindern), auswirken (Bowlby 1987, 26). Daraus resultiert die Annahme, dass bei anhaltenden und kontinuierlichen Fehlinterpretationen der Signale des Kindes und/ oder unangemessenem Verhalten der Bindungsperson gegenuber dem Kind und seinen Bedurfnissen, eine langfristige Storung der affektiven Bindungsgestaltung des Kindes zu erwarten ist (Spangler und Grossmann 1999 in Grossmann 2008, 37; Grossmann 2008, 37; Bowlby 1987, 26; Otto 2011, 396).
[9]Eine exakten Beschreibung des Laborraums befindet sich im Anhang I.
[10] Van den Boom (1994), De Wolff und Van Ijzendoorn (1997), Isabella (1993) (Remsperger 2011, 275)
- Arbeit zitieren
- Tobias Niebergall (Autor:in), 2013, Pädagogisches Handeln im Außengelände und in Räumen, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/232788