Die Studentenrevolte und Kulturrevolution der 68er schaffte die gesellschaftliche Stimmung für den, 1971 vom Deutschen Bundestag erteilten Auftrag, eine Expertenkommission einzusetzen, welche die Zustände in den deutschen Heil-und Pflegeanstalten untersuchen sollte. Die Ergebnisse, die diese „Psychiatrie Enquete-Kommission“, einige Jahre später präsentierte, waren erschreckend. (Bühring, 2002)
62 % der Betten waren älter als 50 Jahre. Die Gebäude stammten zu 63 % aus der Zeit vor 1925 und befanden sich größtenteils im renovierungsbedürftigen Zustand. Ein Psychiater versorgte, bei einer Überbelegung von ca. 35 %, durchschnittlich 112,2 Betten. Das psychiatrische Versorgungssystem, dessen Wurzeln noch aus dem 19. Jhd. stammten, war überkommen und entsprach nicht dem Entwicklungsstand der Gesellschaft. Die stationäre psychiatrische Versorgung wurde größtenteils durch 68 psychiatrische Landes- oder Bezirkskrankenhäuser sichergestellt. Bei mehr als 70 % aller Patienten erfolgte die Behandlung gegen den Willen der Betroffenen. 80 % der Patienten befanden sich auf geschlossenen Stationen. Insgesamt wurden 40 % der Patienten in Schlafsälen untergebracht. (Psychiatrie Enquete Kommission der Bundesregierung, 1975)
Laut Häfner, dem damaligen stellvertretenden Kommissionsvorsitzenden, war das Ergebnis darin begründet, dass sich die Psychiater nach dem Krieg wegen der geschehenen „NS-Verbrechen“ hinter ihre Mauern zurückzogen haben. Dort hätten sie dann den Mangel und das Elend klaglos verwaltet. (Bühring, 2002)
Die nationalsozialistische Vergangenheit der deutschen Psychiatrie war noch fast 30 Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges, wie im Bericht beschrieben, in ihrer „brutalen Realität“ und den „elenden menschenunwürdigen Verhältnissen“ zu spüren. Was geschah während des dritten Reichs? Und wie konnte so etwas geschehen? Im folgenden Referat möchte ich einen Überblick über die damaligen Geschehnisse, den Einfluss der NS-Diktatur auf die Anstaltspsychiatrie und ihre lang anhaltenden Folgen für die Weiterentwicklung der deutschen Psychiatrie geben.
Um die damalige Dynamik verstehen zu können muss ich zuvor den Weg und die Situation der Psychiatrie vor 1933 genauer anreißen. Nur dann erkennt man den fast nahtlos ineinander übergehenden Wandel der deutschen Anstaltspsychiatrie von der asylären „Heil-und Pflegeanstalt“ zum rassenidiologischen Werkzeug einer menschenverachtenden Diktatur, mit der Radikalisierung sich damals bereits abzeichnender Tendenzen. (Klee, 2001)
Inhalt
Einleitung
Fachlicher Richtungswechsel
Psychiatrie als Spiegelbild der Gesellschaft
Besetzung von Schlüsselpositionen durch Angehörige der NSDAP
Sparmaßnahmen und Hungerkost in den Anstalten
Vorbereitung durch „Rassenpolitische Aufklärung“
Zwangssterilisation
Aktion T4
Die Organisation des Massenmords
Wildes Morden und Hungersterben in den Anstalten nach 1941
Die Aufarbeitung
Abschluss
Quellenangabe
Einleitung
Die Studentenrevolte und Kulturrevolution der 68er schaffte die gesellschaftliche Stimmung für den, 1971 vom Deutschen Bundestag erteilten Auftrag, eine Expertenkommission einzusetzen, welche die Zustände in den deutschen Heil-und Pflegeanstalten untersuchen sollte. Die Ergebnisse, die diese „Psychiatrie Enquete-Kommission“, einige Jahre später präsentierte, waren erschreckend. (Bühring, 2002)
62 % der Betten waren älter als 50 Jahre. Die Gebäude stammten zu 63 % aus der Zeit vor 1925 und befanden sich größtenteils im renovierungsbedürftigen Zustand. Ein Psychiater versorgte, bei einer Überbelegung von ca. 35 %, durchschnittlich 112,2 Betten. Das psychiatrische Versorgungssystem, dessen Wurzeln noch aus dem 19. Jhd. stammten, war überkommen und entsprach nicht dem Entwicklungsstand der Gesellschaft. Die stationäre psychiatrische Versorgung wurde größtenteils durch 68 psychiatrische Landes- oder Bezirkskrankenhäuser sichergestellt. Bei mehr als 70 % aller Patienten erfolgte die Behandlung gegen den Willen der Betroffenen. 80 % der Patienten befanden sich auf geschlossenen Stationen. Insgesamt wurden 40 % der Patienten in Schlafsälen untergebracht. (Psychiatrie Enquete Kommission der Bundesregierung, 1975)
Laut Häfner, dem damaligen stellvertretenden Kommissionsvorsitzenden, war das Ergebnis darin begründet, dass sich die Psychiater nach dem Krieg wegen der geschehenen „NS-Verbrechen“ hinter ihre Mauern zurückzogen haben. Dort hätten sie dann den Mangel und das Elend klaglos verwaltet. (Bühring, 2002)
Die nationalsozialistische[1] Vergangenheit der deutschen Psychiatrie war noch fast 30 Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges, wie im Bericht beschrieben, in ihrer „brutalen Realität“ und den „elenden menschenunwürdigen Verhältnissen“ zu spüren. Was geschah während des dritten Reichs? Und wie konnte so etwas geschehen? Im folgenden Referat möchte ich einen Überblick über die damaligen Geschehnisse, den Einfluss der NS-Diktatur auf die Anstaltspsychiatrie und ihre lang anhaltenden Folgen für die Weiterentwicklung der deutschen Psychiatrie geben.
Um die damalige Dynamik verstehen zu können muss ich zuvor den Weg und die Situation der Psychiatrie vor 1933 genauer anreißen. Nur dann erkennt man den fast nahtlos ineinander übergehenden Wandel der deutschen Anstaltspsychiatrie von der asylären „Heil-und Pflegeanstalt“ zum rassenidiologischen Werkzeug einer menschenverachtenden Diktatur, mit der Radikalisierung sich damals bereits abzeichnender Tendenzen. (Klee, 2001)
Fachlicher Richtungswechsel
Mit Gründung des deutschen Reiches 1871 wurden landesweit große Anstalten gebaut. Die technische Ausstattung mit Zentralheizung und Sanitäranlagen mit fließendem Wasser, waren zur damaligen Zeit beeindruckend. Neben dem Auftrag der Behandlung und Pflege sollten sie den Kranken auch einen geschützten Lebensraum (Asyl) bieten. Der Anstaltsbetrieb wurde nach medizinischen Gesichtspunkten gestaltet. So stand die Suizidverhütung, Hygiene, Ruhe und Schutz vor Gewalt im Vordergrund. Die Verwahranstalt, welche sich dadurch im Laufe der Jahrhundertwende herausbildete, war das Resultat der Unfähigkeit der noch jungen Psychiatrie, das soziale Leben der Institutionen zu gestalten. So erfolgte die menschliche und soziale Verarmung der Anstalten, obwohl die Lebensumstände der Patienten verbessert wurden. Die Anstalten bewahrten die Patienten auf. Wussten aber nicht sie zu fördern. (Hofman in Werner (Hrsg.), 2004)
Ab 1880 wurden zunehmend neuropsychiatrische Universitätskliniken gegründet. Es kam so zu einer Trennung von Hochschul- und Anstaltspsychiatrie und der Versorgungsbereiche für akut und chronisch Kranke. (Psychiatrie Enquete Kommission der Bundesregierung, 1975) Nur wenige Psychiater versuchten Anfang des 20. Jahrhundert neue Wege im Bereich der psychosozialen Versorgung einzuschlagen. So schuf Hermann Simon (1867-1947) ab 1914 das Konzept der "aktiveren Krankenbehandlung" in Gütersloh. Oder Gustav Kolb (1870-1938) der sich in Erlangen für die "offenen Irrenfürsorge" einsetzte. Sie blieben Ausnahmen. (Luderer,1999)
Das Gros der Psychiater war an der Ursachenforschung interessiert und nicht an der Therapie. Sie waren, wie Kraepelin[2] (1856 – 1926), der Ansicht, dass Geisteskrankheiten Ausdruck kranker Hirnleistung seien, deren Ursache die Vererbung und Degeneration wäre. Die Psychiatrie war für sie Naturwissenschaft. Sie suchten die Krankheitsursachen im Gehirn und nicht in der Psyche. Der Patient selbst war nur der Forschungsgegenstand. (Klee, 2001)
Die deutsche Psychiatrie befand sich zum Beginn der 1930er Jahre in der Sackgasse. Die Weltwirtschaftskrise[3] sorgte für die Reduzierung der finanziellen Mittel. Die Psychoanalyse[4] war noch in ihren Anfängen und nicht weit verbreitet. Es gab kaum effektive Therapien. Die Bettenbehandlung in Wachsälen, Dauerbäder, nasse Packungen oder die Anwendung von Brechmitteln als therapeutische Maßnahmen waren nicht erfolgversprechend. Neue Therapieformen bedurften noch grundlegender Forschungs- und Entwicklungsarbeit. So wie die 1917 eingeführte Malaria-Kur oder die von vielen Anstaltspsychiatern als erfolgversprechende Behandlung "endogener" Psychosen angesehenen Schockmethoden (Insulinschock, Kardiazolkrampf, Elektroschockonvulsion). (Psychiatrie Enquete Kommission der Bundesregierung,1975)
Die großen Psychiatrischen Anstalten, die ursprünglich heilen und pflegen sollten, waren zu Verwahranstalten verkommen. Das soziale Ansehen der Psychiater in der Ärzteschaft war, verglichen mit Standeskollegen, gering. Zum einen wegen der geringen „Heilungsquoten“, zum anderen wegen des sich ausschließlich aus den unteren gesellschaftlichen Schichten rekrutierten Klientel.
[...]
[1] Nationalsozialismus: völkisch-antisemitisch-national-revolutionäre Bewegung in Deutschland (1919–45), die sich 1920 als Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) organisierte und die unter Führung A. Hitlers in Deutschland 1933 eine Diktatur errichtete.(Meyers Lexikon online)
[2] Kraepelin, Emil, Psychiater, * Neustrelitz 15. 2. 1856, † München 7. 10. 1926; Professor in Dorpat, Heidelberg und München; teilte die Psychosen in die Formenkreise Dementia praecox (Schizophrenie) und manisch-depressives Irresein (Manie, Depression) ein. (Meyers Lexikon online)
[3] Die Weltwirtschaftskrise erschütterte zwischen 1928/29 und 1935/36 das globale Wirtschaftssystem.
[4] Psychoanalyse: um 1900 von S. Freud aus der „Tiefenpsychologie“ entwickelte Methode zur Behandlung neurotischer Störungen (Neurose) im Rahmen einer Theorie zur Erklärung allgemeinpsychologischer, psychopathologischer und soziokultureller Phänomene und die auf diesem Wege gewonnenen psychologischen Erkenntnisse. Die P. ist Untersuchungs- und Behandlungsmethode zugleich.
- Arbeit zitieren
- Patrick Klein (Autor:in), 2008, Psychiatrie im Nationalsozialismus, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/232653