Die vorliegende Studienarbeit setzt sich mit dem modernen, umfassend offenen Konzept des international angesehenen Rabbiners Leo Baeck (1873 - 1956) bezüglich der Einheit des Judentums eingehend auseinander. Da dieses historisch bedingt pluralistisch-uneinheitlich ist und in ihm institutionell vorgegebene uniforme Einheitsvorstellungen weder um- noch durchsetzbar sind, ist der Versuch Baecks, dennoch eine Einheit über alle Zeiten und Räume hinweg zu formulieren, entsprechend herausfordernd und auch z.B. für die christliche Ökumene interessant. Wie die Autorin aufzeigt, hat der von Baeck gewählte Ansatz das Potential, zu einem wichtigen Anknüpfungspunkt für ein umfassendes Verständnis der Einheit nicht nur des Judentums, sondern auch anderer Religionsgemeinschaften zu werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Lehre Baecks über die Einheit des Judentums
2.1 Zentrale Einheitsaussagen Baecks
2.2 Die Baeck’sche Einheitskonzeption
3. Kritische Würdigung des Baeck’schen Einheitsverständnisses
3.1 Der Ursprung des Judentums als Einheitsquelle
3.2 Das Einheitsstreben des antiken Judentums, insbesondere die Einheitsthese des Josephus Flavius, als Grundlage der Sicht Baecks?
3.3 Die Einflusslosigkeit der mittelalterlichen jüdischen Einheitsbemühungen auf das Baeck‘sche Einheitsdenken
3.4 Wendepunkt Aufklärung als Unterschied zwischen der antiken und der Baeck’schen Einheitssicht
3.5 Das Judentum des 19. Jahrhunderts prägende Entwicklungen als Anlass des Einheitsdenkens Baecks
3.5.1 Zunehmendes Auseinanderbrechen der Einheit
3.5.2 Jüdischer Einheitsdiskurs
4. Fortgeschrittene Säkularisierung und Antisemitismus als unmittelbare historische Hintergründe des Baeck’schen Einheitsdenkens
5. Kann das Baeck‘sche Einheitsverständnis noch heute zur Einheit des Judentums beitragen?
6. Ausblick auf die zukünftige Einheit des Judentums und zusammenfassender Schluss
7. Thesen
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der Begriff ‚Judentum‘ entstand im 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung unter Antiochus IV. Epiphanes (215 - 164) als sprachliche Kennzeichnung derer, die am traditionellen jüdischen Glauben und an der jüdischen Praxis, wie sie vor allem durch Beschneidung und Beachten der Speisegebote verwirklicht wurde, festhielten.[1] Die traditionellen, in religiösen Texten vorherrschenden Selbstbezeichnungen für eine ethnische wie religiöse Einheit, die man in religiöser Hinsicht Judentum nennen kann, sind ‚Israel‘ und ‚Israeliten‘ beziehungsweise ‚Söhne Israels‘. Für diese Gesamtheit gibt es im Hebräischen seit der Spätantike den übergreifenden Begriff ישראל כנסת (kenäsät Jiśra’el ; Versammlung Israels).[2] Judentum im engeren Sinn meint entsprechend die Religion der Juden.[3] Doch das Judentum gibt es nicht[4] und gab es auch früher nicht[5]. Das Judentum war und ist vielfältig und keine Einheit.[6] Vielmehr gehört der Pluralismus zum Judentum seit seinen Anfängen als Religion Israels,[7] womit Verschiedenheit geradezu ein Charakteristikum des Judentums ist[8].
Wie formulierte der international angesehene deutsche Rabbiner Leo Baeck (1873 - 1956) angesichts dieser Vielfalt in der sich zunehmend säkularisierenden und damit pluralisierenden Welt seiner Zeit dennoch eine bleibende Einheit des Judentums? Worin sah er dessen dauerhafte Einheit? Worin unterscheidet sich Baecks Einheitsdenken von früheren jüdischen Einheitsthesen? Was beeinflusste es wohl? Was sind seine historischen Hintergründe? Was bedeutet das Einheitskonzept Baecks für den zukünftigen jüdischen Einheitsdiskurs? Diesen Fragen stellt sich im Folgenden die vorliegende Studienarbeit.
2. Die Lehre Baecks über die Einheit des Judentums
2.1 Zentrale Einheitsaussagen Baecks
Baeck setzte sich in seinen Werken mehrmals mit der Einheit des Judentums auseinander, wobei er seine Sicht dieser Einheit besonders in seinen beiden Hauptwerken ‚Das Wesen des Judentums‘ (1905 [Erstauflage] beziehungsweise 1926 [überarbeitete Fassung]) und ‚Dieses Volk‘ (1955/57) darlegte. Der erste Abschnitt von ‚Das Wesen des Judentums‘ beschäftigt sich sogar namentlich mit der dynamischen Beziehung zwischen der Einheit des Judentums und der ständigen Entwicklung innerhalb des Judentums.[9] Da in der Einheitslehre Baecks keine grösseren Entwicklungstraditionen auszumachen sind, wird sie im Folgenden inhaltlich thematisch geordnet summarisch dargestellt.
Für Baeck haben die vielgestaltigen Gebiete, die schwankenden Zeiten des Judentums eine Einheit ihres Denkens und Empfindens.[10] Das Judentum bezeichne durch deren Bewusstsein etwas Bleibendes, Wesentliches, welches allen Juden gemeinsame religiöse Heimat sei.[11] Diese Einheit gründe in der gemeinsamen Abstammung von den Vätern des Judentums, Abraham, Isaak und Jakob, und dem gemeinsamen Glauben an ihren Gott, im Bewusstsein, als ihr Nachkomme ihr Erbe zu sein. Einen sicheren geschichtlichen Boden habe diese Einheit schon in dem Volkstum gehabt, aus dem das Judentum emporgewachsen sei, und in dem es seine starken Wurzeln behalten habe.[12] Denn die Einheit habe bereits bei den zwölf Stämmen des Volkes Israel begonnen, für welche sie laut Baeck zu einer Aufgabe, zu einem Weg der Geschichte wurde. Als die Stämme des Volkes Israel in das Land gekommen seien, fanden sie hier Baeck zufolge einen erwählten Boden auch für die Einheit, zu der sie erwählt gewesen seien. Dieses gegliederte und doch geschlossene Land habe einen oft fast trotzigen Willen zur Sonderung und Gliederung sowie einen noch trotzigeren Willen zur Geschlossenheit und Einheit gepflegt. Diesen Widerspruch habe die Persönlichkeit dieses Volkes in sich aufgenommen und ihn zu einer Kraft, zu einem inneren Reichtum werden lassen.[13] Es sei bewundernswert, dass die zwölf Stämme ein einheitliches Volksgebilde geworden und geblieben seien. Wenn diese Einheit erhalten geblieben sei, so habe dies zwei Gründe gehabt:[14] Einerseits sei die Einheit des Volkes durch die Einrichtung des Richters (schofet [ שפט]) gewährleistet gewesen, der auf den von Moses eingesetzten Nachfolger zurückgegangen und von den Stämmen als Oberhaupt anerkannt gewesen sei.[15] Andererseits sei, wenn die Einheit des Landes gewahrt geblieben sei und damit die Einheit des Volkes ihren Ausdruck gefunden habe, das ebenso sehr wie der Einrichtung des Richtertums dem einen Heiligtum mit der Bundeslade zuzuschreiben, das Mittelpunkt dessen geblieben sei, was Moses gelehrt und verkündet habe.[16] Eine Einheit des Volkes Israel sei da gewesen, die im Religiösen und in einer Rechtsgemeinschaft begründet gewesen sei.[17] Samuel habe gesehen, dass ein Königtum eingesetzt werden müsse, um die Einheit des Volkes Israel zu sichern.[18]
‚Thora im Mündlichen‘ ist Baeck zufolge die sich immer erneuernde Kraft gewesen, welche die Verschiedenheiten und Gegensätze, die ein bewegtes Jahrtausend innerhalb des Volkes Israel habe aufsteigen lassen, zusammengehalten habe vermöge des Wissens um eine Einheit.[19] Denn das Volk Israel, das – nach der Tempelzerstörung im Jahr 70 unserer Zeitrechnung – infolge des Verlustes seines alten Mutterlandes ein Volk von Kolonien ohne das Mutterland geworden sei, habe seinen beständigen geistigen Mittelpunkt in der ‚Thora im Mündlichen‘ gehabt, so dass das Ganze als solches in seiner Einheit geblieben sei.[20] Zudem sei dem Genius des Volkes Israel die eigentümliche Gabe beschieden gewesen, in den Zusammenhang von Räumen und Zeiten hineinzublicken, im Einzelnen und trotz des Einzelnen das Ganze zu erfahren und so Einheit zu erkennen, was ein tiefer Sinn von ‚Thora‘ sei. Vielleicht am tiefsten erlebe es der Betende, da er einer grossen Einheit unter den Vorfahren, den Jetzigen und den Nachkommen bewusst werde.[21] Obwohl die Zerstreuung der Juden vielfach nicht nur scheidend, sondern auch auflösend gewirkt habe, hat sich gemäss Baeck das Judentum seine Einheit aber ohne Abwendung von der übrigen Welt, ohne Einsamkeit eines weltfremden Daseins, und ohne die zusammenhaltende Macht einer kirchlichen Glaubensverfassung gewahrt,[22] ohne die Bestimmtheit einer umschriebenen, stetigen Glaubenslehre und ohne eine sicher aufgebaute Bekenntnisformel.[23] Vielmehr sei die Religionsphilosophie gebliebene jüdische Glaubenslehre das ideelle Dasein der Gesamtheit derer und die Angelegenheit aller gewesen, die sich bewusst gewesen seien, zur jüdischen Gemeinde zu gehören.[24] Der Wille und die Überzeugung, dem Judentum anzugehören, sei das Eigentliche und Bestimmende geblieben.[25] Die Einheit der Glaubensgemeinde sei im Judentum nicht in Frage gestellt worden.[26] Die Einheit des religiösen Besitzes in Form eines ‚Reichs von Priestern‘ sei dem Judentum wesentlich.[27] Es habe die Grundlage einer einheitlichen Organisation im Synhedrion verloren.[28]
Laut Baeck gibt ein stetiger Zusammenhang, eine Kontinuität verschiedener Epochen der Geschichte des Judentums ihren einheitlichen Charakter.[29] Dabei sei beides, der kanonische Charakter, den die Bibel erhalten habe, wie auch die massgebende Autorität, die der Talmud erworben habe, für das Gleichgewicht in der Geschichte des Judentums, für ihre sichere Stetigkeit ganz wesentlich gewesen und geblieben.[30] Immer in der Geschichte des Volkes Israel habe es sich erwiesen, dass die Besonderheiten hier zur Einheit würden, ja dass sie erst die Einheit begründeten und verbürgten.[31] Auf diese stetige historische Einheit in Vielfalt weist Baeck immer wieder und in mehreren Beispielen hin, sucht er sie dem Leser zu vermitteln: Einst sei trotz aller grundsätzlichen religiösen Einheit das alexandrinische Judentum ein anderes als das palästinensische und dieses wiederum nicht dasselbe wie das babylonische gewesen.[32] Wenn die jüdische Gesamtheit des Mittelalters nicht nur die Einheit des Rechts, sondern auch die Einheit der wesentlichen Lebensrichtung besessen habe, sei dies auf die Verfassung zurückzuführen, die sich die Gemeinde des Judentums und in gewissem Sinn das Leben des Juden seit dem Ausgang des Altertums Baeck zufolge bereiteten.[33] Insbesondere seien im dritten Jahrtausend des Volkes Israel die Aschkenasim und die Sephardim trotz einer vielfach verschiedenen Entwicklung stets ohne Zweifel und Schwanken in der Einheit der Existenz geblieben.[34] Laut Baeck haben sie sich zu einer organischen Einheit des Ganzen zusammengefügt[35] und nie darin geschwankt, sich als eine Einheit vermöge der Vergangenheit, kraft der Gegenwart und kraft des Willens zur Zukunft zu empfinden und zu erkennen[36]. Auch in den Jahrhunderten, welche gemäss Baeck in den zwei getrennten Imperien der Aschkenasim und Sephardim zu leben verlangt sowie hier und dort Besonderheit entwickelt haben, sei die Einheit in aller ihrer Ausserordentlichkeit die grosse Selbstverständlichkeit geblieben.[37] Das Volk Israel habe seine Einheit als Gewissheit seines Lebens und als Verbürgung seiner Zukunft empfunden.[38] Dabei sei von den grossen, universalen Persönlichkeiten des Geistes, des Charakters und des Handels eine Kraft der Einigung ausgegangen. Der Wille zu einigen habe sich in diesen Männern in jedem von ihnen innerhalb seines eigenen Bereichs geoffenbart.[39] Die durch den Osten, Westen, Norden und Süden vielfach verschieden gewordenen jüdischen Menschen des Mittelalters haben nach Baeck in der Einheit gelebt. Denn aus seiner Sicht haben sie, wo immer, wie immer und wie gesondert auch immer sie gewesen seien, sich in dem ganzen ‚Haus Israel‘, in der einen Existenz und der einen Geschichte gewusst und zu dem ‚Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs‘ gebetet.[40] In der Einheit der Kultur des jüdischen Mittelalters sei eine stetige Einheit der talmudischen Wissenschaft, der Traditionswissenschaft entwickelt worden.[41] Diese alte Einheitskultur sei ein Jahrtausend hindurch lebendig und wirksam gewesen.[42] Im Judentum des 18. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung habe sich dann der alte religiöse Daseinskreis, in dem die Einheitskultur ihren geschlossenen Bezirk besessen habe, mehr und mehr aufzulösen begonnen.[43] Die am Ausgang des 18. Jahrhunderts für die Juden Mittel- und Westeuropas begonnene neue Zeit habe allmählich und unwiderstehlich die geschlossene Einheitskultur aufgelöst.[44] Nachdem sich dieses einheitliche Gefüge im 19.Jahrhundert oft verändert, wenn nicht gar aufgelöst habe, habe jene alte Einheitskultur nun aufgehört.[45] Sie habe sich im Judentum des 19. Jahrhunderts aufgelöst, indem sich die Bildung, das Recht, der Lebensstil und, durch die Aufklärungsideen, in gewissem Mass auch die Religion säkularisierten.[46] Die alte Einheitskultur sei in dem Neuen verschwunden oder habe sich wenigstens darin abgeschwächt.[47] Heinrich Graetz habe als erster versucht, die Geschichte der Juden als Einheit zu schreiben,[48] und sei ein Führer zur Einheit insbesondere dadurch geworden, dass er in jeder Zeit das Ganze zu erfassen vermocht habe.[49] Gemäss Baeck blieb die Einheit der Geschichte des Volkes Israel immer bestehen.[50] Bei aller Gemeinschaft im Geistigen und nicht unwesentlich im Blut trete zwar innerhalb der Gesamtheit des Judentums dieses Mannigfaltige und Verschiedenartige, wie es durch die einzelnen historischen und kulturellen Bezirke geschaffen worden sei, nicht weniger als in anderen universellen Religionen hervor.[51] Das Judentum habe indessen darin seine historische Einheit, dass die Idee vom Eintreten des Unendlichen, des Transzendenten in das Endliche, in das Menschliche immer wieder verlebendigt, immer neu geformt worden sei und ihre Renaissance erfahren habe.[52] Diese immer neue Verlebendigung des Grundgedankens sei diese innere geschichtliche Einheit.[53] Das jüdische Volk sei oft und in so manchem Lande zerteilt und auseinandergerissen worden, habe jedoch vor keiner Teilung und keiner Zerreissung kapituliert. Es sei immer, oder wenigstens in seinen besten Zeiten, ein Volk mit einer Idee, einem Glauben gewesen.[54] Konflikte, die bis an die Prinzipien des Glaubens herangedrungen und in denen Autoritäten gegeneinander angetreten seien, haben Baeck zufolge in manchen Zeiten die Gemeinde zerreissen, letztlich die Einheit des Judentums aber nicht bedrohen können.[55] Laut Baeck haben die jüngsten Jahrzehnte – er hielt dies im Jahr 1935 fest – die Wiedergeburt einer Einheit aus dem Judentum hervor erfahren.[56]
Als Muster für die in der Gemeinde gelebte jüdische Einheit betrachtete Baeck offensichtlich die sogenannte Einheitsgemeinde. In dieser seien die treibenden und die beharrenden Kräfte, die autoritativen und die suchenden Elemente zu einer wesentlichen Einheit verbunden; das Bewusstsein der grossen Gemeinschaft und der gegenseitigen Verantwortlichkeit werde immer wieder lebendig gemacht. Die Einheitsgemeinde fordere dafür von jeder Gruppe eine gewisse Rücksichtnahme auf dieses Gesamtempfinden und damit auf die andere Gruppe; Extreme nach der einen oder anderen Seite hin müssten ihr fern bleiben.[57]
2.2 Die Baeck’sche Einheitskonzeption
Laut Baeck haben die Juden eine einheitliche Religion[58] – ist das Judentum in religiöser Hinsicht also einheitlich – und sind sie durch Gottes Gebot[59] über die Grenzen hinweg eine Einheit[60]. So betrachtete er nicht nur die Religion des Judentums, sondern auch seine Geschichte und seine fortdauernde Existenz in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als eine Einheit,[61] wobei er insbesondere das Volk Israel und das Judentum als Einheit sah.[62] Die jüdische Welt habe sich in allem Wechsel, in der Veränderung trotzdem und immer durch die weiten Zeiten und die verschiedenen Räume hin ihre wesentliche Einheit bewahrt.[63] Da die Einheit des Judentums aus der Sicht Baecks in aller Entwicklung fortdauerte,[64] behauptete er auch für die wechselreiche Geschichte des Judentums eine Einheit.[65] Gemäss dem Grundgedanken Baecks sind die Juden nämlich untereinander aufgrund der Überzeugung, Nachfahren Abrahams, Isaaks und Jakobs zu sein, denselben Gottesglauben zu haben und zur jüdischen Gemeinde zu gehören, durch ein einheitsstiftendes Denken und Empfinden sowie das Bewusstsein darum verbunden, während der nähere Inhalt dieser Bande einem Entwicklungsprozess unterworfen ist. Die umfassende, insbesondere geschichtliche Einheit des Judentums ist im Kern religiös begründet. Einigender innerer, kontinuitätsstiftender Zusammenhalt in der jüdischen Geschichte sind laut Baeck die Bibel (insbesondere die Thora) und der Talmud geworden, wobei der Bibel die grundlegend einheitsbegründende Rolle zukomme, die Erzählung von den Stammvätern Israels und damit des monotheistischen Gottesglaubens Abrahams, Isaaks und Jakobs durch die Zeiten zu tragen. Entsprechend betrachtete Baeck das Judentum in all seiner Divergenz stets als eine Einheit,[66] wobei er die einzelnen Strömungen nur als Nuancen des einen Judentums ansah.[67] Er sprach vom ‚grossen Judentum‘ als Religion, die alle Juden der Welt vereinte, und von den ‚kleinen Judentümern‘, das heisst den Unterschieden zwischen den Juden, die ihren Ausdruck in Adjektiven wie ‚orthodox‘, ‚konservativ‘, ‚liberal‘ und ‚reformiert‘ fanden.[68] Dabei konnte er aufgrund seines persönlichen Beachtens der (religiösen) Bräuche insbesondere die allumfassende Einheit der jüdischen Gemeinde unterstreichen und seine eigenen Beziehungen zu dieser Einheit.[69] Seiner Ansicht zufolge speist sich die Einheit des Judentums daher allein aus der Ehrfurcht vor dem Pluralismus.[70] Selbst für die weitverzweigte Literatur des Judentums behauptete Baeck eine Einheit.[71] Darüber hinaus hatte er die Vision einer Einheit des Lebens, die das Volk Israel in seiner Religion und durch sie lebt.[72] Denn nach Baeck ist die Einheit des Volkes Israel eine geschichtliche Aufgabe,[73] da die Juden um das Ziel der Erfüllung einer ethischen Verpflichtung vereint seien.[74] Dieses Ziel aber ist Baeck gemäss in Gottes Einheitsgebot begründet.
Baeck hat zum Teil eigene Methoden gefunden und ausgebildet, um die in jeweils neuer Interpretation erstandene Einheit jüdischer Geschichte zu schauen.[75] Da sich insbesondere Adolf von Harnack (1851 - 1930) in seiner Schrift ‚Das Wesen des Christentums‘[76] – dem Referenzwerk von Baecks ‚Das Wesen des Judentums‘ – nicht zur Einheit des Judentums äusserte, konnte Baeck nämlich selbst von Harnack zumindest unmittelbar keine vorbestehende, für das Judentum taugliche Methode übernehmen. Innerhalb seines eigenen Einheitskonzepts war die Einheit der jüdischen Geschichte für Baeck von solch ernster Bedeutung, dass ihn das Problem der Einheit der jüdischen Tradition, jener ‚inneren Einheit, welche Zeiten verbindet‘, fast lebenslang beschäftigte.[77] So hat Baeck denn auch besonders in seinem letzten grossen Werk (‚Dieses Volk‘) das Volk Israel über alle Epochen seiner Geschichte hinweg als Einheit erfasst.[78] Dabei musste das Einheitskonzept Baecks, welches auf den Glauben und Gemeinsinn des Einzeljuden aufbaut, das Volk Israel – und damit das Judentum – als eine Ganzheit darstellen, in dem ein gleicher Prozess wie beim einzelnen Juden erkennbar ist[79]. Backs subjektbezogenes Einheitsdenken ist liberal – es setzt keine Glaubensverfassung, keine festgelegte Glaubenslehre beziehungsweise Bekenntnisformel sowie keine Abgrenzung von der Welt als einendes Band voraus – und entsprechend weitgehend inhaltsoffen, konfessionsumfassend. Als einende Bande genügen Baeck der gemeinsame Gottesglaube, die gemeinsame Abstammung und der Wille zur Gemeindezugehörigkeit. Für Baeck ist ein jüdisches Volk ohne den es steuernden, es zu einer Einheit bindenden Geist entsprechend ein Unding, das er überhaupt nicht in Betracht zu ziehen braucht.[80]
[...]
[1] Frankemölle, Frühjudentum, 30 mit Hinweisen.
[2] Maier, Judentum, 18.
[3] Solomon, Judentum, 12.
[4] Frankemölle, Frühjudentum, 27, und Stemberger, Religion, 8.
[5] Frankemölle, Frühjudentum, 27.
[6] Vgl. Frankemölle, Frühjudentum, 27 f. mit Hinweisen.
[7] Sigal, Judentum, 13.
[8] Sigal, Judentum, 68.
[9] Friedlander, Leben, 78.
[10] Baeck, Wesen, 1.
[11] Baeck, Wesen, 1 f.
[12] Baeck, Wesen, 2.
[13] Baeck, Volk, 130.
[14] Baeck, Periode, 293.
[15] Baeck, Periode, 293 f.
[16] Baeck, Periode, 294.
[17] Baeck, Periode, 295.
[18] Baeck, Periode, 292.
[19] Baeck, Volk, 208.
[20] Baeck, Volk, 245.
[21] Baeck, Volk, 235.
[22] Baeck, Wesen, 2.
[23] Baeck, Wesen, 4.
[24] Baeck, Wesen, 4.
[25] Baeck, Wesen, 7.
[26] Baeck, Wesen, 46.
[27] Baeck, Wesen, 44.
[28] Baeck Leo: Orthodox oder ceremoniös?, in: Meyer, Briefe, 29-35, 29.
[29] Baeck, Wesen, 15.
[30] Baeck, Wesen, 17.
[31] Baeck, Volk, 259.
[32] Baeck, Wesen, 71.
[33] Baeck, Theologie, 57.
[34] Baeck, Volk, 262.
[35] Baeck, Volk, 262.
[36] Baeck, Volk, 263.
[37] Baeck, Volk, 264.
[38] Baeck, Volk, 265.
[39] Baeck, Volk, 266.
[40] Baeck, Volk, 273.
[41] Baeck, Mensch, 243.
[42] Baeck, Theologie, 50.
[43] Baeck, Gemeinde, 218.
[44] Baeck Leo: Die religiöse Erziehung, in: derselbe, Untersuchungen, 357-376, 363.
[45] Baeck, Mensch, 244.
[46] Baeck, Theologie, 50.
[47] Baeck, Gemeinde, 219 f.
[48] Baeck Leo: 2. Vorlesung am 14. Juni 1956: Moses Heß, in: Baeck, Mendelssohn, 174-184, 177.
[49] Baeck, Volk, 343.
[50] Baeck, Volk, 364.
[51] Baeck Leo: Volksreligion und Weltreligion, in: Licharz, Wege, 154-166, 156 f.
[52] Baeck, Theologie, 55 f.
[53] Baeck, Theologie, 56.
[54] Baeck Leo: Israel und das deutsche Volk, in: Friedlander/Klappert, Schoa, 49-61, 59.
[55] Baeck Leo: Jüdische Anerkennung individueller Glaubensauffassung, in: Meyer, Briefe, 165-169, 168.
[56] Baeck, Mensch, 244.
[57] Baeck Leo: Das Zusammensitzen von Männern und Frauen in der Synagoge Prinzregentenstrasse in Berlin, in: Meyer, Briefe, 507-511, 511.
[58] Baker, Hirt, 89.
[59] Baker, Hirt, 79.
[60] Baker, Hirt, 79, und Lewin, Baeck, 87.
[61] Baker, Hirt, 87.
[62] Friedlander, Leben, 234 mit Hinweis.
[63] Mayer, Christentum, 30 mit Hinweis.
[64] Friedlander, Leben, 79.
[65] Mayer, Christentum, 28.
[66] Heuberger Rachel: »Weshalb soll der Mensch nur eine Richtung haben?« Leo Baecks Studium und Rabbinertätigkeit in den Jahren 1891 bis 1912, in: Heuberger/Backhaus, Baeck, 26-43, 29.
[67] Lewin, Baeck, 60.
[68] Erinnerung von Jakob J. Petuchowski an Leo Baeck, in: Heuberger/Backhaus, Baeck, 184-185, 185.
[69] Friedlander, Leben, 35.
[70] Homolka Walter: Leo Baeck. Jüdisches Denken – Perspektiven für heute, Freiburg i.Br. 2006, 40.
[71] Mayer, Christentum, 28.
[72] Friedlander, Leben, 209 mit Hinweis.
[73] Friedlander, Leben, 226 mit Hinweis.
[74] Baker, Hirt, 79.
[75] Mayer, Christentum, 37.
[76] Von Harnack Adolf: Das Wesen des Christentums. Herausgegeben und kommentiert von Trutz Rendtorff, Gütersloh 1999.
[77] Bach, Einleitung, 213.
[78] Mayer, Christentum, 30.
[79] Vgl. Friedlander, Leben, 219.
[80] Amir Yehoshua: Religion und Nation bei Leo Baeck, in: Licharz Werner (Hrsg.): Leo Baeck – Lehrer und Helfer in schwerer Zeit (= Arnoldshainer Texte 20), Frankfurt a.M. 1983, 113-128, 124.