"Wider Erwarten sind die Chroniques nicht nur eine Familiengeschichte, die in die soziale und historische Realität der 1940er und 1950er Jahre eingebettet ist, sondern sie werden ergänzt durch phantastische Elemente wie die tricoteuses, die mit ihrer Handarbeit das Schicksal der Bewohner der rue Fabre lenken und später Marcel beim Erwachsenwerden helfen. Hinzu kommt Duplessis, die wiederauferstandene Katze, die nur von einigen ausgewählten Personen gesehen werden kann. Diese Elemente werden Teil meiner Betrachtungen sein. In der vorliegenden Arbeit möchte ich darstellen, wie Tremblay diese phantastischen Elemente verwendet und aufzeigen, dass sich für sie, zumindest was Marcel betrifft, logische Erklärungen finden lassen. Ziel dieser Argumentation wird es sein, zu beweisen, dass sich der realistische Effekt der Chroniques auch durch die phantastischen Elemente nicht verliert."
Inhaltsverzeichnis
1. EINLEITUNG
1.1. Begründung des Themas und Struktur der Arbeit
1.2. Begriffsklärung
2. REALISTISCHE DARSTELLUNGEN IN LES CHRONIQUES DU PLATEAU-MONT-ROYAL
2.1. Die historische Wirklichkeit
2.2. Die soziale Wirklichkeit
2.3. Die Sprache
2.4. Die Familie
2.5. La grosse femme – Leben und Sterben des Fortschritts?
3. PHANTASIE IN LES CHRONIQUES DU PLATEAU-MONT-ROYAL
3.1. Traumwelten
3.2. Der fiktionale Text
3.2.1. Der Einfluss des Lesens auf die Protagonisten
3.2.2. Das Erzählen von Geschichten
4. PHANTASTIK IN LES CHRONIQUES DU PLATEAU-MONT-ROYAL
4.1. Duplessis
4.1.1. Duplessis vs. Godbout – Realität und Fiktion
4.1.2. Duplessis in der rue Fabre
4.1.3. Duplessis und Marcel
4.2. Die tricoteuses
4.2.1. Die tricoteuses als destinatrices
4.2.2. Die tricoteuses als éducatrices
5. ZUSAMMENFASSUNG
BIBLIOGRAPHIE
Primärliteratur
Sekundärliteratur
EIDESTATTLICHE ERKLÄRUNG
1. EINLEITUNG
1.1. Begründung des Themas und Struktur der Arbeit
Michel Tremblays Les Belles-Sœurs sind häufig Thema in diversen Seminaren und auch meiner Zwischenprüfung gewesen. Es fiel mir nicht schwer, mich auf ihn bzw. seine Werke festzulegen, als es ein Thema für meine Magisterarbeit zu finden galt. Allerdings war die Entscheidung für bestimmte Werke nicht leicht, da sein Schaffen recht umfangreich ist.
Den Durchbruch schaffte Tremblay mit seinen Theaterstücken und so vielfältig sie auch sind, sind es Les Chroniques du Plateau-Mont-Royal, die Figuren wie Albertine, Germaine und Linda Lauzon, la grosse femme, la duchesse und vielen anderen, die aus viel eher entstandenen Theaterstücken bekannt sind, eine Vergangenheit geben. Damit bilden die mittlerweile sechs Bände der Chroniques[1] einen Anfang in vielerlei Hinsicht: Einerseits ist der erste Band, La grosse femme d’à côté est enceinte, der erste erfolgreiche Roman Tremblays, andererseits tragen die sechs Bände mit ihren Informationen über die Figuren zum Verständnis von Tremblays Gesamtwerk bei.
Wider Erwarten sind die Chroniques nicht nur eine Familiengeschichte, die in die soziale und historische Realität der 1940er und 1950er Jahre eingebettet ist, sondern sie werden ergänzt durch phantastische Elemente wie die tricoteuses, die mit ihrer Handarbeit das Schicksal der Bewohner der rue Fabre lenken und später Marcel beim Erwachsenwerden helfen. Hinzu kommt Duplessis, die wiederauferstandene Katze, die nur von einigen ausgewählten Personen gesehen werden kann. Diese Elemente werden Teil meiner Betrachtungen sein. In der vorliegenden Arbeit möchte ich darstellen, wie Tremblay diese phantastischen Elemente verwendet und aufzeigen, dass sich für sie, zumindest was Marcel betrifft, logische Erklärungen finden lassen. Ziel dieser Argumentation wird es sein, zu beweisen, dass sich der realistische Effekt der Chroniques auch durch die phantastischen Elemente nicht verliert.
Zu diesem Zweck werde ich in einem ersten Schritt die Begriffe „Phantasie“ und „Phantastik“ sowie deren Anwendung in dieser Arbeit erläutern, bevor ich in den dreigeteilten Hauptteil übergehe. Zunächst werde ich in dieser Dreiteilung an ausgewählten Beispielen aufzeigen, wie Michel Tremblay die Realität in die Chroniques einbringt. Teil meiner Betrachtungen werden der Einfluss des Zweiten Weltkrieges, die sozialen Lebensumstände der Protagonisten, ihre Sprache, die Familienstrukturen, sowie die grosse femme als hervorstechende Figur sein.
Anschließend werde ich darstellen, wie die Phantasie der Protagonisten zum Ausdruck kommt. Hierbei werde ich betrachten, wie ausgewählte Figuren mit Fiktion umgehen – sei es, was sie selbst gelesen haben oder Geschichten, die sie selbst erzählen. Teil dieser Betrachtungen werden auch Träume der Protagonisten sein, sowie Édouards Verhältnis zum Theater und seine Transsexualität.
In einem letzten Schritt werde ich die phantastischen Elemente der Chroniques analysieren. Hierbei werde ich genauer auf die tricoteuses und die Katze Duplessis eingehen. Das Hauptaugenmerk wird dabei auf Marcels Verhältnis zu den tricoteuses und Duplessis legen, da sich seine Beziehung zu den genannten phantastischen Elementen von den anderen Protagonisten der Chroniques abhebt. Dabei werde ich logische Gründe für seine besondere Beziehung zu den genannten Figuren aufzeigen.
Abschließend werde ich die Ergebnisse meiner Analyse zusammenfassen und meinen persönlichen Standpunkt darstellen.
1.2. Begriffsklärung
Die Schlüsselbegriffe dieser Arbeit sind „Realismus“, „Phantasie“ und „Phantastik“, deren Klärung das Ziel dieses Abschnittes meiner Arbeit sein soll. Für den Begriff „Realismus“ bedarf es meiner Meinung nach keiner umfangreichen Erklärungen. Mit „Realismus“ bzw. „realistischen Elementen“ bezeichne ich im Rahmen dieser Arbeit alle rational erklärbaren Ereignisse und wirklichkeitsgemäßen Darstellungen. In diese Kategorie fallen demzufolge die Lebensumstände und die Sprache der Protagonisten, sowie Zeit und Ort der Handlung.
Phantasie hingegen definiert sich wie folgt: „Aus dem gr.-lat. phantasia entlehnt, bezeichnet Phantasie ein besonderes Vermögen der Vorstellung, Einbildung, ein Vermögen der Erzeugung von geistigen Bildern und Erscheinungen“ (Matzker 10). Es handelt sich also um eine Fähigkeit, über die ein Mensch verfügt. Folglich ist sich ein Mensch dessen bewusst. Dieses Bewusstsein ist der entscheidende Punkt für meine Betrachtungen: Wenn die Protagonisten wissen und verstehen, dass es sich nicht um die Realität handelt, sondern um Ereignisse, die sich – sei es bewusst (z.B.: Geschichten lesen oder erzählen) oder unbewusst (z.B.: Träume) – in ihrer oder der Vorstellungskraft anderer abspielen, ist die Bezeichnung „Phantasie“ anwendbar. Ausgenommen von dieser Erklärung sind imaginäre Freunde und Halluzinationen, da sich die davon Betroffenen nicht bewusst sind, dass diese Phänomene sich nur in ihren Köpfen abspielen. Wichtig ist hierbei auch, dass beim Leser keine Zweifel darüber bleiben, dass das, was er gerade liest, Teil der Vorstellungskraft einer der Romanfiguren ist. Dies ist der entscheidende Unterschied zu den phantastischen Elementen, deren Ambivalenz dazu führt, dass beim Leser Zweifel darüber bleiben, welche der Deutungsmöglichkeiten denn nun die richtige ist. Die Hinweise auf die Phantasie-Elemente sind eindeutig und lassen keine Zweifel zu, während diese Elemente in der Phantastik fehlen oder in unterschiedliche Richtungen deuten.
Die Definitionen für Phantastik bzw. phantastische Literatur sind teilweise sehr umfangreich, da es sich bei den Phänomenen in den Chroniques aber nur um Elemente der Phantastik handelt, werde ich auf ausschweifende Erklärungen zur Begriffsgeschichte und Entwicklung des Genres verzichten. Ich werde vielmehr auf die grundlegende Erklärung dessen, was „phantastisch“ ist, eingehen und die Merkmale der phantastischen Literatur, die auf die Chroniques zutreffen, erläutern.
Zunächst ist festzuhalten, dass „[…] bis heute […] keine Einigkeit darüber [besteht], was unter dem Begriff der phantastischen Literatur überhaupt zu verstehen sei“ (Durst 17) und es demnach viele Definitionsansätze gibt. Durst und Chanady hingegen sind sich aber in einem Punkt einig und dieser Punkt ist für die Chroniques zutreffend: „In the fantastic, supernatural beings destroy harmony of a world ruled by the norms of reason“ (Chanady 3) bzw. „Für maximalistische Theoretiker umfaßt die phantastische Literatur alle erzählenden Texte, in deren fiktiver Welt die Naturgesetze verletzt werden“ (Durst 29). Florence und ihre Töchter beeinflussen das Schicksal ihrer Umwelt durch ihr Handwerk. Dies ist ganz klar ein Bruch mit den Naturgesetzen, denn normalerweise zieht ein falsch gestrickter Strumpf keinen Tod nach sich. Auch für Duplessis, die verstorbene sprechende Katze, gibt es auf den ersten Blick keine logische Erklärung.
Des Weiteren ist für die phantastische Literatur von Wichtigkeit, dass „[d]as Phantastische […] auf einem Verfremdungsverfahren [basiert], das ein reguläres Realitätssystem durch ein zweites, wunderbares Realitätssystem in Frage stellt“ (Durst 116). Dieser Umstand ist in den Chroniques gegeben. Die tricoteuses leben wie die anderen Protagonisten in der rue Fabre. Ihr Haus wirkt auf die Bewohner des Viertels gepflegt, aber verlassen, während Marcel und Duplessis die Einrichtung wahrnehmen. Daher stellen Figuren wie Victoires Familie, die Prostituierten Mercedes und Béatrice oder auch die Nonnen der école des Saints-Anges das reguläre Realitätssystem, von dem Durst hier spricht, dar, während Florence und ihre Töchter das wunderbare Realitätssystem darstellen. Gleiches trifft auch auf den Kater Duplessis nach dessen Tod und Wiederauferstehung zu.
Zu den Merkmalen der Phantastik gehört die realistische Rahmenhandlung: „Just as a coherent code of the supernatural is an essential characteristic of the fantastic, a realistic framework is indispensable” (Chanady 65). Durch eine solche Rahmenhandlung werden die phantastischen Elemente besonders hervorgehoben und ihre Wirkung verstärkt. Folglich ist die mehrfache Erwähnung des phantastischen Phänomens von Nöten, um den beabsichtigten Effekt aufrecht zu erhalten: „If a supernatural event is introduced at the beginning of the narrative and not mentioned again, the effect is quickly destroyed” (Chanady 57). Auf die Chroniques trifft dies zu, da sowohl die Katze als auch die tricoteuses mehrfach erwähnt und in die Handlung eingebettet sind. Ihr Verschwinden geht einher mit Marcels Erwachsenwerden, was seine besondere Verbindung zu diesen Figuren unterstreicht.
Tremblays Wahl fällt mit Absicht auf Marcel, als es darum geht, die Verbindung
zwischen den phantastischen Phänomenen und der realen Welt zu schaffen. In den ersten Bänden der Chroniques ist Marcel ein Kind, später ist er ein jugendlicher Epileptiker, der eine spezielle Förderklasse besucht. Für den Leser bleibt der Zweifel, inwiefern Marcels Wahrnehmungen der tricoteuses und Duplessis wirklich unerklärlich sind oder ob diese Phänomene sich vielleicht in seiner Phantasie abspielen und er sich dessen nicht bewusst ist. Dieses Merkmal der Chroniques entspricht einem Merkmal der phantastischen Literatur: „The code of the supernatural can also be introduces by a minor character, whose testimony is suspect, but whose reactions are remembered by the reader when an unusual event does occur” (Chanady 80).
Auch das Ende der Chroniques entspricht den Merkmalen der phantastischen Literatur: „Das Ende ist nicht sinnvoll, sondern zeigt oft einen Abbruch in Tod oder Wahnsinn“ (Schumacher 38). Es stirbt zwar niemand, aber Marcels Versuch, seine Mutter anzuzünden, endet damit, dass ihm ein Heimplatz zugewiesen wird. Es wird zwar nicht explizit gesagt, dass dieses Heim für Geisteskranke ist, aber der Leser kann diesen Schluss leicht ziehen. Demnach lässt sich Schumachers Feststellung auf die Chroniques anwenden.
2. REALISTISCHE DARSTELLUNGEN IN LES CHRONIQUES DU PLATEAU-MONT-ROYAL
In diesem Abschnitt meiner Arbeit möchte ich auf ausgewählte realistische Elemente in Les Chroniques du Plateau-Mont-Royal eingehen. Die für diesen Teil ausgewählten Aspekte der realistischen Darstellung zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich rational erklären und logisch nachvollziehen lassen. Teil meiner Betrachtungen werden hierbei der historische Zusammenhang, die sozialen Umstände, die spezielle Sprache des Plateau Mont-Royal, die familiären Strukturen sowie die grosse femme und ihre symbolische Bedeutung sein.
2.1. Die historische Wirklichkeit
Die 1940er und 1950er Jahre bilden den Zeitrahmen für die Chroniques. Demzufolge ist der Zweite Weltkrieg eine unausweichliche Größe, wenn es um die Darstellung der historischen Realität geht. Tremblay geht weniger auf die kanadische Regierung und ihre Entscheidungen ein, dafür aber auf die Konsequenzen der Kriegsteilnahme für die Bevölkerung.
Zunächst ist festzuhalten, dass „[…] die Frankokanadier mehrheitlich einer allgemeinen Wehrpflicht ablehnend gegenüber [standen]“ (Sauter 89) und demnach nicht am Krieg teilnehmen wollten: „Sollte es der Regierung gestattet sein, auch zwangsverpflichtete Truppen nach Übersee zu schicken? Zwei Drittel der Wähler gaben der Regierung freie Hand. Aber in Quebec stimmten weniger als 30 Prozent in diesem Sinne“ (Sauter 89). Auch die Protagonisten der Chroniques sind von dieser Entscheidung betroffen und suchen nach Möglichkeiten, nicht in den Kampf nach Europa geschickt zu werden: „T’es sûr qu’y t’ont refusé dans l’armée parce que t’as les pieds plats ? J’trouve que pour un pieds-plats, tu te fais aller en crisse ! […] T’es sûr, Gabriel, que t’as pas mis ta femme enceinte juste pour pas aller à la guerre ?“ (GF 33)[2]. Die Auseinandersetzung der Brüder zeigt, welche Gründe die Männer jener Zeit anführten, um nicht in die Armee eingezogen zu werden. Sowohl Édouard als auch Gabriel wirken angespannt und bezweifeln den Grund des jeweils anderen für die Wehrdienstverweigerung. Für Gabriel sind Édouards Senkfüße ein an den Haaren herbeigezogener Grund, während Édouard bezweifelt, dass das ungeborene Kind seines Bruders überhaupt ein Wunschkind ist. Er zieht die Möglichkeit in Betracht, dass sein Bruder dieses Kind nur gezeugt hat, um als mehrfacher Familienvater den Kriegsdienst verweigern zu können.
Im Gegensatz dazu steht Albertines Ehemann Paul, der sich trotz seiner familiären Verpflichtungen freiwillig für die Armee gemeldet hat: „[…] la guerre, à Noël 1939, ce fameux soir où Paul, le mari d'Albertine, avait annoncé qu’il venait de s’enrôler et qu’il risquait de partir pour l’Europe d’un jour à l’autre“ (GF 81). Im ersten Augenblick ist nicht klar, warum Paul das Risiko eingeht, sein Leben im Kampf zu verlieren. Allerdings lässt sich aus den Lebensumständen der Familie (sie leben gemeinsam mit ihren Kindern in der Wohnung der Großmutter, zusammen mit Albertines Bruder und dessen Familie sowie dem allein stehenden Édouard) ableiten, dass das für den Kriegseinsatz an die Familie gezahlte Geld dringend benötigt wird:
Car les pères de famille nombreuse n’étaient pas obligés d’aller à la guerre, sauf s’ils avaient envie de s’échapper ou s’ils était trop pauvres pour faire vivre leurs familles (la guerre souriait partout sur les affiches : « Tu me donnes ton mari, j’te donne quatre-vingts piasses par mois ! ») (GF 55/56)
Gleichzeitig wird aber auch angedeutet, dass der Kriegsdienst für Paul nur ein Mittel zum Zweck war, um eben diesen Lebensumständen zu entfliehen. Seine Frau Albertine scheint über seinen Entschluss und letztlich über seine Entsendung nach Europa nicht allzu betrübt: „[…] son mari, Paul, maintenant à la guerre Dieu merci, […]“ (GF 26). Eine derartige Reaktion der Ehefrau lässt darauf schließen, dass es um die Ehe von Paul und Albertine nicht zum besten stand. Da eine Scheidung eine Schande für beide Ehepartner dargestellt hätte und die Kirche sie nur im Fall eines Ehebruches gestattet hätte, ist Pauls freiwillige Meldung zum Kriegsdienst der einzige Ausweg aus der Ehe. Das Risiko, im Krieg zu fallen, hat er hierbei wohl außer Acht gelassen. Albertine hingegen ist sich bewusst, was der Verlust des „Ernährers der Familie“ bedeuten würde. Deshalb äußert sie den Wunsch, dass Paul nur verschollen sein möge: „[…] si tu veux que je me roule à terre de joie, apprends-moé […] que ton père est porté disparu, ou ben donc qu’on est devenus millionnaires“ (TP 350)[3]. Hierbei scheint weniger die Sehnsucht nach dem Ehemann der Auslöser für Albertines Wunsch, als die Notwendigkeit seiner Anwesenheit als Hauptverdiener der Familie, andernfalls hätte Albertine den Wunsch nach dem Millionärdasein nicht auf diese Art angeschlossen. Das materielle Glück, das sich aus plötzlichem Reichtum ergeben hätte, steht auf gleicher Stufe wie Pauls mögliche Rückkehr. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass ihr Pauls Leben und das emotionale Glück mit ihm genauso viel Wert ist wie eine Geldsumme, die sie nie besessen hat und wahrscheinlich auch nie besitzen wird. Mit Paul hingegen hat sie schon Zeit verbracht und sogar Kinder mit ihm. Sie weiß also, was seine Rückkehr in die Familie bedeuten würde. Dennoch sind die bekannten Gefühle nicht wichtiger für sie als die vermeintliche finanzielle Sorglosigkeit, die sich auf dem ihr unbekannten Reichtum ergeben würde. Letztlich erfährt der Leser, dass Paul im Krieg gefallen ist, allerdings scheint Albertine eine gewissen Erleichterung über diese Tatsache zu verspüren: „[…] dans son lit de veuve de guerre qu’elle avait réappris à apprécier parce qu’elle savait son mari tant haï, enterré quelque part sur les côtes de Normandie, ne reviendrait jamais la harceler, l’humilier, la soumettre“ (DR 490)[4]. Albertines Erleichterung wird nicht dadurch ausgelöst, dass sie weiß, welches Schicksal ihrem Mann widerfahren ist. Dies wäre verständlich, denn die Ungewissheit über seinen Verbleib hätte wohl immer die Hoffnung auf seine Rückkehr in den Kindern aufrechterhalten. In Albertines Fall ist es aber vielmehr eine Angst vor seiner Rückkehr, wie sich anhand der Textstelle erkennen lässt. Paul hat Albertine schon vor seinem Kriegseinsatz gedemütigt und belästigt, was sich im Falle einer Rückkehr vermutlich fortgesetzt hätte. Daher ist Albertines Erleichterung über eine ausbleibende Rückkehr Pauls nachvollziehbar.
Ähnlich wie Paul versucht auch Gérard Bleau Abstand zu seinem Leben im Montrealer Arbeiterviertel Plateau Mont-Royal zu bekommen, in dem er sich für den Wehrdienst meldet:
Ce soir-là, au bureau d’enregistrement de l’Armée canadienne, place Viger, au champ de Mars, on vit arriver un être hirsute, titubant, visiblement paqueté, qui braillait des obscénités en se frappant la poitrine et qui exigeait une plume et de l’encre de chaque homme qu’il rencontrait, soldat ou civil. « J’veux signer, tabarnac ! J’veux signer ! Emmenez-moé avec vous autres ! Chus jeune ! Chus t’en santé ! J’ai pas les pieds plats ! S’il vous plaît, occupez-vous d’un écœurant qui veut pus rien savoir de la vie pis qui demande pas mieux que d’aller tuer du pauvre monde pour le salut de ses péchés ! J’veux signer ! Profitez-en pendant que mon nom est encore propre ! Demain, y va t’être trop tard ! Demain soir, à c’t’heure-citte, l’avoir faite si vous vous occupez pas de moé ! Mon envie est trop forte pour moé pis Thérèse est trop belle ! Laissez-moé aller mourir de l’autre bord ! » Il s’écroula sur une chaise qu’on lui présentait et signa sans le lire un papier qui le condamnait à aller se battre l’autre côté des grandes eaux pendant trois longues années. (TP 317)
Gérard fühlt sich von der viel jüngeren Thérèse sexuell angezogen, wofür er keine Erklärung hat. Er spürt jedoch, dass er Thérèse etwas antun könnte, wenn er jetzt nicht auf Distanz geht. Seine extrem anmutende Wahl fällt auf den Kriegsdienst. Ich denke, dass es sich hierbei um den Versuch handelt, sich mit Hilfe der Armee eine gewisse Disziplin anzueignen und mittels der Erfahrungen im Kampfeinsatz, über die zwiespältigen Gefühle für Thérèse hinwegzukommen. Gérard zieht auch die Möglichkeit in Betracht, in Europa zu sterben. Er bettelt im bureau d’enregistrement förmlich um die Möglichkeit, im Krieg fallen zu dürfen, um von Thérèse loszukommen.
Die Stimme hingegen, die Tremblay den Kriegsdienstverweigerern gibt, ist aber deutlicher als die derer, die in den Krieg ziehen. Gabriel wird – zumindest in seiner Stammkneipe – zum Fürsprecher der Kriegsdienstverweigerer:
Si le Canada veut épauler l’Angleterre, c’est son problème ! Moé, j’ai pas envie d’aller massacrer du monde pis perdre des membres pour un pays qui a jamais rien faite pour moé ! […] Faut sauver la France, y me semble... la mère patrie... nos racines... […] La France ! La France qui nous a abandonnés ! La France qui nous a vendus ! Sauver la France pour qu’a’continue à nous chier sur la tête, tête, en riant de notre accent pis en venant nous péter de la broue en pleine face ! […] J’veux pas mourir pour la France, moé ! J’veux pas non plus mourir pour le Canada ! Pis j’veux surtout pas mourir pour l’Angleterre ! (GF 117)
Der Widerstand der Quebecker gegen den Kriegseinsatz hat weniger etwas mit ihrer Friedfertigkeit als damit zu tun, dass sie es ablehnen, für Kanada in den Krieg zu ziehen. Die Männer lehnen es ab, für ein Land zu kämpfen, das ihrer Meinung nach nichts für sie getan hat. Des Weiteren sehen sie es nicht ein, ihr Leben für die Befreiung Frankreichs zu riskieren. Zwar waren es die Franzosen, die Quebec gegründet haben und somit ist Frankreich für Gabriel und seine „Stammtischbrüder“ das Mutterland, aber bei ihnen sitzt der Schock über den Ausgang der conquête immer noch tief. Zwar haben sie den Krieg Frankreichs gegen Großbritannien auf nordamerikanischen Boden nicht erlebt, aber sie wissen, dass Quebec 1763 (Vgl. Dale)[5] britische Kolonie wurde. Ihrer Meinung nach, hat das Mutterland die Kolonie Quebec bzw. jener Zeit die nouvelle France dem Feind überlassen und sie damit aufgegeben. Aus diesem Grund sehen die die Männer keinen Anlass, dem ehemaligen Mutterland jetzt zu Hilfe zu eilen, genauso wenig wie sie es einsehen, sich für Kanada einzusetzen, nachdem sie in einem Volksentscheid gegen die Entsendung von Truppen gestimmt haben: „On est tu-seuls, au Canada, à avoir voté non, dans la province de Québec ! Toutes les autres provinces ont voté oui excepté nous autres !“ (GF 118). Hier bindet Tremblay eine weitere historische Tatsache ein, wie der Vergleich mit Udo Sauters Geschichte Kanadas zeigt: „Sollte es der Regierung gestattet sein, auch zwangsverpflichtete Truppen nach Übersee zu schicken? Zwei Drittel der Wähler gaben der Regierung freie Hand. Aber in Quebec stimmten weniger als 30 Prozent in diesem Sinne“ (Sauter 89).
Da im Zweiten Weltkrieg zwar kanadische Truppen zum Einsatz kamen, der Krieg selbst aber nicht auf kanadischem Boden geführt wurde, erhält Édouard erst bei seiner Frankreich-Reise einen Eindruck davon, welche Schäden der Krieg wirklich hinterlassen hat:
Certaines des villes que nous traversons, même certains villages, ont été touchés par la guerre. Je n’ai pas le temps de détailler ce que je vois, nous allons trop vite, mais des images de fermes détruites ou pans de mur écroulés surgissent souvent entre deux bouquets d’arbres, juste assez longtemps pour me mettre mal à l’aise. On dirait la bombe vient d’éclater, que la poussière a à peine eu le temps retomber et je m’attends à tout bout de champ à voir surgir une ambulance de la Croix-Rouge. (NE 705)[6]
Auch wenn Édouard auf ausführliche Beschreibungen verzichtet, geht aus seinem Tagebuch hervor, wie sehr er von dem Anblick der kriegsgeschädigten Landschaft schockiert ist. Selbst 1947, also zwei Jahre nach Kriegsende, hat er immer noch den Eindruck, als lägen die Angriffe erst wenige Augenblicke zurück. Des Weiteren beschreibt er die Erfahrung, diese Gebiete selbst zu sehen, als viel ergreifender als deren Beschreibung in den Medien: „On a beau entendre parler de la guerre, lire les journaux, voir des films ou écouter les récits de ceux qui y était, rien ne peut autant souligner l’horreur qu’une ville détruite, comme rayée de la carte“ (NE 700). Demnach ist die reale Erfahrung, ein ehemaliges Kriegsgebiet zu sehen, einschneidender als die eigene Vorstellung anhand von Beschreibungen. An dieser Stelle steht also Wahrnehmung über Phantasie.
Auch wenn der Zweite Weltkrieg nicht in Kanada stattgefunden hat, ist er dort doch in Form von Lebensmittelrationierungen und Knappheiten zu spüren:
« […] Vous comprenez, c’est la guerre... J’sais pas si les épinettes sont plus rares, mais on a ben de la misère à avoir d’la p’tite bière... » « Vous aussi vous mettez toute su’l’ dos d'la guerre ! Depuis trois ans on dirait que toutes les paresseux du monde se sont donné la main pour nous faire accroire qu’y’est pus possible de rien avoir rapport à la guerre ! » (GF 132)
Einerseits beschwert sich Albertine darüber, dass es aufgrund des Krieges schwierig ist, bestimmte Dinge zu besorgen und hält es auch für möglich, dass es sich dabei nur um einen Vorwand handelt. Andererseits nutzt sie die Rationierungen als Erziehungsmaßnahme für ihre Kinder und Neffen:
Faut pas oublier qu’on est en guerre ! Pensez aux p’tits Français qui ont rien à manger pis offrez ça au bon Dieu... » Thérèse soupira bruyamment. « Moman franchement, arrête de nous parler de la guerre chaque fois qu’on se met quequ’chose dans’bouche! » « J’trouve que vous l’oubliez pas mal trop vite ! On est rationné y faut pas l’oublier ! Vous savez c’que ça veut dire ! On vous l’a expliqué ! Vous êtes pas des épais ! Y faut avoir des coupons pour avoir du sucre, de la viande, du beurre… » Les enfants, qui connaissaient le refrain par cœur depuis deux ans et qui, de toute façon, n’avaient jamais été privés de rien, ne l’écoutaient déjà plus. (TP 264)
Offensichtlich hat Albertine dieses Thema schon überreizt, denn die Kinder hören ihr nicht wirklich zu, zumal sie nichts von den Rationierungen gemerkt haben. Thérèse hält ihrer Mutter sogar vor, diese „Mitleidstour“ immer anzubringen, wenn die Familie isst. Sie scheint davon genervt zu sein, was wiederum Albertine dazu veranlasst, noch einmal zu betonen, welche Produkte es nur noch über Coupons gibt.
Alles in allem sticht die Thematik „Zweiter Weltkrieg“ in den Chroniques hervor. Die Bände Le Premier Quartier de la lune und Un objet de beauté spielen während der beginnenden révolution tranquille, auf die Tremblay aber weniger eingeht als auf den Zweiten Weltkrieg – vermutlich weil es über den Handlungszeitpunkt 1942 (Band 1 und 2) bzw. 1947 (Band 3 und die Tagebuchauszüge in Band 4) mehr zu berichten gibt als über den Handlungszeitpunkt 1952 (Band 5 und 6), der mehr eine Übergangsphase von den Kriegsjahren zu den Höhepunkten der révolution tranquille bildet.
2.2. Die soziale Wirklichkeit
Es ist schwierig, die soziale von der historischen Wirklichkeit zu trennen. Ich versuche es dennoch und begründe es mit der Tatsache, dass der Zweite Weltkrieg nicht nur Quebec bzw. Kanada betraf und damit das Leben vieler auf ähnliche Weise beeinflusste. In diesem Kapitel möchte ich die speziellen Quebecker Rahmenbedingungen, wie sie in den Chroniques beschrieben werden, behandeln. Der Fokus wird dabei auf den Sichtweisen der quebeckischen Gesellschaft liegen.
Da der Zweite Weltkrieg und der damit drohende Wehrdienst hauptsächlich die männlichen Protagonisten betrifft, möchte ich hier mit in den Chroniques verankerten Frauenbild der Quebecker Gesellschaft der Kriegs- und Nachkriegszeit beginnen. Die Zukunftsvisionen für die heranwachsenden Mädchen der rue Fabre sieht wie folgt aus: „Toutes ces filles, futures femmes au foyer, obéissantes et discrètes, parfaits produits de la religion catholique, […]“ (TP 387). Sie werden damit das Abbild ihrer Mütter sein: Hausfrau, fromm und kinderreich.
Im Gegensatz zu dieser Darstellung steht die Mutter-Tochter-Beziehung zwischen Mercedes und ihrer Mutter. Die Mutter der Prostituierten ist kinderreich und fromm:
[…] sa mère élevait courageusement ses huit enfants entre les deux grandes bornes qui limitaient sa vie : la prière du matin et la prière du soir, religieuse à l’excès, soumise à son curé plus qu’à son mari, confiante en la religion catholique au point d’avoir réussi à effacer en elle toute trace de caractère personnel ou de trait propre. (GF 43)
Die Religion spielt eine wichtige Rolle in ihrem Leben und das Wort des Pfarrers ist von größerer Bedeutung als das des eigenen Ehemannes. Damit ist sie das genaue Gegenteil ihrer kinderlosen Tochter, die ihren Lebensunterhalt mit Prostitution verdient. Laut Brochu ist dies der unglückliche Weg, den viele Frauen jener Zeit gegangen sind, um Unabhängigkeit zu erlangen: „La libération pour la femme, dans ce milieu et à cette époque, prend presque fatalement la forme de la prostitution“ (Brochu 2002: 171)[7]. Mercedes hat nicht nur diesen Weg gewählt, sie ist auch überzeugt davon, dass er richtig ist und versucht, Béatrice davon zu überzeugen:
« Tu travailles pas aujourd’hui ? » « Oui. J’m’en vas travailler, là. » « Vendre ton matériel à’ verge pis tes boutons de culottes ? » « Oui, pis ? » « Veux-tu faire ça toute ta vie ? » « J’vous vois v’nir avec vos gros sabots... » « T’aimes mieux vendre des boutons ? » « J’le sais pas. J’ai jamais essaye c’que vous faites. » (GF 21)
Mercedes verhöhnt ihre zukünftige Kollegin für ihre biedere Anstellung. Sie hält es für unmöglich, dass Béatrice auf Dauer den nötigen Profit und ausreichend Bestätigung aus dem Verkauf von Knöpfen ziehen wird, um ein angemessenes Leben führen zu können. Béatrices offensichtliche Verunsicherung wird noch einmal von ihrer Tante Ti-Lou, einer ehemaligen Prostituierten, verstärkt: „[…] c’est pas en restant su’a rue Fabre, au fond d’une maison de chambres, ou ben donc su’a rue Mont-Royal à vendre des boutons de culottes, que tu vas te rencontrer l’homme qui va te couvrir de beurre, de crème pis de jambon en temps de guerre !“ (GF 45/46). Für Ti-Lou kommt zum Faktor „unpassende Berufswahl“ auch noch der Faktor „Herkunft aus dem falschen Viertel“ hinzu. Béatrices Tante hält es für unmöglich, den sozialen Aufstieg zu schaffen, wenn man diese beiden negativen Faktoren auf sich vereinen kann. Beziehungen sind ihr Weg, ihren Lebensstandard in schwierigen Zeiten aufrecht zu erhalten: „Ti-Lou avait du vrai beurre, si rare en temps de guerre, mais Ti-Lou avait des connections !“ (GF 45). Diese Annehmlichkeiten sind es Ti-Lou wert, ihre alten Kontakte auszunutzen. Ti-Lous, Mercedes’ und später auch Béatrices libération, wie Brochu es nennt, ist somit das genaue Gegenteil der von der Gesellschaft geforderten frommen Hausfrau und Mutter.
Während Ti-Lou, Mercedes und später auch Béatrice ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf ihres Körpers verdienen, wird Sexualität von der Gesellschaft wie folgt betrachtet: „Marie-Louise Brassard […] considérait la sexualité comme un mal nécessaire (non pas un péché mais le péché, le seul, l’ultime, par où les femmes doivent passer pour assurer une progéniture à la race)“ (GF 121). Marie-Louise steht hierbei stellvertretend für die ganze Gesellschaft. Bei der Sexualität handelt es sich also um ein notwendiges Übel, das für die Fortpflanzung nötig ist. Dahinter steht die so genannte revanche des berceaux, sprich der Gedanke, die quebeckische Rasse und damit ihre Kultur durch hohe Geburtenraten vor dem Aussterben zu bewahren. Im Widerspruch zu diesem Anliegen steht die Haltung der Gesellschaft der Schwangerschaft gegenüber: „Attendre un bébé avait toujours été vaguement honteux pour les femmes de la ville et elles dissimulaient habituellement leur gros ventre sous un corset qui les étouffait et des vêtements très amples qui déguisaient leur silhouette!“ (GF 148). Der hervorstehende Bauch, der eine Schwangerschaft verrät, wird versteckt, da er das Zeichen für die gelebte Sünde „Sexualität“ ist.
Zwar sind viele Kinder gewünscht, aber an diesen Wunsch sind auch gewisse Vorstellungen geknüpft. So sollte eine Frau möglichst jung sein, wenn sie Kinder kriegt: „Y disent que ça prend rien qu’une cochonne pour vouloir des bébés passé quarante ans ! Y disent qu’à quarante ans une femme, ça se repose ! Qu’y’est trop tard pour commencer à laver des couches pis à élever des enfants !“ (GF 113). Die Schwangerschaft der grosse femme wird aufgrund des Alters der werdenden Mutter verpönt. Die Gesellschaft erwartet von einer Frau in ihrem Alter, dass sie Großmutter, aber nicht noch einmal Mutter wird. Der Umkehrschluss ist nicht, dass die grosse femme ihr Wunschkind erwartet, sondern dass sie „rien qu’une cochonne“ ist, was eigentlich soviel wie „schmuddelig“ bedeutet, sich aber auch auf ihr vermeintlich ausschweifendes Sexualleben anwenden lässt.
Eine Schwangerschaft an sich wird schon als honteux betrachtet, eine unverheiratete Schwangere hingegen sieht sich einem enormen gesellschaftlichen Druck ausgesetzt, der sie zum alleräußersten zwingt:
Même Imelda Beausoleil qui lui avait donné Laura au début des années vingt n’avait jamais rien dit à personne. Elle avait réussi à cacher sa grossesse jusqu’à la fin et était descendue mettre l’enfant au monde à Saint-Jérôme, chez une de ses sœurs qui avait juré sur l’Évangile d’élever la petite fille comme si elle avait été sienne sans jamais rien dire à quiconque. (GF 156)
Josaphats Geliebte versteckt ihre Schwangerschaft so gut es geht und lässt nach der Entbindung ihr Kind bei ihrer Schwester. Es wäre ihr nicht möglich gewesen, als Alleinerziehende dieses Kind zu behalten. Als Umkehrschluss wäre es möglich zu behaupten, dass sie durch adäquate Verhütungsmittel gar nicht erst in diese Situation geraten wäre. Dies allerdings ließ die katholische Kirche nicht zu, wie in den Chroniques erwähnt wird: „Écrasées par cette religion monstrueuse qui défendait toute sorte de moyen de contraception […]“ (GF 148).
Die Kirche war aber nicht nur im Bereich „Verhütung“ Wort führend, sondern auch verantwortlich für das Schulwesen. Ihre Autorität in diesem Bereich ist Angst einflößend wie die Reaktion der Schülerinnen zeigt: „[…] peur de voir une religieuse les montrer du doigt à l’entrée de la cour d’école si elles n’étaient pas absolument impeccables“ (TP 199). Des Weiteren gehörte körperliche Züchtigung zum Schulalltag: „Les coups de règle de la directrice étaient tristement célèbres dans toute la paroisse et personne n’avait jamais osé intervenir tant l’autorité de la directrice était définitive“ (TP 205). Diese Textpassage zeigt, dass diese Erziehungsmethoden von den Eltern nicht gutgeheißen werden, aber die Autorität der Kirche zu groß ist, als dass sie sich trauen, dagegen aufzubegehren.
Wie in Thérèse et Pierrette à l’école des Saints-Anges dargestellt, gehen die Jungen und Mädchen in getrennte Schulen. Eine wirkliche Neuerung tritt 1947 ein, wie in La Duchesse et le Roturier beschrieben wird: „[…] les filles pouvaient maintenant assister à la séance des garçons, à une heure, à condition de présenter à l’entrée un billet de leur mère, le trio « Thérèse pis Pierrette » n’allait plus du tout à la séance des filles […]“ (DR 503). Die an den Schulen praktizierte Geschlechtertrennung wird bis zu diesem Zeitpunkt auch während der Filmvorführungen im Gemeindezentrum eingehalten. Die Aufhebung dieser Regelung ist für Thérèse und Pierrette eine kleine libération, um auf Brochu zurückzukommen. Sie lassen sich die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, nicht entgehen: Sie besuchen von nun an nur noch die Vorstellungen, die bisher den Jungen vorbehalten waren. Einerseits tun sie das, um diese neue Freiheit zu zelebrieren, andererseits, um Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht zu sammeln.
Ähnlich wie seine Nichte Thérèse hat Édouard seine eigene libération bzw. ein Erwachen, als er in La Duchesse et le Roturier beginnt, seine homo- und transsexuelle Neigung auszuleben. Zunächst ist anzumerken, dass „[m]ieux admise que l’inceste, l’homosexualité est cependant un révélateur autorisant le déchiffrement d’une société et la mesure de sa tolérance“ (Piccione 53). Demnach ist Homosexualität nicht gerne gesehen, wird Inzest gegenüber aber bevorzugt. Die Bedingungen, unter denen die Protagonisten Édouard und Samarcette ihre Beziehung ausleben, gestaltet sich wie folgt: „[…] j’ai fini par me crore en prison. J’sais pas pourquoi, j’me sus dit: ça y est, y nous ont pognés, Samarcette pis moi, pis y nous ont sacrßes en prison parce qu’y nous prennent pour des criminels !“ (NE 637). Édouard hat offensichtlich Angst davor, für seinen Lebenswandel ins Gefängnis zu kommen. Aus dieser Textstelle ist zu entnehmen, dass der Homosexualität nicht toleriert wird und diejenigen, die sie praktizieren, von der Gesellschaft als kriminell stigmatisiert sind.
2.3. Die Sprache
Der Handlungsort der Chroniques ist mit Ausnahme von Les nouvelles d’Édouard, das zum Teil in Paris spielt, die rue Fabre im Montrealer Arbeiterviertel Plateau Mont-Royal. Zur Identität der Anwohner gehört ihr ganz eigener Soziolekt, das so genannte joual. Ein Soziolekt ist „'[…] specific to a particular social group, and which carries with it the values and status of the same group. The social group in question can be defined in terms of class ..., age, or gender – or a permutation of all three' (Hawthorne, 1992: 167)” (zitiert nach Allen 219). Diese Definition trifft auf das joual zu. Die in den Chroniques auftretenden Sprecher sind alle Bewohner des Viertels Plateau Mont-Royal und sind entweder Hausfrauen (mit Ausnahme von Claire Lemieux, Marie-Sylvia und später auch Thérèse, die im Verkauf bzw. als Bedienung tätig sind, sowie Mercedes und Béatrice, den beiden Prostituierten) oder verdienen ihren Lebensunterhalt als Schuhverkäufer, Straßenbahnfahrer oder Koch.
Des Weiteren unterscheidet sich das joual nicht nur vom europäischen Standardfranzösisch, sondern variiert auch innerhalb der Sprechergruppe: „Plus le parler d’un individu diffère du français standard (ce qui dépend souvent de son éducation), plus on le considère comme du joual, sans qu’il y ait pour autant de distinction claire entre le joual et le français tout simplement canadien“ (Robinson)[8].
Michel Tremblay ist einer der ersten Autoren, der das joual für seine Theaterstücke verwendet. Das joual verleiht seinen Stücken Authentizität. Allerdings handelt es sich bei den Chroniques um Romane, in denen es nicht nur die Dialoge zwischen den Figuren, sondern auch eine Erzählinstanz gibt. In diesem Abschnitt meiner Arbeit möchte ich zunächst betrachten, wie das joual in den sechs Romanen Anwendung findet. In einem zweiten Schritt möchte ich betrachten, wie die Protagonisten dem Thema „Sprache“ gegenüberstehen.
Laut Brochu lassen sich in den Chroniques folgende Merkmale des joual nachweisen: „[…] les simples déformations de prononciation […] les abréviations phonétiques […] de mauvaises formations de temps verbaux […] des expressions populaires incorrectes […] des expressions grossières […] des sacres […] des anglicismes“ (Brochu 2002: 22). Mindestens eines dieser Merkmale lässt sich auf die Figuren frankokanadischen Ursprungs anwenden. So verwendet die Prostituierte Mercedes beispielsweise phonetische Verkürzungen und Anglizismen: „Betty Bird, c’t’un maudit beau nom. C’est ben catchy” (GF 21). Auch die ehemalige Prostituierte Ti-Lou verwendete die von Brochu umschriebenen Verkürzungen: „Fais-toé-z’en pas, y’avait plus qu’une église. Mais c’est vrai qu’y’avait juste une guidoune, par exemple : moé ! Quand chus-t’arrivée là en pleine hiver, les loups rôdaient autour de la ville… Y’en avaient même vu un dans une rue de Hull“ (GF 47). Daraus könnte man schlussfolgern, dass das soziale Milieu dieser Frauen Grund ihrer Ausdrucksweise ist.
Victoires Familie widerlegt diese mögliche Schlussfolgerung, da auch hier jeder das joual spricht. Als erstes Beispiel wäre hier Albertine zu nennen: „Que c’est ça, tout c’te train-là, à matin ! Le p’tit est pas encore habillé ? Y’a-tu mangé ?“ (GF 26). Dann ihre Tochter Thérèse: „Tais-toé pis pisse, toé!“ (GF 23). Hier wäre die Vorbildfunktion der Mutter ein Grund dafür, warum Thérèse das joual und kein Standardfranzösisch spricht.
In Bezug auf ihren Sprachgebrauch ist Albertines Schwägerin, die anfänglich namenlose grosse femme (In Band 6 heißt sie dann Nana.) widersprüchlich. Einerseits liest sie viel, u.a. auch Balzac, andererseits spiegelt sich das nicht in ihrer Sprache wider: „C’est pas une baie ouvarte. C’est pas une baie ouvarte sur l’océan, qui donne directement sur l’océan, non... c’est une baie farmée. Quand tu regardes en avant de toé, tu vois pas le large. Les deux bras de la baie se r’farment... y se touchent presque“ (GF 28). Auch ihr Sohn Richard bemerkt diese Tatsache: „Moman, franchement, tu lis Balzac, pis tu dis encore un banane pis une escalier !“ (DR 399). Es ist auffällig, dass er seine Mutter für die falsche Verwendung von Artikeln kritisiert, während er selbst „Moman“ statt „Maman“ sagt.
In den Chroniques gibt es aber auch Figuren, bei denen man die für das joual typische derbe Ausdrucksweise nicht erwartet. Eine dieser Figuren ist mère Benoîte, die Schulleiterin. Als sie Simone Côté zu sich zitiert, um sie für das fehlende Zeitschriftenabonnement zu rügen, scheint ihre Aussprache dem Standardfranzösisch zu entsprechen: „Ainsi donc mademoiselle Simone Côté, vous êtes trop pauvre pour vous abonner à l'Estudiante mais pas assez pour que cela vous empêche de subir une intervention chirurgicale inutile et sûrement très onéreuse !“ (TP 210). Als Simone aber aus Angst vor der Schulleiterin uriniert, verliert diese die Beherrschung: „On pisse dans mon bureau !“ (TP 211). Durch diese Ausdruckweise wirkt sie genauso gewöhnlich wie die anderen Figuren, die sie umgeben.
Selbst die tricoteuses und die Katze Duplessis, ihres Zeichens Teil der phantastischen Elemente, verwenden das joual. Bereits in der Eingangsszene von La grosse femme d’à côté est enceinte wird dieses deutlich: „Ouan… J’pense que c’est la première fois. […] C’est pas comme j’veux, c’est de même“ (GF 13). Auch bei der Katze Duplessis lassen sich Charakteristika des joual nachweisen: „Y faut de la patience, ben de la patience… T’es pas encore prêt…“ (DR 492). Obwohl die tricoteuses und Duplessis Teil des phantastischen Inventars der Chroniques sind, ist ihr Sprachgebrauch der Realität so angepasst, dass sie sich von den anderen Figuren nicht abheben. Es ist nicht möglich, sie aufgrund ihrer Ausdrucksweise als übernatürlich oder phantastisch zu identifizieren.
Die Verwendung des joual bei Tremblay ist bereits aus seinen Theaterstücken bekannt. Die eigentlich Neuerung in den Chroniques ist, dass […] un narrateur impersonnel s’exprime en joual!“ (Brochu 2002: 22). Hierbei ist vor allem auffällig, dass die Erzählinstanz viele Anglizismen verwendet. Um nur einige zu nennen: „l’alcool cheap“ (GF 39), „la head waitress“ (GF 106), „le waiter“ (DR 446), „le Red Light“ (DR 450), „des beans mangées“ (DR 508) und „le Hollywood haircut“ (OB 1061)[9]. Des Weiteren verwendet der Erzähler Quebecismen, wie z.B.: „patate“ (GF 71), „pinottes“ (DR 572) und „bibites“ (QL 959)[10]. Eine Erzählinstanz, die quasi so „spricht“ wie die Protagonisten unterstreicht noch einmal die Eigenständigkeit der Quebecker Literatur.
Auch wenn Tremblay die Protagonisten das joual in ihren Dialogen verwenden lässt, ist mir im Laufe der Lektüre eine Ausnahme aufgefallen. Während eines Konzertbesuches sagt Germaine Giroux Folgendes: „Pour moi, y nous ont pas envoyé le vrai Tino Rossi, y nous on envoyé un dummy ! Y’est raide comme une barre pis y a l’air d’un p’tit gars de six ans !“ (DR 592). Sie verzerrt „il“ zu „y“, „puis“ zu „pis“ und verkürzt „petit“ zu „p’tit“, sagt aber dennoch „moi“ statt „moé“ wie die anderen Figuren das tun. Laut Barrette ist Tino Rossi, dessen Konzert Germaine besucht hat, ein korsischer Sänger (Vgl. Barrette 350). Aufgrund seiner Herkunft dürfte Rossis Französisch eher dem europäischen Standardfranzösisch entsprechen. Da „moé“ aber typisch für das gesprochene Französisch Kanadas ist, könnte man vermuten, dass Germaine auf eben dieses „moé“ verzichtet, weil sie noch unter dem Eindruck des Konzertes und dementsprechend des Sängers steht, der „moi“ gesagt haben dürfte.
Im Rahmen der Sprachbetrachtung stellt neben Germaine auch Édouard einen Sonderfall dar, da er sowohl als Figur als auch als Erzähler fungiert. Sein Fall ist eindeutiger und umfangreicher. Édouard verwendet das joual nicht nur in seinem mündlichen Sprachgebrauch, wie man an den folgenden Beispielen sehen kann: „T’entends Albertine parler même quand est partie magasiner à l’autre bout d’la ville ! […] Al’a pas rien qu’été vaccinée avec une aiguille de gramophone, al’a aussi été engagée pour enregistrer " la voix de son maître ", mais le chien a eu peur !“ (GF 32) und „Quand y veulent s’amuser, les Montréalais, y a rien pour les empêcher !“ (DR 493). Er verwendet das joual auch in seinen Tagebuchaufzeichnungen, wie sie in Les nouvelles d’Édouard zu finden sind: „Ça avait l’air du beau yable“ (NE 640). Vermutlich hat Édouard nie längere zusammenhängende Texte geschrieben und ist es daher nicht gewohnt, zwischen Schriftsprachgebrauch und mündlichem Sprachgebrauch zu unterscheiden. Allerdings ist er sich seiner Schwierigkeiten bewusst, den Tagebuchtext im Standardfranzösisch zu verfassen:
C’est comme ça que j’ai appris à écrire mon français à peu près correctement. Mais ça fait vingt-cinq ans de ça et – vingt-cinq ans d’habitude de parler n’importe comment ont peut-être quelque peu terni mon incomparable style et, surtout, je me demande comment je vais retrouver ce français appris pour inventer au lieu de pour décrire… (NE 631)
[...]
[1] Mit Chroniques meine ich: Michel Tremblay, Les Chroniques du Plateau-Mont-Royal (Arles: Leméac/Actes Sud, 2000). Aufgrund der Länge des Titels verzichte ich darauf, ihn jedes Mal auszuschreiben.
[2] Zitate aus Michel Tremblay, La grosse femme d’à côté est enceinte (Arles: Leméac/Actes Sud, 2000) werden im Fließtext mit GF angegeben.
[3] Zitate aus Michel Tremblay, Thérèse et Pierrette à l’école des Saints-Anges (Arles: Leméac/Actes Sud, 2000) werden im Fließtext mit TP angegeben.
[4] Zitate aus Michel Tremblay, La Duchesse et le Roturier (Arles: Leméac/Actes Sud, 2000) werden im Fließtext mit DR angegeben.
[5] Hierbei handelt es sich um eine Internetquelle, daher ist eine Seitenangabe nicht möglich.
[6] Zitate aus Michel Tremblay, Des nouvelles d’Édouard (Arles: Leméac/Actes Sud, 2000) werden im Fließtext mit NE angegeben.
[7] Um Verwechslungen zu vermeiden, werden Zitate aus André Brochu, Rêver la lune – L’imaginaire de Michel Tremblay dans les Chroniques du Plateau Mont-Royal (Montréal: Hurtubise HMH, 2002 ) im Fließtext mit Brochu 2002 angegeben.
[8] Hierbei handelt es sich um eine Internetquelle, daher ist eine Seitenangabe nicht möglich.
[9] Zitate aus Michel Tremblay, Un objet de beauté (Arles: Leméac/Actes Sud, 2000) werden im Fließtext mit OB angegeben.
[10] Zitate aus Michel Tremblay, Le Premier Quartier de la une (Arles: Leméac/Actes Sud, 2000) werden im Fließtext mit QL angegeben.
- Arbeit zitieren
- Patricia Awe (Autor:in), 2008, Realismus, Phantasie und Phantastik in Michel Tremblays "Les Chroniques du Plateau-Mont-Royal", München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/215551