Innerhalb der Pädagogik und kognitiven Psychologie herrscht Konsens über die Wichtigkeit der Elaboration - der vertieften Informationsverarbeitung - von Lernmaterial in Bezug auf die Behaltensleistung (vgl. Anderson 2001: S.192ff.). Elaborationen können dabei selbst- oder fremdgeneriert sein. Eine bedeutende, aber in der Literatur häufig unzureichend behandelte Elaborationsstrategie stellt die Aktivierung des Vorwissens dar. In Alltagskonzepten wird dem Vorwissen in Bezug auf eine Lernleistung häufig keine besonders große Bedeutung beigemessen. Intelligenz stellt in diesen Konzeptionen eine weitaus einflussreichere zugeschriebene Eigenschaft dar. Ziel dieser Arbeit es, die Bedeutung des Vorwissens für den Unterricht zu explizieren. Ein besonderes Augenmerk wird hierbei auf den schulischen Teil einer beruflichen Ausbildung gelegt – am Beispiel der beruflichen Fachrichtung Gesundheit und Pflege.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretische Grundlagen zum Konzept des Vorwissens
2.1 Begriff und Dimensionen des Vorwissens
2.2 Einfluss des Vorwissens in den Phasen der Informationsverarbeitung
2.3 Expertise
3 Empirie zum Konzept des Vorwissen
3.1 Empirischer Forschungsstand
3.2 Eine Fußballgeschichte für Kinder
3.3 Kompetenzentwicklung bei Kfz-Mechanikern
4 Die Bedeutung des Konzeptes des Vorwissens für den Unterricht
4.1 Der Zusammenhang zwischen Vorwissen und Lernen im schulischen Kontext
4.2 Besonderheiten der Auszubildenden im Bildungsgang Altenpflege
4.3 Vorwissensaktivierung im Unterricht anhand eines Fallbeispiels zum Thema ‚Parkinson-Syndrom’
5 Fazit
6 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Innerhalb der Pädagogik und kognitiven Psychologie herrscht Konsens über die Wichtigkeit der Elaboration - der vertieften Informationsverarbeitung - von Lernmaterial in Bezug auf die Behaltensleistung (vgl. Anderson 2001: S.192ff.). Elaborationen können dabei selbst- oder fremdgeneriert sein. Eine bedeutende, aber in der Literatur häufig unzureichend behandelte Elaborationsstrategie stellt die Aktivierung des Vorwissens dar. In Alltagskonzepten wird dem Vorwissen in Bezug auf eine Lernleistung häufig keine besonders große Bedeutung beigemessen. Intelligenz stellt in diesen Konzeptionen eine weitaus einflussreichere zugeschriebene Eigenschaft dar. Ziel dieser Arbeit es, die Bedeutung des Vorwissens für den Unterricht zu explizieren. Ein besonderes Augenmerk wird hierbei auf den schulischen Teil einer beruflichen Ausbildung gelegt – am Beispiel der beruflichen Fachrichtung Gesundheit und Pflege.
Nachfolgend werden zunächst theoretische Grundlagen zum Konzept des Vorwissens beschrieben. Es schließt sich ein empirischer Teil an, der Aufschluss über die Bedeutung des Vorwissens geben soll. Aus den theoretischen und empirischen Erkenntnissen werden anschließend Schlussfolgerungen für die unterrichtliche Praxis gezogen. Ein Praxisbeispiel aus dem Bereich der Altenpflegeausbildung soll dies illustrieren. Die Arbeit schließt mit einem Fazit.
Bei der Literatursuche nutzte ich den WebOpac der SLUB Dresden sowie deren Datenbankinfosystem (DBIS) im Bereich Psychologie. Von gefundener Literatur aus, wurde teilweise das Schneeballverfahren angewendet. Durch Verweise in der Sekundärliteratur, stieß ich teilweise auf Primärliteraturquellen.
2 Theoretische Grundlagen zum Konzept des Vorwissens
2.1 Begriff und Dimensionen des Vorwissens
In der Literatur findet man keine einheitliche Definition des Konzepts Vorwissen. Krause und Stark stellen fest, dass der Begriff des Vorwissens eine Wissensveränderung beinhaltet, also Lernen stattfindet (vgl. Krause und Stark 2006: S.38). Nach Renkl sind Kenntnisse und Fähigkeiten einer Person in einer Domäne mit Vorwissen gemeint (vgl. Renkl 1996: S.175). In diesem Zusammenhang sieht er Domänenwissen als Wissensbestände im betroffenen Wissensgebiet an (vgl. ebd.: S.176). Das Domänenwissen, in englischsprachiger Literatur als domain-specific knowledge bezeichnet, ist dabei als Oberkategorie zu verstehen, in der ein Themenwissen als eine Art Stoffgebiet eingebettet ist (vgl. ebd.: S.176). Als Beispiele für derartige Domänen nennt er Physik, Fußball und Schach (vgl. ebd.: S.176). Gleichzeitig impliziert diese Definition, dass Vorwissen über rein kognitive Prozesse hinausgeht und auch der psychomotorische Bereich in das Konzept einfließt. Diesen Bereich, der auch praktische Tätigkeiten einschließt, mit dem Begriff des Wissens zu umschreiben, erscheint nicht auf den ersten Blick naheliegend.
In der englischsprachiger Literatur findet sich unter anderem der Begriff des „prior knowledge“, welcher von Jonassen und Grabowksi als „the knowledge, skills or ability that students bring to the learning process“ (Jonassen und Grabowski 1993: S.417) beschrieben wird. Schon allein der Begriff ‚knowledge’ kann nicht mit einem Wort – weder mit Wissen, noch Einsicht, noch Kenntnis – in die deutsche Sprache übernommen werden. Zudem bestehen auch in der englischsprachigen Literatur zahlreiche Begriffe, die synonym zu ‚prior knowledge’ gebraucht werden wie ‚archival memory’, ‚background knowledge’ und ‚personal knowlege’ (vgl. Dochy et al. 1999: S.146). Diese Begriffsunschärfe erschwert eine gemeinsame wissenschaftliche Basis. Allerdings ist der Hauptteil an Publikationen in englischer Sprache zu finden ist, sodass die mangelnde Übersetzungsfähigkeit ins Deutsche in den Hintergrund tritt.
Dochy gibt eine konkrete Definition und meint mit Vorwissen das gesamte Wissen einer Person an, welches
- vor einer Lernaufgabe zur Verfügung steht,
- in Schemata strukturiert ist,
- deklarativ und prozedural[1] repräsentiert ist,
- teilweise explizit und teilweise implizit vorhanden ist,
- von dynamischer Natur ist und als Wissensfundus[2] bereitsteht (vgl. Dochy 1994: S.4699).
Krause und Stark unterscheiden verschiedene Dimensionen des Vorwissens. Neben Umfang und Bewusstheit differenzieren sie zwischen:
- Inhalt: domänenspezifisch vs. domänenübergreifend sowie Oberflächenmerkmale vs. tiefere Struktur des Wissens;
- Repräsentation: Grad an Verknüpfung in assoziativen Netzwerken, semantischen Relationen, mentalen Modellen;
- Wissenschaftlichkeit: fundiertes Wissen vs. Alltagswissen sowie
- Handlungsrelevanz: Welche Operation erlaubt das Vorwissen (vgl. Krause und Stark 2006: S.39f.).
Im Folgenden sind mit Vorwissen zusätzlich zu denen von Krause und Stark festgehaltenen Dimensionen auch jegliche erworbenen Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten sowie Kompetenzen eines Lernenden inbegriffen und im Gegensatz zu den Autoren bereichs- bzw. domänenspezifisch gemeint. Im nächsten Abschnitt wird der Einfluss des Vorwissens in den Phasen der Informationsverarbeitung besprochen.
2.2 Einfluss des Vorwissens in den Phasen der Informationsverarbeitung
Das Vorwissen erfüllt in den verschiedenen Phasen der Informationsverarbeitung unterschiedliche Funktionen. Grundannahme verschiedener Modelle ist, dass Lernen auf einem Informationsfluss zwischen dem sensorischen Register, dem Arbeitsgedächtnis und dem Langzeitgedächtnis beruht (vgl. Hasselhorn und Gold 2006: S.50). Im Folgenden werden fünf Phasen nach Renkl kurz vorgestellt:
- Phase der Informationsselektion: Vorwissen bestimmt auf welchen Aspekt die eigene Aufmerksamkeit gerichtet wird, stets mit dem Ziel die Leerstellen im eigenen Vorstellungsgerüst aufzufüllen (vgl. Renkl 1996: S.178f.).
- Enkodierung der Information: Die einkommende Information wird mit den eigenen Wissensbeständen in Verbindung gebracht und es werden Chunks[3] gebildet, die die Informationsaufnahme ohne konstruktive Verstehensprozesse beschleunigen (vgl. ebd.: S.179).
- Verarbeitung der Information im Arbeitsgedächtnis: Durch die sinnvolle Verknüpfung wird ein Überlaufen des Arbeitsspeichers verhindert (vgl. ebd.: S.179).
- Speicherung der Information im Langzeitspeicher: Durch Chunk-Bildung können größere Einheiten abgelegt werden (vgl. ebd.: S.179).
- Abruf und Nutzung aus dem Langzeitgedächtnis: Durch assoziative Verbindungen bestehen mehrere Zugangswege zur Aktivierung der entsprechenden Information; nicht mehr erinnertes kann bei elaborativer Wissensbasis leichter konstruiert werden (vgl. ebd.: S.179).
Bezüglich des Wissenserwerbs müssen „einkommende Daten interpretiert, das heißt zu bedeutungshaltiger Information gemacht werden und dann müssen die neuen Informationen in die Vorwissensbasis integriert werden“ (Renkl 2008: S.135), so Renkl. Dies setzt voraus, dass der Lernstoff mit dem Vorwissen kompatibel ist (vgl. ebd.: S.135). Inkompatibilitäten werden in Kapitel 4 diskutiert. Hat ein Individuum ein überaus hohes Maß an Vorwissen im Sinne eines Domänenwissens, wird ihm Expertise bescheinigt. Darum soll es im nächsten Abschnitt gehen.
2.3 Expertise
„Expertise bedeutet in einem Spezialgebiet zielgerichtet handeln zu können, Probleme und anfallende Aufgaben lösen zu können und über spezielles Wissen in diesem Bereich zu verfügen“ (Pfeiffer 2000: S.105), so Pfeiffer. Dieses Wissen ist dabei nicht nur quantitativ größer, sondern weißt eine höhere Qualität auf (vgl. Hasselhorn und Gold 2006: S.82). Hasselhorn und Gold beschreiben folgende Merkmale der bereichs- bzw. domänenspezifischen Wissensqualität von Experten:
- sie sehen Merkmale und Bedeutungsmuster im konkreten Lernmaterial, welche von Nicht-Experten nicht bemerkt werden;
- das Wissen ist auf hohem Verstehensniveau sinnvoll organisiert;
- eine Vielzahl von Anwendungskontexten ist durch dieses Wissen möglich;
- verschiedene Aspekte des Wissens können ohne große Anstrengung flexibel abgerufen werden;
- sie verfügen über variable und flexible Anwendungsmuster im Umgang mit neuen Situationen;
- Expertise garantiert nicht, dass sie ihre besonderen Kenntnisse auch an andere Personen weitergeben können (vgl. ebd. 2006: S.83).
Gerade der letzte Punkt verdeutlicht, dass das Wissen, was Experten erlangen nicht unbedingt mitteilbar sein muss, sondern dass prozedurales Wissen bzw. Können im Vordergrund stehen (vgl. Weinert 1996: S.148). Gruber und Mandl schlussfolgern u.a., dass Experten in ihren Entscheidungen kontrollierter, flexibler, schneller, fehlerfreier, erinnerungsstärker und besser sind (vgl. Gruber und Mandl 1996: S.585).
Die Entstehung von Expertise wird in verschiedenen theoretischen Ansätzen unterschiedlich behandelt. Gruber sieht als Expertiseansätze: Begabung, Strategie, Wissen sowie tiefere Verarbeitung (vgl. Gruber 1994: S.12ff.). Ein Mensch bekommt nach Reimann und Krapp Expertise durch mehrjährige, wohldurchdachte Übung mit den Erfordernissen Ressourcen, Motivation und Anstrengung – und kaum durch Disposition (vgl. Reimann und Krapp 2008: S.159).
[...]
[1] Als deklaratives Wissen wird in der Psychologie Wissen über Sachverhalte verstanden, mit prozeduralem Wissen ist dagegen
Wissen über Handlungsabläufe gemeint.
[2] Die Verwendung des Terms ‚Knowledge Base’ (zu deutsch Wissensfundus, Wissensdatenbank) steht, zumindest in deutscher
Übersetzung, einerseits dem zuvor erwähnten implizite Wissen konträr gegenüber, andererseits werden Fehlkonzepte, die durchaus
häufig als Lerneingangsvoraussetzung vorliegen, ausgeschlossen.
[3] Unter ‚Chunking’ wird eine Organisation von Informationen mit dem Ziel der Zusammenfassung in sinnvolle Einheiten
verstanden (vgl. Renkl 2008: 115).