Der Essay behandelt Bertrand Russels Korrespondenztheorie der Wahrheit. Damit widmet er sich der Frage, was uns nach Russels Meinung dazu bewegt, Meinungen als "wahr" oder "falsch" zu bezeichnen. Insbesondere wird auf das Verhältnis zu unserer alltäglichen Auffassung von Wahrheit eingegangen.
1. Einleitung
Im Kapitel Wahrheit und Falschheit, dem 12. Kapitel der Probleme der Philosophie, widmet sich Bertrand Russell der Bedeutung des Begriffs „Wahrheit“ und entwickelt eine Wahrheitstheorie der Korrespondenz. Das heißt, dass Wahrheit nach Russell die „Übereinstimmung“ der Bedeutung einer Aussage oder Meinung „mit Tatsachen“ ist.1 Diese Definition von Wahrheit soll außerdem „drei Forderungen“ erfüllen, die Russell zufolge jede korrekte Wahrheitstheorie enthalten muss:2
1. Eine Wahrheitstheorie muss auch das Gegenteil von Wahrheit zulassen, weil es ein Gegenteil zur Erkenntnis von Wahrheit gibt und dieses Gegenteil ist die Falschheit.
2. Eine Wahrheitstheorie muss Meinungen berücksichtigen, denn nur Meinungen können überhaupt wahr oder falsch sein.
3. Es muss etwas außer Meinung, Wahrheit und Falschheit geben, denn die Wahrheit oder Falschheit einer Meinung hängt von etwas ab, das der Meinung selbst nicht innewohnt. Durch das Hören oder Lesen einer Meinung allein können wir noch keine Bewertung ihres Wahrheitsgehaltes abgeben.
Dies ist ein kurzer Überblick über Russells Theorie, deren Grundannahmen ich im Folgenden auf ihre Überzeugungskraft prüfe.
2. Auf welche Grundannahmen stützt sich Russell?
Die Grundannahmen in Russells Wahrheitstheorie sind im Einzelnen folgende:
1) Es gibt Wahrheit.
2) Es gibt Falschheit.
3) Es gibt Meinungen.
4) Es gibt Tatsachen.
5) Meinungen sind Träger von Wahrheit oder Falschheit.
6) Die Bedeutung einer Meinung ist keine Wahrheit oder Falschheit.
7) Eine Tatsache entspricht einer Meinung, wenn es eine „komplexe Einheit“ gibt, „in der die Objektglieder durch die Objektbeziehung in der gleichen Ordnung“ miteinander verbunden sind, wie die Ordnung in der Meinung ist.3
8) Wenn es Wahrheit gibt, dann besteht sie in einer Übereinstimmung der Bedeutung einer Meinung mit Tatsachen.
Bevor ich fortfahre, möchte ich Annahme 7) näher erläutern: Russell zerlegt Meinungen (also einen Satz wie: „Othello glaubt, dass Desdemona Cassio liebt.“) in Subjekt und Objekt.4 Das Subjekt ist derjenige, der die Meinung fasst, also Othello. Das Objekt ist das, was gemeint wird, also „dass Desdemona Cassio liebt“. Daraus lässt sich erkennen, dass es in diesem Beispiel nicht um die Meinung „Othello glaubt, dass Desdemona Cassio liebt“ geht, sondern um Othellos Meinung, „dass Desdemona Cassio liebt“.
Das Objekt wird von Russell noch weiter aufgeteilt: in „Objektglieder“ und „Objektbeziehungen“.5 Die Objektglieder sind „Desdemona“ und „Cassio“ und die Objektbeziehung ist „Lieben“, in der sich die beiden Objektglieder zueinander verhalten. Die Annahme 7) besagt nun, dass es die Ordnung {Desdemona, Lieben, Cassio} genauso geben muss wie die Ordnung {„Desdemona“, „Lieben“, „Cassio“} aus Othellos Meinung. Nicht geben darf es z.B. nur die Ordnung {Cassio, Lieben, Desdemona}, denn dann wäre die Meinung Othellos falsch, weil Cassio Desdemona liebt, Othello aber glaubt, dass Desdemona Cassio liebt.
3. Prüfung der Annahmen
Zu 1): Die Annahme, dass es Wahrheit gibt, muss im Grunde nicht gesetzt werden, um sie zu definieren. Eine Definition von Wahrheit könnte auch dem Schema folgen: „ Wenn es Wahrheit gäbe, dann müsste sie die und die Eigenschaften besitzen.“ Für die Annahme, dass es Wahrheit gibt, sprechen die Arbeit vieler Philosophen, die sich mit dem Begriff der Wahrheit auseinandergesetzt haben, und die alltägliche Verwendung des Begriffs. Sicherlich ist dieses Argument nicht stark, allerdings denke ich auch, dass es keine guten Gründe dafür gibt, an der Wahrheit zu zweifeln.
Zu 2): Die Annahme eines Gegenteils von Wahrheit, der Falschheit, erscheint mir auch plausibel. Wenn man kein Gegenteil der Wahrheit akzeptieren würde, dann wäre alles, was wahr sein kann, auch wahr. Wenn also Meinungen tatsächlich Träger und eventuell die einzigen Träger von Wahrheit sind, dann wäre jede Meinung wahr. Es erscheint uns aber nicht, als ob jede Meinung wahr wäre. Wenn ich der Meinung wäre, an dieser Stelle schon das Maximum von 10000 Wörtern erreicht zu haben, wäre das noch lange nicht der Fall. Durch Zählen kämen wir auf etwa 4000 Wörter und das erscheint uns als wahr. Damit ist meine zuvor geäußerte Meinung nachweislich falsch, solange nicht zwei verschiedene Summen von Wörtern gleichzeitig auf demselben Papier denselben Platz einnehmen können, wobei die 4000 Wörter mit den 10000 Wörtern vollkommen identisch sind. Dar über hinaus könnte man auf die Existenz von Wahrheit oder Meinung verzichten, wenn Wahrheit Meinung wäre.
[...]
1 Bertrand Russell: Wahrheit und Falschheit. In: Ders., Probleme der Philosophie, Frankfurt/Main 1967, S. 109.
2 Ebenda, S. 107.
3 Ebenda, S. 114.
4 Ebenda, S. 112.
5 Ebenda, S. 114.
- Arbeit zitieren
- Tobias Tegge (Autor:in), 2011, Die Forderungen der Russell'schen Wahrheitstheorie in "Probleme der Philosophie", München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/211988