Die Meiji-Zeit (1868-1912) stellt in der Geschichte Japans und der japanischen Sprache ein besonderes Kapitel dar, war sie doch geprägt von einem Streben nach nationaler Einheit und Identität, ausgelöst durch den Fall des Tokugawa-Shogunats, die Öffnung des Landes zum Westen und die darauffolgende plötzliche und intensive Konfrontation mit den westlichen Mächten, gegen die sich Japan über zweihundert Jahre lang fast gänzlich abgeschottet hatte.
Westliche Einflüsse hatten aber nicht nur Auswirkungen auf Gesellschaft und Wissenschaft, sondern haben die japanische Sprache zu dieser Zeit erheblich geprägt, weshalb die Veränderungen der japanischen Sprache während der Meiji-Zeit in dieser Arbeit insbesondere unter diesem Aspekt betrachtet werden. Wie jede andere natürliche Sprache ist auch die japanische zu jeder Zeit Einflüssen ausgesetzt, die Veränderungen etwa in Grammatik, Vokabular oder Aussprache verursachen, doch ist der Wandel der Meiji-Zeit insofern von besonderer Bedeutung, als er sehr bewusst erlebt wurde und äußerst rapide von statten ging.
Die vorliegende Bachelor-Arbeit befasst sich daher mit diesen Veränderungen und soll einen Überblick über die verschiedenen Bereiche, in denen Wandel stattfand, und seine Ursachen geben.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Sprachwandel und Sprachplanung
2.1 Begriffsbestimmungen
2.2 Sprachwandel und Sprachplanung
3. Einfluss des Westens auf die japanische Sprache der Meiji-Zeit
4. Die Genbun-Itchi-Bewegung
4.1 Die Ausgangssituation der Genbun-Itchi-Bewegung
4.2 Schwierigkeiten
4.3 Umsetzung von genbun itchi und Etablierung einer japanischen Standardsprache
4.4 Unterschiede zwischen klassischem Japanisch und genbun itchi
5. Veränderungen des Wortschatzes und der Grammatik
5.1 Erweiterung des Wortschatzes
5.1.1 Lehnübersetzungen (kango)
5.1.2 Lehnwörter (gairaigo)
5.2 Veränderungen der Grammatik
5.2.1 Passiv
5.2.2 Personalpronomen kare und kanojo
5.2.3 Konjunktionen
6. Übersetzung
6.1 Vorwort zur Übersetzung
6.2 Übersetzung des Textes Meiji no Hyôgen – Kakujoshi „ni“ o Chûshin ni
6.3 Nachwort zur Übersetzung
7. Fazit
8. Anhang
8.1 Materialverzeichnis zur Übersetzung
8.2 Literaturverzeichnis
8.3 Originaltext der Übersetzung
1. Einleitung
Die Meiji-Zeit (1868-1912) stellt in der Geschichte Japans und der japanischen Sprache ein besonderes Kapitel dar, war sie doch geprägt von einem Streben nach nationaler Einheit und Identität, ausgelöst durch den Fall des Tokugawa-Shogunats, die Öffnung des Landes zum Westen und die darauffolgende plötzliche und intensive Konfrontation mit den westlichen Mächten, gegen die sich Japan über zweihundert Jahre lang fast gänzlich abgeschottet hatte.
Westliche Einflüsse hatten aber nicht nur Auswirkungen auf Gesellschaft und Wissenschaft, sondern haben die japanische Sprache zu dieser Zeit erheblich geprägt, weshalb die Verände- rungen der japanischen Sprache während der Meiji-Zeit in dieser Arbeit insbesondere unter diesem Aspekt betrachtet werden. Wie jede andere natürliche Sprache ist auch die japanische zu jeder Zeit Einflüssen ausgesetzt, die Veränderungen etwa in Grammatik, Vokabular oder Aussprache verursachen, doch ist der Wandel der Meiji-Zeit insofern von besonderer Bedeu- tung, als er sehr bewusst erlebt wurde und äußerst rapide von statten ging.
Die vorliegende Bachelor-Arbeit befasst sich daher mit diesen Veränderungen und soll einen Überblick über die verschiedenen Bereiche, in denen Wandel stattfand, und seine Ursachen geben.
Auf die Einleitung folgt zunächst eine theoretische Einführung in die Thematik des Sprach- wandels und der Sprachplanung, bevor unter Punkt 3 genauer erläutert wird, inwiefern der Westen und westliche Sprachen (insbesondere Englisch) Einfluss auf Japan und auf die Ent- wicklung der japanischen Sprache ausgeübt haben.
Im Anschluss daran wird die sogenannte Genbun-Itchi-Bewegung beleuchtet. Die Genbun- Itchi-Bewegung war eine der wohl bedeutendsten aktiven Sprachplanungsbewegungen in der Geschichte der japanischen Sprache, die eng mit der Reformierung des japanischen Kommu- nikationssystems und dessen Standardisierung verknüpft ist, weshalb sie einen besonders wichtigen Aspekt dieser Arbeit darstellt. Ich stütze mich in diesem Zusammenhang haupt- sächlich auf die umfassende Forschungsarbeit Nanette Twines (jetzt Nanette Gottlieb) zum Thema genbun itchi.
Danach soll kurz darauf eingegangen werden, wie und welche Arten von Veränderungen in Lexik und Syntax der japanischen Sprache durch den Einfluss westlicher Sprachen zustande gekommen sind. Die Übersetzung des Textes „ Meiji no hyôgen – Kakujoshi ‚ni‘ wo Chûshin ni “ von Suzuki Hideo schließt sich zusammenfassend an diesen Bereich der Arbeit an. Hier soll noch einmal beispielhaft an der Partikel ni aufgezeigt werden, wie sich bestimmte Aspek- te der japanischen Grammatik unter dem Einfluss der englischen Sprache während der Meiji- Zeit gewandelt haben. Da Veränderungen in der japanischen Phonetik und Semantik im Rah- men der in dieser Arbeit behandelten Thematik keine bedeutende Rolle zukommt, wird auf sie nicht gesondert eingegangen.
Im Fazit sollen die wichtigsten Punkte und Ergebnisse schließlich noch einmal zusammenge- fasst werden.
Japanische Begriffe werden in dieser Arbeit ausschließlich nach dem Hepburn-System tran- skribiert, es sei denn, in wörtlichen Zitaten wurde eine andere Umschrift verwendet. Gleich wird mit japanischen Namen verfahren, die in der Reihenfolge Nachname, Vorname genannt werden.
2. Sprachwandel und Sprachplanung
Die Thematik des Sprachwandels ist bereits von vielen Linguisten unter verschiedenen As- pekten betrachtet worden und bietet reichlich Diskussionsmaterial, das den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Daher wird an dieser Stelle nur auf einige wichtige Punkte zu diesem Thema eingegangen. Zentrale Begriffe dieser Thematik sollen unter Punkt 2.1 zunächst kurz erläutert werden.
2.1 Begriffsbestimmungen
Der Begriff „Standardsprache“ wird von Bußmann definiert als die
[s]eit den 70er Jahren übliche deskriptive Bezeichnung für die historisch legi- timierte, überregionale, mündliche und schriftliche Sprachform der sozialen Mittel- bzw. Oberschicht; in diesem Sinne synonyme Verwendung mit der (wertenden) Bezeichnung ‚Hochsprache‘. Entsprechend ihrer Funktion als öf-
fentliches Verständigungsmittel unterliegt sie (besonders in den Bereichen Grammatik, Aussprache und Rechtschreibung) weitgehender Normierung, die über öffentliche Medien und Institutionen, vor allem aber durch das Bildungs- system kontrolliert und vermittelt werden. (BUSSMANN 1983: 502)
Standardsprache bezeichnet somit die allgemeine Standardvarietät einer Sprachgemeinschaft, die kodifiziert ist und überregional verstanden wird. Sie „überdacht“ (RIEHL 2004: 116) damit andere Varietäten als „Idealzustand einer Sprache“ (SCHMIDLIN 2011: 23). Varietäten sind die individuellen beispielsweise situations-, regions- oder funktionsabhängigen Realisierungen einer Sprache; dazu gehören zum Beispiel Soziolekte (Sprachen verschiedener gesellschaftli- cher Gruppen; z.B. Jugendsprache) und Dialekte (LÖFFLER 1985: 87-89). Dialekte (meist synonym mit dem deutschen Wort Mundart verwendet) sind sich von der idealen Standard- sprache regionsbedingt unterscheidende Varietäten. Anders als die Standardsprache sind Dialekte nicht normiert und werden üblicherweise nicht verschriftet (BUSSMANN 1983: 95).
Auch der im Zusammenhang mit der japanischen Sprache gebräuchliche Begriff hyôjungo (Standardsprache) entspricht weitgehend Bußmanns oben zitierter Definition. Anders als kyôtsûgo, der tatsächlich realisierten Gemeinsprache(n), bezeichnet hyôjungo ein idealisiertes Konzept, das es im Sprechakt anzustreben gilt, das in seiner Idealform aber kaum realisierbar ist (TWINE 1988: 435).
2.2 Sprachwandel und Sprachplanung
Natürliche Sprachen verändern sich ständig. Von diesen Veränderungen ist jeder Bereich ei- ner Sprache betroffen: Vokabular, Grammatik, Semantik, Aussprache und auch – sofern die Sprache eine Schrift besitzt – Schrift und Orthografie. Diese Veränderungen entstehen häufig von den Sprechern unbeabsichtigt, also wie „von selbst“. Die Gründe dafür sind so vielfältig wie die Veränderungen selber; interne Ursachen sind „im allgemeinen durch Ökonomie, d.h. Tendenzen der Vereinfachung des Sprachsystems motiviert“ (BUSSMANN 1983: 493). Verein- facht wird beispielsweise auf artikulatorisch-phonetischer Ebene durch Assimilation (etwa die Verschmelzung von Lauten wie im deutschen Wort „haben“, das meistens verkürzt als „ham“ artikuliert wird, wobei „ham“ (noch) nicht standardsprachlich ist). Zu externen Ursachen ge- hören beispielsweise der intensive Kontakt mit einer anderen Sprache – etwa an Grenzgebieten – oder Prestigegründe. Letztere sind unter anderem dafür verantwortlich, dass
die deutsche und die englische Sprache so reich an französischen Lehnwörtern sind: Im ame- rikanischen Englisch wurden zum Beispiel die existierenden englischen Wörter tap und fall durch die französischen Wörter faucet und autumn ersetzt, und Prestige ist auch einer der Hauptgründe, weshalb heutzutage so zahlreich englische Begriffe etwa ins Deutsche oder auch Japanische entlehnt werden (TRASK 1994: 15). Doch auch die Bildung neuer Begriffe durch Zusammensetzungen einzelner Wörter (z.B. Wörter-buch) oder auch Derivation mithil- fe von Affixen (z.B. Frei-heit) tragen stark zur Veränderung oder Erweiterung des Lexikons einer Sprache bei (TRASK 1994: 19-20).
Auch der Kontakt zweier oder mehrerer Sprachen oder Varietäten kann Einfluss auf Lexik oder die Struktur aller betroffenen Sprachen haben, insbesondere dort, wo der Kontakt inten- siv ist und über einen langen Zeitraum andauert. Ein interessantes Beispiel für gegenseitige Beeinflussung verschiedener Sprachen liefert Jean AITCHISON (2001: 138-139): In dem süd- indischen Dorf Kupwar treffen seit mehr als 600 Jahren drei Sprachen regelmäßig aufeinander: die dravidische Sprache Kannada und die indo-europäischen Sprachen Urdu und Marathi. Normalerweise ist der Wortschatz besonders anfällig für Entlehnungen und die Auf- nahme neuer Begriffe aus den Kontaktsprachen, in Kupwar jedoch bemühten sich die Sprecher zur Bewahrung ihrer ethnischen Identität die Sprachen getrennt zu halten. Tatsäch- lich sind Begriffsentlehnungen hier rar, die Syntax der drei Sprachen wiederum näherte sich im Laufe der Zeit derart an, dass sich die Syntax der in Kupwar gesprochenen Varietäten nun deutlich von der ihrer Standardvarietäten unterscheidet.
Rudi Keller erklärt solche natürlichen Veränderungen von Sprachen anhand der sogenannten
„unsichtbaren Hand“. Der Begriff „unsichtbare Hand“ (invisible hand) wurde geprägt von Adam Smith und von Keller auf die Linguistik bzw. Sprachwandel übertragen. Hinter seiner Theorie steht zunächst die Annahme, dass Sprache und Sprachwandel Phänomene der dritten Art sind, d.h. weder natürlich (Naturphänomene), noch von Menschen gemacht (Artefakte) sind. Phänomene der dritten Art sind das Resultat einzelner Handlungen vieler Menschen, die aus ähnlichen Intentionen handeln, aber nicht mit der Intention, das Resultat hervorzurufen. Keller verdeutlicht dies am Beispiel des Verkehrsstaus: Ein Stau entstehe, weil der erste Fah- rer aus irrelevanten Gründen abbremst, was den folgenden Fahrer ebenfalls zum Bremsen zwingt, was wiederum den darauffolgenden verlangsamt usw. bis es schließlich zum Still- stand kommt. Keiner der Fahrer beabsichtige einen Stau zu verursachen, doch durch die kollektiven gleichen Handlungen vieler Fahrer werde schließlich – wie durch eine unsichtbare Hand – ein Stau hervorgerufen (KELLER 1994: 89-92). Überträgt man diese Metapher auf
Sprachwandel, zum Beispiel auf den oben erwähnten Vorzug der französischen Begriffe faucet und autumn gegenüber den autochthonen englischen Wörtern, könnte dies bedeuten, dass sich diese Begriffe dadurch gegen tap und fall durchsetzten, dass sie zunächst von ein- zelnen und schließlich von vielen gebraucht wurden, möglicherweise um die eigene Sprache
„aufzupolieren“. Je mehr sie jedoch gebraucht wurden, desto mehr verlor sich auch das ihnen anhaftende Prestige, bis sie schließlich „wie von selbst“ zum allgemein anerkannten Standard wurden, obwohl dies natürlich nicht in der Absicht der Sprecher lag als sie begannen, die neu- en Wörter zu verwenden.
Nicht jede Sprachveränderung jedoch ist das Resultat natürlicher Entwicklungen. Aktive und gezielte Sprachplanung spielt insbesondere dort, wo es um Standardisierung oder Normierung von Sprachen geht, häufig eine wichtige Rolle. Das Bestreben nach Standardisierung wiede- rum steht in engem Zusammenhang mit Modernisierung und dem Wunsch nach
„Nationenbildung [mit einer Standardsprache] als Symbol nationaler Einheit“ (COULMAS 1985: 78). Wie Coulmas sieht auch TWINE (1988: 429) den Zusammenhang zwischen natio- naler Modernisierung und dem Besitzen einer Standardsprache, die eine wichtige Funktion
„both in expediting the flow of information necessary to social change and in providing a fo-
cus for national pride“ besitzt.
Im Rahmen der Sprachplanung wird häufig unterschieden zwischen Korpusplanung und Sta- tusplanung.
Bei der Korpusplanung geht es darum, Lexikon, Grammatik und Orthografie einer gegebenen Sprache zu standardisieren, zu erweitern oder in irgendeiner anderen Weise zu beeinflussen. Bei der Statusplanung geht es demgegenüber darum, den Status, den eine Sprache oder Varietät in einer Gesellschaft hat, zu verändern. (COULMAS 1985: 80)
Als ein Beispiel für Statusplanung und –veränderung nennt Coulmas die Einführung der deut- schen Sprache in Gottesdiensten (anstatt des Lateinischen), wodurch der Status des Deutschen in der damaligen Gesellschaft aufgewertet wurde.
Sprachplanung, die der Standardisierung dient, wird von HAUGEN (1987: 59) in vier Phasen zerlegt: An erster Stelle steht die Selektion einer Norm (selection), an zweiter ihre Kodifizie- rung (codification), gefolgt von ihrer Umsetzung (implementation) an dritter und ihrem Ausbau (elaboration) an vierter Stelle. Die Selektion ist dann besonders relevant, wenn eine Sprache zahlreiche Dialekte oder Varietäten aufweist oder ein Staat mehrsprachig ist. Die
Wahl einer Norm kann ein langwieriges Unterfangen sein und hat für gewöhnlich eine Status- verbesserung der gewählten Varietät zur Folge. Durch Kodifizierung werden – normalerweise in schriftlicher Form – die neue Norm und ihre Regeln festgehalten; dies geht oft einher mit einer „Säuberung“ des gewählten Standards. Das zu erwartende Resultat der Kodifizierung sind „a prescriptive orthography, grammar, and dictionary“ (HAUGEN 1987: 60). Die Umset- zung des neuen kodifizierten Standards erfolgt dann ebenfalls zunächst über den Weg der schriftlichen Kommunikation; dadurch, dass er beispielsweise in Zeitungen, Zeitschriften oder Literatur Anwendung findet. Die Verwendung in der Bildung spielt in diesem Zusammenhang auch eine entscheidende Rolle. Durch den anschließenden Ausbau soll die neu etablierte Standardsprache für jeden Anwendungsbereich nutzbar gemacht und weiter verbreitet werden
– dazu kann zum Beispiel der Ausbau eines der Wissenschaft angemessenen Vokabulars ge- hören (HAUGEN 1987: 59-61).
Da Sprachplanung zumeist eine tatsächliche Veränderung einer Sprache zur Folge hat, kann auch sie als ein ursächlicher (wenn auch nicht natürlicher) Faktor für Sprachwandel angese- hen werden.
3. Einfluss des Westens auf die japanische Sprache der Meiji-Zeit
Wie im vorigen Abschnitt erläutert sind Sprachen immer äußeren Einflüssen unterworfen, die dazu beitragen, dass sie sich im Laufe der Zeit verändern, doch die Sprachveränderungen der Meiji-Zeit waren kein rein natürlicher Prozess, sondern mitunter das Ergebnis jahrzehntelan- ger Debatten und bewusst vollzogener Reformen. Anstoß zu Bewegungen wie der Genbun- Itchi-Bewegung gab die plötzliche und intensive Konfrontation mit dem Westen gegen Ende der Tokugawa-Periode. Wäre Japan nicht zum Westen geöffnet worden und in seiner Isolation und feudalen Klassenstruktur verblieben, hätten wohl auch die traditionellen Schriftstile wei- terhin die Oberhand behalten und auch Bildung wäre ein Privileg der Oberschicht geblieben (TWINE 1978: 355, 1991: 257). Der Einfluss des Westens hat die Sprachreformen aber nicht bloß initiiert, sondern in jedem Stadium bis zum Schluss – genau genommen sogar bis heute – stets begleitet. Erstaunlich ist dabei, dass dieser Einfluss Japan nicht von außen aufgezwun- gen, sondern von innen heraus angestrebt wurde. Bis ins frühe 18. Jahrhundert hinein gab es ein offizielles Verbot fremdsprachlicher Texte. Erst nach der Aufhebung dieses Verbots durch Shôgun Yoshimune fanden auch westliche (insbesondere niederländische) Bücher langsam
ihren Weg nach Japan, die ins Japanische übersetzt werden mussten. Diese ersten Überset- zungen und die ersten mühseligen Zusammenstellungen zweisprachiger Wörterbücher bildeten den Grundstein für die Übersetzungsflut der Meiji-Zeit (HAAG 2011: 25). Die lange Abschottung des Landes bedeutete aber auch ein grobes Wissensdefizit auf Seiten der Japaner über die fremden westlichen Kulturen, denen sie sich plötzlich gegenübergestellt sahen. Die- ses Fehlen grundlegender Informationen über die Westler führte schließlich zu dem
„gewaltigen Übersetzungsprojekt der Meiji-Zeit“ (HAAG 2011: 22, Übers. d. Verf.), das der raschen Ansammlung dieser Informationen dienen sollte.
Übersetzungen aus westlichen Sprachen spielten also vor und während der Meiji-Zeit eine wichtige Rolle bei der geistigen und intellektuellen Entwicklung Japans hin zu einem moder- nen Staat, doch gleichzeitig übten sie immensen Einfluss auf die Entwicklung der japanischen Sprache aus. Als man mit der Öffnung des Landes erkannte, „that other European languages, particularly English, might be more important than Dutch“ (MIURA 1979: 5), wurden Fremd- sprachenschulen eingerichtet. Englisch wurde mithilfe von Büchern und Materialien gelehrt, die Wort für Wort aus dem Englischen ins Japanische übersetzt worden waren. Als Beispiele für solche Lehrmaterialien nennt Miura „Ei-Bei Taiwa Shôkei“ (Nakahama Manjirô), das auf wörtlichen Übersetzungen beruhte, und die wörtliche Übersetzung von „The First Reader of the School and Family Series“ (Marcius Wilson). Während der ersten 20 bis 30 Jahre der Meiji-Zeit wurden solche im Übersetzungsstil geschriebenen Materialien – ab der 1880er Jah- re auch Biographien und Geschichtsbücher – an Schulen verwendet, was einen enormen Einfluss auf das Sprachverständnis der damaligen Schüler gehabt haben muss (MIURA 1979: 6-7).
Die Konfrontation mit dem Westen und diese Übersetzungen hatten auch Auswirkungen auf die sogenannte Genbun-Itchi-Bewegung, denn man erkannte einerseits, dass in westlichen Sprachen gesprochene und geschriebene Sprache einander sehr viel näher waren, als es im Japanischen der Fall war, und andererseits, dass die japanische Schriftsprache zu veraltet war, um das neue westliche Gedankengut zu vermitteln. Auf diese Zusammenhänge wird unter Punkt 4 noch ausführlicher eingegangen.
Interessant ist auch, dass wörtliche Übersetzungen, obwohl sie häufig unnatürlich klangen und unübliche Grammatik verwendeten, nicht, wie man erwarten würde, negativ aufgenommen wurden. Im Gegenteil stand man ihnen sehr positiv gegenüber, was mit der allgemeinen da- maligen Wertschätzung allen Westlichens zusammenhängen dürfte (FURUNO 2005: 147).
Die Sprachveränderungen der Meiji-Zeit waren also deutlich von westlichen Einflüssen mit- bestimmt, weshalb sie im Folgenden insbesondere unter diesem Aspekt betrachtet werden sollen.
4. Die Genbun-Itchi-Bewegung
4.1 Die Ausgangssituation der Genbun-Itchi-Bewegung
Die sprachliche Situation Japans vor der Meiji-Zeit und damit vor der Öffnung des Landes zum Westen war geprägt nicht nur von großen regionalen wie sozialen Unterschieden in der gesprochenen japanischen Sprache, sondern auch von einem komplizierten System verschie- dener schriftsprachlicher Stile, die größtenteils auf der chinesischen Schrift beruhten und die sich seit dem Mittelalter kaum verändert hatten (TWINE 1978: 334). Damit waren gesprochene und geschriebene Sprache strikt voneinander getrennt.
Die erzwungene Öffnung des isolierten Japans und der Beginn der Meiji-Zeit 1868 brachten eine Flut westlicher Literatur und Gedanken ins Land, die dazu führten, dass der bisherige uneinheitliche Zustand in Frage gestellt wurde und sich die Idee verbreitete, „vom Westen im Interesse der eigenen Nation lernen zu müssen“ (COULMAS 1988: 8). Bei der Übersetzung fremdsprachlicher Werke jedoch stellte man fest, dass die japanische Sprache – und insbeson- dere die japanische Schriftsprache – nicht dafür geeignet war, dieses neue westliche Gedankengut wiederzugeben und zu transportieren. Das lag einerseits am japanischen Wort- schatz (dies wird unter Punkt 5 noch ausführlicher behandelt), andererseits war das Problem aber auch ein stilistisches, denn der klassische, sino-japanische Stil war kompliziert und schwer zu erlernen. Dennoch war es dieser Stil, „den man von einem respektablen Buch er- wartet[e]“, wie Fukuzawa Yukichi, der eine bedeutende Rolle in der Genbun-Itchi-Bewegung spielte, 1874 erkannte (COULMAS 1988: 12). Wer also zwar in einer westlichen Sprache aber nicht im klassischen Japanisch oder umgekehrt ausgebildet war, konnte keine „respektable“ Übersetzung anfertigen – die wiederum auch nur von denjenigen gelesen werden konnte, die die Zeit und Muße hatten, sich mit den japanischen Schriftstilen auseinanderzusetzen. Vom einfachen Volk konnte man dies nicht erwarten, sodass sich der wirklich lese- und schreib- kundige Kreis auf „members of the ruling class“ (TWINE 1978: 334), also den damaligen Kriegeradel, beschränkte, was im krassen Gegensatz zum neuen Modernisierungsgedanken
von bunmei kaika (Zivilisation und Aufklärung) stand. Die neue Gesetzgebung sollte die Klassenstruktur auflösen und jedem Japaner die gleichen Freiheiten einräumen, etwa was die Wahl des Berufes betraf, und jeder sollte die Möglichkeit haben, durch eigene Anstrengung vorwärts zu kommen (risshin shusse) (TWINE 1991: 15).
Um mit den westlichen Nationen mithalten zu können, sah man es als Notwendigkeit an, de- ren wissenschaftliche und technologische Fortschritte auch dem japanischen Volk zugänglich zu machen, was aber durch das erwähnte Fehlen von Einheitlichkeit innerhalb der japanischen Sprache bedeutend verzögert, wenn nicht sogar verhindert wurde, sodass das Bedürfnis nach einer Vereinfachung des komplizierten Schriftsystems aufkam. Dieses Schriftsystem setzte sich aus einer Reihe verschiedener traditioneller Stile zusammen; die vier Nanette Twine zu- folge vorherrschenden waren kanbun ( Sino-Japanisch ), sôrôbun (Brief- (epistolary) Stil), wabun (klassisches Japanisch) und wakankonkôbun (sino-japanischer Mischstil) Es gab, wie Twine betont, keinen Schriftstil, den man universell hätte anwenden können und der einfach genug gewesen wäre, um von jedermann verstanden zu werden (TWINE 1991: 17, 34). Dieser Zustand wurde von Aufklärern der Meiji-Zeit stark kritisiert, denn nur ein einfacher Schrift- stil, der von der breiten Masse erlernt und verstanden werden konnte, würde die Verbreitung von Bildung und der neuen Ideen möglich machen. Die Umgangssprache wurde zwar bereits etwa ab Beginn des 19. Jahrhunderts in Grammatikbüchern und in der frühen Meiji-Zeit in Übersetzungen englischsprachiger naturwissenschaftlicher Literatur bewusst angewendet, damit sie auch von Frauen und Kindern verstanden werden konnten. Problematisch war je- doch, dass diese frühen Übersetzungen häufig Wort für Wort dem Originaltext folgten, was aufgrund der strukturellen Unterschiede der westlichen Sprachen und des Japanischen dazu führte, dass sie stellenweise schwierig nachzuvollziehen waren. Dennoch verdeutlichten sie die Vorteile, die ein umgangssprachlicher Stil gegenüber dem klassischen Stil insbesondere im Bereich der Bildung hatte (TWINE 1991: 79). 1886 schrieb Mozume Takami in seinem Buch „Genbun Itchi“, das nicht im klassischen Stil, sondern in der Umgangssprache verfasst war:
In general, it would be good to speak in the way that people can easily under- stand. When you write what you want to say, you should also write it in an intelligible way. Even if we try to write in the way we speak, however, the written language would not be exactly the same as the spoken and so needs ex- tra attention. I would suggest that we write in the way we speak, that is, making the written language as plain and easy as possible. (Mozume Takami, zit. nach LEE 1996: 42)
Japan benötigte daher eine neue, modernisierte und standardisierte Schriftsprache, die auf der gesprochenen Umgangssprache beruhen sollte. Japanische Intellektuelle wie Fukuzawa, die den Westen und westliche Sprachen studiert hatten, stellten fest, dass in europäischen Spra- chen gesprochene und geschriebene Sprache zwar nicht vollkommen gleich, aber einander sehr ähnlich waren (TWINE 1978: 339). Wie Mozume erkannten sie den hohen praktischen Nutzen für die Bildung, den ein umgangssprachlicher Schriftstil hatte, und die rasche Verbrei- tung moderner Bildung war eine der Grundvoraussetzungen für das Entstehen des neuen modernen japanischen Staates (TWINE 1991: 80).
Unter diesen Voraussetzungen entstand eine hauptsächlich von Intellektuellen und Aufklärern angeführte Bewegung, die es sich zum Ziel machte, die japanische Schriftsprache an die Um- gangssprache anzunähern und damit zu vereinfachen, um Bildung und Literatur allen Japanern zugänglich zu machen. Diese Bewegung stand unter dem Slogan genbun itchi – die Vereinigung des Gesprochenen (gen) und Geschriebenen (bun).
4.2 Schwierigkeiten
Die folgenden Haupteigenschaften sollte der neue Genbun-Itchi-Stil in sich vereinen: Er musste standardisiert sein, basierend auf einer Form von gesprochenem Japanisch, um die uneingeschränkte Verbreitung von Information möglich zu machen. Gleichzeitig musste er einfach und demokratisch sein, um auch für die weniger Gebildeten von Nutzen sein zu kön- nen. Er brauchte Vielseitigkeit und Flexibilität, damit man ihn in jedem Bereich verwenden und gegebenenfalls an neue Konzepte anpassen können würde, und zuletzt sollte er auch kul- tiviert sein, um weiterhin den Ansprüchen an „respektable“ Literatur zu genügen (TWINE 1991: 28).
Diese Theorie von genbun itchi in die Praxis umzusetzen war jedoch aus mehrerlei Gründen nicht einfach. Einerseits fehlte es einigen unter den Gebildeten, die eine klassische konfuzia- nische Ausbildung genossen hatten, an Verständnis für das Ersetzen der klassischen japanischen Schriftsprache durch einen umgangssprachlichen Stil. Das lag weniger daran, dass sie den Nutzen eines solchen Stils nicht erkannt hätten, sondern vielmehr an ihrer Ein- stellung zum Schreiben selbst. Twine zufolge hätten sie Schrift weniger als Mittel zur Kommunikation angesehen als als eine Art Aushängeschild für den eigenen Intellekt und die Überlegenheit der Elite. Da diese elitäre Ausbildung den oberen Schichten vorbehalten war,
fungierte Schrift als klarer Trennstrich zwischen den Klassen und in den Augen der Gebilde- ten käme das Einbüßen dieses Privilegs einem Verlust von Macht gleich. Dazu kam, dass sie die Umgangssprache als „vulgar and verbose“ betrachteten, im Gegensatz zum knappen sino- japanischen Stil, der zwar unverständlich war, aber als „elegant and changeless“ (TOMASI 2004: 3) galt und etabliert war (TWINE 1991: 19-20).
Ein weiteres Problem war, dass sich die gesprochene japanische Sprache nach „250 years of the Tokugawa policy of regional isolation” (TWINE 1991: 16) aus einem facettenreichen Netzwerk aus Dialekten und Soziolekten zusammensetzte, und es keine einheitliche gespro- chene Sprache gab, die man zur Basis des neuen umgangssprachlichen Schriftstils hätte erklären können. Mit der Entstehung des umgangssprachlichen Stils ging somit auch die Fra- ge nach einer japanischen Standardsprache (hyôjungo), die im ganzen Land gesprochen und verstanden werden konnte, einher. An dieser Stelle ist es sinnvoll anzumerken, dass obwohl die Basis des neuen schriftsprachlichen Stils eine standardisierte gesprochene Sprache darstel- len sollte, die es ja faktisch noch nicht gab, die Entwicklung der Standardsprache und des neuen Stils natürlich keinem linearen Ablauf folgte; das heißt, es wurde nicht zuerst eine ein- heitliche Standardsprache etabliert, bevor begonnen wurde, in der Umgangssprache zu schreiben, sondern beide Entwicklungen verliefen mehr oder weniger synchron und begüns- tigten einander. Der Weg hin zu einer einfacheren, standardisierten Schriftsprache ist damit gleichzeitig auch der Weg zur Entwicklung der japanischen Standardsprache (TWINE 1988: 434, 439).
4.3 Umsetzung von genbun itchi und Etablierung einer japanischen Standard- sprache
Die Reform- und Planungsbemühungen der Aufklärer hatten zur Folge, dass sich der Genbun- Itchi-Stil bis 1908 in allen Romanen, bis 1923 in allen Zeitungen und ab 1946 mit der neuen Verfassung auch in allen Regierungsschriften durchgesetzt hatte (SADLER 2007: 154). Auf- grund der oben beschriebenen Schwierigkeiten war es jedoch bis dahin kein leichter Weg.
TWINE (1978: 339) unterteilt den Verlauf der Genbun-Itchi-Bewegung in zwei Phasen: Die erste Phase erstreckte sich über etwa 20 Jahre von der späten Tokugawa-Zeit bis 1887, wäh- rend die zweite Phase von Mitte der 1880er Jahre bis 1910 andauerte.
In the first, the main emphasis was placed on the utilitarian value of the collo- quial style; later, the movement developed further through literature. (TWINE 1978: 339)
Die erste Phase war somit fokussiert auf den oben angesprochenen höheren praktischen Nut- zen, den der umgangssprachliche Schreibstil für die Zwecke der Modernisierung des japanischen Staates haben sollte. Damalige Intellektuelle bzw. yôgakusha – japanische Ge- lehrte, die sich intensiv mit den Wissenschaften des Westens auseinander gesetzt hatten – spielten während dieser Zeit eine bedeutende Rolle in der aufkeimenden Genbun-Itchi- Bewegung. Begünstigt wurde die Entwicklung aber auch durch die neugewonnene (soziale wie geographische) Mobilität, die nationalen und klassenüberschreitenden Austausch ermög- lichte, die Einrichtung eines nationalen Bildungssystems und der allgemeinen Schulpflicht 1872 und insbesondere die Entstehung eines völlig neuen Kommunikationsnetzwerkes durch die Presse und die Einführung des neuen Postsystems 1871 durch Maejima Hisoka (TWINE 1988: 433-434).
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