Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Motiv der Stadt, insbesondere der Großstadt, in der Lyrik des Realismus. Zum Vergleich wird die expressionistische Lyrik herangezogen, in der das Motiv der Großstadt ein sehr bedeutendes, oft thematisiertes Subjekt darstellt. Auch wenn diese Thematik in der Lyrik des Realismus noch nicht in diesem Maße vertreten ist, gibt es durchaus einige Vertreter, wie etwa von Liliencron, die quasi als Vorreiter dieser Gedichtsparte fungieren. Anhand textnaher Analysen wird daher im Folgenden exemplarisch herausgearbeitet, inwiefern die jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu den unterschiedlichen Entstehungszeiten der Werke im Inhalt sowie der Darstellungsweise der Lyrik wiederzufinden sind, und wie die beiden literaturgeschichtlich eigentlich so unterschiedlichen Epochen mit dem historisch neuen Phänomen der rasanten Urbanisierung umgehen.
Hierfür werden zwei sehr verschiedene Gedichte des Realismus herangezogen. Zum einen wird Theodor Storms Werk „Die Stadt“ als Stadtgedicht des frühen Realismus untersucht. Zum anderen dient das spätere Gedicht „In einer großen Stadt“ von Detlev von Liliencron als Kontrast und eindrucksvolles Beispiel für die Veränderung der Darstellung der Stadt im späten Realismus. Im Anschluss erfolgt ein Vergleich mit dem Gedicht „umbra vitae“ des expressionistischen Lyrikers Georg Heym, welchem ein völlig anderes Bild der Stadt zugrunde liegt.
Vor dieser praktisch-analytischen Überprüfung wird zunächst ein Überblick über die relevanten gesellschaftlich-sozialen Veränderungen in der Epoche des Realismus gegeben, ab circa Mitte des 19. Jahrhunderts bis hin zur expressionistischen Ära, wobei insbesondere auf den Aspekt der Verstädterung eingegangen werden soll.
Inhalt
1. Ziel und Methodik der Arbeit
2. Städtewachstum und Gesellschaftliche Veränderungen in der Epoche des Realismus bis hin zum Expressionismus
3. Praktische Überprüfung der Darstellung des Stadtmotivs anhand von Gedichtvergleichen
3.1. Stadtlyrik im Realismus
3.1.1. Frühe Stadtlyrik am Beispiel von Theodor Storms Gedicht „Die Stadt“
3.1.2. Vom Realismus auf dem Weg zu den Anfängen der Moderne: Das Stadtmotiv in Detlev von Liliencrons Gedicht „In einer großen Stadt“
3.2. Das Motiv der Großstadt im Expressionismus am Beispiel von Georg Heyms „Umbra vitae“
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
1. Ziel und Methodik der Arbeit
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Motiv der Stadt, insbesondere der Großstadt, in der Lyrik des Realismus. Zum Vergleich wird die expressionistische Lyrik herangezogen, in der das Motiv der Großstadt ein sehr bedeutendes, oft thematisiertes Subjekt darstellt. Auch wenn diese Thematik in der Lyrik des Realismus noch nicht in diesem Maße vertreten ist, gibt es durchaus einige Vertreter, wie etwa von Liliencron, die quasi als Vorreiter dieser Gedichtsparte fungieren. Anhand textnaher Analysen wird daher im Folgenden exemplarisch herausgearbeitet, inwiefern die jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu den unterschiedlichen Entstehungszeiten der Werke im Inhalt sowie der Darstellungsweise der Lyrik wiederzufinden sind, und wie die beiden literaturgeschichtlich eigentlich so unterschiedlichen Epochen mit dem historisch neuen Phänomen der rasanten Urbanisierung umgehen.
Hierfür werden zwei sehr verschiedene Gedichte des Realismus herangezogen. Zum einen wird Theodor Storms Werk „Die Stadt“ als Stadtgedicht des frühen Realismus untersucht. Zum anderen dient das spätere Gedicht „In einer großen Stadt“ von Detlev von Liliencron als Kontrast und eindrucksvolles Beispiel für die Veränderung der Darstellung der Stadt im späten Realismus. Im Anschluss erfolgt ein Vergleich mit dem Gedicht „umbra vitae“ des expressionistischen Lyrikers Georg Heym, welchem ein völlig anderes Bild der Stadt zugrunde liegt.
Vor dieser praktisch-analytischen Überprüfung wird zunächst ein Überblick über die relevanten gesellschaftlich-sozialen Veränderungen in der Epoche des Realismus gegeben, ab circa Mitte des 19. Jahrhunderts bis hin zur expressionistischen Ära, wobei insbesondere auf den Aspekt der Verstädterung eingegangen werden soll.
2. Städtewachstum und Gesellschaftliche Veränderungen in der Epoche des Realismus bis hin zum Expressionismus
Die Epoche des Realismus, deren Beginn aufgrund des politischen Einschnitts durch die Märzrevolution ab 1848/49 bis etwa 1890 angesetzt wird[1], zeichnet sich vor allem durch typische Themen und Motive aus dem Bereich der Natur oder Poetologischem aus. Die Stadtlyrik ist somit noch ein eher randständiges Thema.
Die Literatur und auch die Lyrik des Realismus werden jedoch durchaus von der sich verändernden Gesellschaft geprägt. So sieht Martin Nies neben denkgeschichtlichen, wissenschaftstheoretischen Faktoren sowie literaturinternen, geistesgeschichtlichen Faktoren insbesondere auch literaturexterne, soziokulturelle Faktoren als entscheidend für die Entstehung des Literatursystems Realismus an.[2] Schließlich ist das 19. Jahrhundert von „tief greifende[n], gesellschaftlichen Veränderungen“ geprägt, welche „neue soziale Wirklichkeiten schufen“[3]. Der rasante Marsch Richtung Moderne umfasste nicht nur technische Innovationen, wie die nach und nach in allen Städten eingerichtete Gasbeleuchtung oder die Dampfmaschine, sondern hatte auch massive Auswirkungen auf die Lebensrealität der Menschen in dieser Umbruchsgesellschaft. Aufgrund der Bevölkerungsexplosion durch Verringerung der Mortalität bei zunehmenden Geburtenraten sowie der langsam, nach den Vorreitern England und Frankreich, auch in Deutschland einsetzenden Industrialisierung kam es zu dem sich stetig fortsetzenden Prozess der Urbanisierung.[4] Es entstanden neue industrielle Zentren, wie etwa das Ruhrgebiet, und die Gesellschaft begann sich von einer Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft zu wandeln, was tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben des Einzelnen mit sich brachte.[5] Während im Gebiet Preußens 1819 noch 3 Millionen Menschen in Städten lebten, waren es 1867 mit 6,3 Millionen schon mehr als doppelt so viele.[6] Bis zur Jahrhundertwende wurde eine erneute Verdoppelung mit 12,5 Millionen Einwohnern erreicht.[7] Neben den industriellen Zentren erfuhren vor allem die Hauptstädte einen massiven Zuwachs. So wuchs das im Jahr 1850 weniger als eine halbe Million Einwohner zählende Berlin auf über zwei Millionen Einwohner um 1910.[8]
Der Wandel des 19. Jahrhunderts lässt sich jedoch nicht nur auf quantitative, bevölkerungsstatistische Daten beschränken, „sondern umfaßte eine Fülle äußerst komplexer Sachverhalte und Probleme“[9]. Schließlich verlief etwa das Wachstum der Städte nicht planmäßig und organisiert, sondern vielmehr in Schüben, wodurch der benötigte Wohnraum und die dazugehörige Infrastruktur oft mangelhaft waren.[10] Dadurch, dass zunehmend mehr Menschen in die wachsenden Städte zogen, um Arbeit in den Industriebetrieben zu finden, kam es außerdem allmählich zur Auflösung der bäuerlichen Großfamilie und damit einhergehend auch der dörflichen sozialen Sicherungsnetzte, welche später durch staatliche oder betriebliche, wie etwa Versicherungen, ersetzt werden mussten. „Unüberschaubarkeit und Komplexität kennzeichnen […] die Lebens- und Arbeitsvorgänge in der Großstadt.“[11] Dies kann sowohl positiv als „Ermöglichungszusammenhang für Erlebnisreichtum, Pluralismus, Simultanität und Dynamik“[12] gesehen werden; das neue Phänomen der Großstadt steht jedoch auch für
Vermassung, Anonymisierung, Isolation und Vereinsamung; sie ist Zenit gesellschaftlichen, technologischen und industriellen Fortschritts und gleichzeitig Brennpunkt sozialpolitischer, industrieller und ökologischer Fehlentwicklungen; sie bietet Luxus für die Privilegierten, und sie bedeutet Elend für die sozial Deklassierten.[13]
Diese Eindrücke wurden in der Lyrik, vom Naturalismus über Impressionismus, Jugendstil, Expressionismus, Neue Sachlichkeit, Exilliteratur während des ‚Dritten Reiches‘, Nachkriegsliteratur bis hin zur unmittelbaren Gegenwartsliteratur immer wieder behandelt.[14]
Im Expressionismus, welcher etwa von 1910 bis 1925 angesetzt wird, findet ein Wechsel des traditionellen Motivreservoirs statt und das Thema der Großstadt wird zum „zentralen Motiv der modernen Zeit“[15]. „Was Natur und Landschaft für die Lyrik der Goethezeit, der Romantik und der nachromantischen Dichtung bedeuteten, wird nun durch die Motive der Großstadt überlagert, um nicht zu sagen ersetzt.“[16] Die Umwelt, und damit auch die Stadt, wurde meist als bedrohlich, fremdartig und chaotisch empfunden. Vermassung, Verlust des Einzelnen und Anonymität sind Themen, welche diese Lyrik insbesondere prägen. „Die Bedingungen des Lebens in der Metropole werden als Entfremdung von der Natur und von den Mitmenschen erlebt, und letztlich als letzte Konsequenz auch als Entfremdung vom eigenen Ich“[17].
Nicht nur inhaltlich bezüglich der gängigen Motive, sondern auch in der Sprache und Rhetorik finden sich Differenzierungen. Während der Expressionismus, welcher von dem Lyriker Theodor Däubler als „Schnelligkeit, Simultanität, höchste Anspannung um die Ineinandergehörigkeiten des Geschauten“ und als Ausdruck der Idee selbst beschrieben wird[18], äußerst expressive Ausdrucksformen findet, bemüht sich der Realismus um eine objektive Darstellungsweise, die sich auch in der städtischen Lyrik des Realismus wiederfinden lässt. So beschreibt Almut Todoroff:
„Aber während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Vorgang der Umformung und Umdeutung des Wirklichkeitsverhältnisses der lyrischen Gattung als Verschiebung und Auseinandersetzung, Disparation und Integration verschiedener Traditionen und zeitgenössischer Neuansätze in der breiten poetologischen Literatur sichtbar ist, wird die Lyriktheorie in den 50er Jahren, im Zeitabschnitt des Realismus, übereinstimmend festgeschrieben auf eine im Subjekt vollzogene Absorption des Objektiven so „daß alle Objektive als dessen inneres Leben erscheint“[19]
Diese poetisierte Objektivität lässt sich zumeist auch in der Stadtlyrik wiederfinden, wie am folgenden Beispiel ersichtlich wird.
[...]
[1] vgl. Stockinger, Claudia: Das 19. Jahrhundert. Zeitalter des Realismus (Akademie Studienbücher Literaturwissenschaft). Berlin 2010, S. 16-18.
[2] Nies, Martin: Soziokulturelle und denkgeschichtliche Kontexte und literarische Konstituierung des Literatursystems ‚Realismus‘, in: Wünsch, Marianne (Hrsg.): Realismus (1850-1890). Zugänge zu einer literarischen Epoche. Kiel 2007, S.42.
[3] Nies 2007, S.43.
[4] ebd.
[5] ebd.
[6] Treue 1994, zitiert nach: Nies 2007, S.43.
[7] ebd.
[8] vgl. Hotz, Karl (Hrsg.): Im Meer der Stadt. Grossstadt-Gedichte (Buchners Schulbibliothek der Moderne 35). Bamberg 2010, S.139.
[9] Riha, Karl: Deutsche Großstadtlyrik (Artemis Einführungen 8). München, Zürich 1983, S.14.
[10] vgl. Riha 1983, S.14f.
[11] ebd., S.14
[12] Wende, Waltraud (Hrsg.): Großstadtlyrik. Stuttgart 1999, S.6.
[13] ebd., S.6f.
[14] vgl. ebd. S.15.
[15] Giese, Peter Christian: Lyrik des Expressionismus. Stuttgart, Düsseldorf, Leipzig 1999, S.49.
[16] ebd.
[17] vgl. Hotz 2010, S.141f.
[18] Best, Otto F.; Schmitt, Hans-Jürgen: Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Expressionismus und Dadaismus (Deutsche Literatur 14). Stuttgart 2000, S.24.
[19] Todorow, Almut: Lyrik und Realismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Müller, Klaus-Detlev: Bürgerlicher Realismus. Grundlagen und Interpretationen, Königstein i. Ts. 1981, S.235.