Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Notwendigkeit eines politischen Mandats für die Soziale Arbeit. Es wird dabei den Fragen nachgegangen, welche Perspektiven die Profession Soziale Arbeit im Kapitalismus angesichts der Zustände der Gesellschaft und ihrer eigenen Verortung hat, wie sie nachhaltig und qualitativ in Ausbildung und Praxis agieren kann und warum sie ein politisches Mandat benötigt.
Ziel ist es, darzustellen, warum ein politisches Mandat für die Soziale Arbeit aufgrund ihres Gegenstands und ihrer gesellschaftlichen Funktion - im Sinne ihrer Klienten/innen - als notwendig erscheint, welche Bestandteile dieses Mandat beinhaltet und welche Perspektiven sich daraus für Praxis und Theorie ergeben. Dabei wird insbesondere auch auf die zugedachte Kontrollfunktion, den Ökonomisierungszwang und den sozialen Ausschluss von Menschen im aktivierenden Sozialstaat eingegangen, daneben sowohl auf die notwendigen Veränderungen in der Lehre, als auch auf handlungsorientiere Beispiele für die Praxis Sozialer Arbeit.
Die Fragestellungen werden auf der Grundlage der Auswertung aktueller und älterer Fachliteratur diskutiert, da wichtige Theoretiker/innen wie z.B. Albert Mühlum, Hans Thiersch oder auch Silvia Staub-Bernasconi schon sehr früh maßgebliche Überlegungen zur Fragestellung der Arbeit getätigt haben und diese auch heute in großen Teilen noch ihre Gültigkeit und Relevanz besitzen.
Im Ergebnis wird deutlich, dass für die Soziale Arbeit und ihren Gegenstand die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit und der Menschenrechte zentrale Bedeutung haben, der Verweis darauf aber nicht ausreicht, um klientele Problem nachhaltig lösen zu können. Unter den gegebenen Verhältnissen reproduziert Soziale Arbeit ihre Klienten/innen selbst, weil gesellschaftliche Ursachen für diese Probleme zu wenig thematisiert und noch weniger bearbeitet werden. Widerstand ist daher im Sinne des professionellen Selbstverständnisses und der Hilfe für Klienten/innen unbedingt notwendig, ein politisches Mandat und das damit verbundene kritische Bewusstsein ist die notwendige Grundlage für diesen Widerstand.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Das Verständnis von "Mandat" und "politisch" im Kontext von Sozialer Arbeit
1.1 Das Verständnis von "Mandat", Annährung an die Begrifflichkeit
1.1.1 Das gängige Verständnis von Mandat
1.1.2 Das doppelte Mandat
1.1.3 Das professionelle Tripelmandat
1.1.4 Die Kritik am doppelten und Tripelmandat
1.2 Das Verständnis von "politisch", Annährung an die Begrifflichkeit
2. Gegenstand und Funktion Sozialer Arbeit
2.1 Annährung an den "Gegenstand" Sozialer Arbeit
2.1.1 Die Trennung in zentrale und periphere Bereiche
2.1.2 Probleme der Gegenstandsbestimmung
2.1.3 Die Erweiterung des Gegenstandsbereichs
2.1.4 Der internationale Blick und die Frage der Allzuständigkeit
2.2 Die gesellschaftliche Funktion Sozialer Arbeit
2.2.1 Das systemtheoretische Paradigma bei der Funktionsbestimmung
2.2.2 Die Sicherstellungsfunktion von Teilhabemöglichkeiten
2.2.3 Die Anpassungsfunktion Sozialer Arbeit
2.2.4 Alleinstellungsmerkmal Allzuständigkeit als Funktion?
3. Soziale Gerechtigkeit, Gerechtigkeitsprinzipien und die Menschenrechtsdebatte in der Sozialen Arbeit
3.1 Die Selbstverständlichkeit sozialer Gerechtigkeit
3.1.1 Mögliche Gerechtigkeitsprinzipien
3.1.2 Die Gestaltungsverantwortung der Sozialen Arbeit und Menschenrechte als logische Weiterentwicklung?
3.2 Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession
3.2.1 Das moderne Verständnis von Menschenrechten
3.2.2 Die Bedeutung der Menschenrechte für die Soziale Arbeit
3.2.3 Menschenrechte in der Praxis Sozialer Arbeit
4. Die Notwendigkeit eines politischen Mandats in der Sozialen Arbeit
4.1 Das Verständnis des politischen Mandats
4.2 Die neo-soziale Transformation der Gesellschaft
4.2.1 Die Notwendigkeit politischer Einflussnahme
4.2.2 Die Kritik am politischen Mandat
4.3 Widersprüche zwischen Theorie und Praxis in der kapitalistischen Gesellschaft
4.3.1 Die zugedachte (soziale) Kontrollfunktion der Sozialen Arbeit
4.3.2 Die Ökonomisierung der Sozialen Arbeit
4.3.3 Der soziale Ausschluss von Menschen
5. Perspektiven für die Soziale Arbeit
5.1 Die grundsätzlichen Ebenen des Widerstands
5.2 Handlungsorientierte Ansätze für eine kritische Praxis
5.2.1 Praxisbeispiel für radikale Sozialarbeiter/innen
5.2.2 Kritik an kritischer Sozialer Arbeit
5.3 Ansätze für Lehre und Studium
5.3.1 Hochschulen als Reproduzenten sozialer Ungleichheit
5.3.2 Ziele und Dilemmata kritischer Ausbildung
6. Resümee
Anhang
Literaturverzeichnis
Einleitung
Diese Arbeit trägt den Titel "Die Notwendigkeit eines politischen Mandats für die Soziale Arbeit". Die damit einhergehende zentrale Frage, warum ein politisches Mandat notwendig ist, ist insbesondere aus der Sicht des professionellen Selbstverständnisses aufgrund der seit längerem andauernden gesellschaftlichen Entwicklungen relevant. Für mich kommt hinzu, dass ich mich seit meinem zweiten Semester auch mit kritischer Sozialer Arbeit beschäftige und dieser Bereich der Sozialen Arbeit in der Lehre kaum vorkommt, obwohl er für die Praxis, als auch für die Theorie, mindestens Anstöße - im Hinblick auf die gesellschaftlichen Veränderungen - liefern könnte. Hinzukommt, dass ein politisches Mandat auch dazu führen kann, sich gegen Vorwürfe von Befürwortern/innen dieser gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, eindeutiger zur Wehr zu setzen, denn Soziale Arbeit sei als Anwalt sozialer Gerechtigkeit, so zumindest der Vorwurf neoliberaler Ideologen und ihrer Lobbyverbände, "in ihren verständigungsorientierten Hilfsangeboten weich, ineffektiv und unterlaufe ihren gesellschaftlichen Auftrag" (Thiersch 2002, S. 5).
Jenen gesellschaftlichen Auftrag, der ihr von einer immer weniger sozial-marktwirtschaftlichen, sondern vielmehr kapitalistischen Gesellschaft zugestanden wird, obwohl ihr Auftrag eigentlich ein anderer wäre. Wie diese gesellschaftliche Funktion eigentlich aussieht bzw. aussehen müsste, soll daher auch im Laufe dieser Arbeit näher untersucht werden. Für Karin Bock et al. (2004) ist die bis heute andauernde Entwicklung der deutschen Gesellschaft gekennzeichnet von Deregulierung, Privatisierung und Ökonomisierung und sie konstatiert: "Der liberale Wohlfahrtsstaat verliert seinen humanen Anstrich, von dem nicht wenige schon immer behaupten, er sei von Beginn an nur die getönte Fassade des bürgerlichen Industriekapitalismus gewesen" (ebd., S. 9).
Wolfgang Schröer[1] (2004) spricht in diesem Kontext vom "digitalen Kapitalismus" (ebd., S. 101) und meint damit speziell, dass "'soziale 'Teilhabe' zu einem Begriff [wird], der nicht mehr das Öffnen von sozialen und politischen Gestaltungs- und Chancenräumen bezeichnet, in denen die verwehrte Partizipation als sozial bedingt erfahren werden kann - sondern soziale 'Teilhabe' wird zu einem Begriff, der die lokale und privatisierte Aktivierung der Menschen in die Richtung einer arbeitweltbezogenen Mobilisierung und Flexibilisierung des Humankapitals und bürgerschaftlichen Regulierung des sozialen Nahraums steuern soll" (ebd., S.111). Er geht damit auf eine grundsätzliche Veränderung ein, nämlich der neoliberal geprägten Uminterpretation ursprünglich zentraler Begriffe der Sozialen Arbeit. Er bezeichnet dies in seinem Aufsatz als "Americanization auf European welfare politics" (ebd.) und meint damit schlicht, dass die "Zahl derer zunimmt, die noch nicht einmal als Verlierer gelten, sondern gar nicht erst mitspielen können" (Neckel/Körber 1997, S. 318, zitiert nach ebd.).
Neben Schröer weist auch Mechthild Seithe[2] (2012c) auf einen alarmierenden Aspekt hin: "Mit der Sprache und Denkweise der Betriebswirtschaft hält auch deren vereinfachende Vorstellung vom Gegenstand Sozialer Arbeit Einzug in die Soziale Arbeit selber und scheint sich dort durchzusetzen" (ebd., S. 23). Ohne bereits hier konkret auf die Richtigkeit dieser Feststellungen einzugehen, ist Mechthild Seithe eine der Vorreiterinnen der "neuen kritischen Sozialen Arbeit", wie ich sie bezeichnen möchte, die sich auch in der Tradition der kritischen Sozialen Arbeit der 70er und 80er Jahre versteht, zumindest geht dies aus ihren Überlegungen und Erklärungen hervor, auf die sich in dieser Arbeit bezogen wird. Obwohl über Jahrzehnte vergessen und wenig beachtet, gibt es mittlerweile auch in Deutschland wieder "Arbeitskreise kritischer Sozialer Arbeit" (Seithe et al. 2012b, S. 9), die sich dem eingangs erwähnten neoliberalen Diktat über die Funktion Sozialer Arbeit entgegen stellen wollen.
Hans Thiersch hat 2002 in seinem Buch "Positionsbestimmung der Sozialen Arbeit" festgestellt, dass Soziale Arbeit zwar einerseits durchaus sehr produktiv in ihren Arbeitsfeldern agiert, sich aber dennoch in einer widersprüchlichen Situation befindet, weil sie anderseits auch intensiven Anfeindungen aus der Politik ausgesetzt ist (ebd., S. 5). Diese widersprüchliche Situation ist meines Erachtens auch heute nach wie vor existent. Weiter beschreibt er die "gesellschaftlich, politische Großwetterlage der Konkurrenzgesellschaft als bestimmt durch den Primat ökonomischer Zwänge, konkretisiert in der zunehmenden Dominanz betriebswirtschaftlich bestimmter Auflagen zu Effektivität und Effizienz"(ebd.), wobei Konkurrenzgesellschaft für ihn bestimmt ist von der rücksichtlosen Durchsetzung subjektiver Einzelinteressen gegenüber und auf Kosten des Sozialen in Deutschland (ebd., S. 18).
Im Juni 2011 fand in Berlin die Fachtagung "aufstehen - widersprechen - einmischen" (Seithe et al. 2012b) statt. Unter der Überschrift "Die Zeit des geduldigen Hoffens ist vorbei" (ebd., S. 7) wird festgestellt, dass "die Zeit des Hoffens, dass der Staat des 21. Jahrhunderts die zentrale gesellschaftliche Bedeutung von Bildung, Erziehung und Sozialer Arbeit ohne 'Wenn und Aber' anerkennt und das Engagement von Professionellen und anderen im Sozialen Bereich Tätigen wertschätzt und leistungsgerecht honoriert"(ebd.), vorbei sei.
Auch Hans Thiersch war dort einer der Redner und kommt zu dem gleichen Ergebnis wie 2002, nämlich, dass sich die aktuelle Lage der Sozialen Arbeit immer noch als widersprüchlich darstellen lässt (ebd., S 53). Er beschreibt in seinem Redebeitrag, dass hinter einer "eindrucksvollen und sehr stattlichen Fassade" (ebd.) eine "zerklüftete und bedrohliche Landschaft" liege und meint damit nicht nur die Lage der Sozialen Arbeit in Deutschland, sondern auch die insgesamte Schieflage in der Gesellschaft (ebd.). Gegen Ende seiner Rede weist er noch auf zwei mögliche, grundsätzlich verschiedene Formen von Sozialer Arbeit hin und bezieht sich damit auf eine Unterscheidung von Michael Galuske[3]: Eine Form, die "subjekt- und lebensweltorientiert in der Realisierungschance von Humanität und Demokratie" (ebd., S. 67) charakterisiert werden kann und eine, die "als systembestimmte den herrschenden Kapitalzwängen unterliegt" (ebd.) Dabei sind dies für Thiersch zwei absolut verschiedene "Grundorientierungen", deren Kampf untereinander bisher noch zu keinem eindeutigen Sieger geführt hat (ebd.). "Unser Selbstbewusstsein und das Fundament unseres Engagements, unser Stolz, muss darin liegen, dass wir uns in diesem Kampf auf dem Weg der Geschichte der Anerkennungen sehen, der zur konkreten Utopie einer sozialeren und wirklich demokratischen Gesellschaft führen kann" (ebd.).
Thierschs' Plädoyer ist damit ziemlich eindeutig und deckt sich mit den Inhalten der verabschiedeten Resolution[4] der Fachtagung (ebd., S. 133ff), in der es unter anderem heißt, dass das "neosoziale[5] Menschenbild , das auch unsere Profession [die Soziale Arbeit, Anm. d. Verf.] mehr und mehr prägt, die Umsetzung einer nachhaltigen und qualitativen Sozialen Arbeit [unterwandert]" (ebd.). Rainer Treptow (2001) hält in seinem Buch "Kultur und Soziale Arbeit" fest, dass für die Soziale Arbeit eigentlich dieses neosoziale Menschenbild und das damit einhergehende Effizienzdiktat der freien Märkte nicht gelten sollte, ganz im Gegenteil (ebd., S. 37): Aufgrund ethischer und professioneller Überlegungen muss Soziale Arbeit zu solchen Vorstellungen auch auf Abstand gehen können (ebd.).
Darum soll es in dieser Arbeit gehen. Welche Perspektiven hat die Profession Soziale Arbeit im Kapitalismus angesichts der Zustände der Gesellschaft und ihrer eigenen Verortung? Wie kann sie nachhaltig und qualitativ in Ausbildung und Praxis agieren? Warum braucht sie ein politisches Mandat? Die Frage "Ist Soziale Arbeit eine Profession oder handelt es sich lediglich um einen anspruchsvollen Beruf?" (Seithe 2012a, S. 47) erscheint dabei mittlerweile als geklärt und kann mit "Soziale Arbeit ist eine Profession" beantwortet werden, auch wenn sie nach dem "berufsstrukturellen Modell dies eher nicht ist" (ebd., S: 53), weil sie kaum hohe gesellschaftliche Anerkennung genießt und erst recht keine angemessene Honorierung erfolgt (ebd.). Die Darstellung der Merkmale einer Profession oder gar die Diskussion dazu, würde den Umfang dieser Arbeit auch bei weitem übersteigen.[6] Auch die in dieser Arbeit zitierten Autoren/innen sprechen von einer Profession, niemand von diesen stellt dies in Abrede. Die Diskussion zu der Frage der Profession kann jedenfalls nicht in dieser Arbeit geführt werden. Seithe stellt beispielsweise dazu fest: "Diese Professionalitätsmerkmale[7], sind also in der Sozialen Arbeit sehr wohl und auch vollständig vorhanden. Nach diesem Verständnis handelt es sich bei der Sozialen Arbeit um eine Profession" (ebd., S. 55). Die sich anschließende Frage "aber wird ihr von den politischen Organisationen, in deren Auftrag sie arbeitet, die notwendige Autonomie auch zugestanden?" (ebd.) ist hingegen vermutlich noch lange nicht geklärt.
Dabei ist die Diskussion um die Frage nach einem politischen Mandat und der damit einhergehenden Forderung nach kritischer Sozialer Arbeit zwar nicht neu (Hollstein 1973, Khella 1983, Merten 2001, Lallinger et al. 2007), aber bisher leider auch - zumindest in den Augen der meisten Sozialarbeiter/innen - immer relativ abstrakt geführt worden. Darunter ist zu verstehen, dass die Diskussion meist auf der theoretischen Ebene blieb, begründet aus einem radikalen, marxistischen Verständnis heraus und weniger aufgrund des Gegenstands und der gesellschaftlichen Funktion Sozialer Arbeit. Ich möchte in dieser Arbeit in einem Teilaspekt daher auch darauf eingehen, wie eine solche kritische Soziale Arbeit praktisch aussehen könnte und werde mich dabei neben dem Werk von Seithe (2012a) auch auf das weniger beachtete von David G. Gil[8] (2006) beziehen. Die breit und durchaus kontrovers geführte Diskussion der letzten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte[9], sollte nun endlich als Chance begriffen werden, das politische Mandat der Sozialen Arbeit praktisch mit Leben zu füllen. Dies kann auch keine Institution der Sozialen Arbeit übernehmen, gefragt ist jeder Sozialarbeiter und jede Sozialarbeiterin persönlich als Fachkraft in ihrem/seinem Arbeitsfeld. "Die neuerliche Spaltung der Gesellschaft in die Leistungsfähigen und die Ausgeschlossenen kann die Spaltung auch in der Sozialen Arbeit vertiefen. Es gilt dieser Trennung [...] zu widerstehen, also einer Spaltung in eine komfortable und eine weniger komfortable Arbeit entgegenzuwirken" (Thiersch 2002, S. 28).
Zunächst soll es in der vorliegenden Arbeit daher um das Verständnis von "Mandat" und "politisch" im Kontext von Sozialer Arbeit gehen. Nachdem es so viele Auffassungen des Begriffs "politisch" wie Menschen gibt und auch "Mandat" nicht zwangsweise selbsterklärend ist, ist diese grundsätzliche Klärung notwendig (Kapitel 1). Im weiteren Verlauf wird der Frage nachgegangen, was unter Gegenstand und gesellschaftlicher Funktion von Sozialer Arbeit zu verstehen ist (Kapitel 2), um in der Folge näher auf die konkreten Inhalte eingehen zu können (Kapitel 3). Daraus resultierend wird eine politische Funktion herausgearbeitet sowie die Notwendigkeit eines politischen Mandats dargestellt und anhand dreier großer Widersprüche zwischen zugedachter Funktion im Kapitalismus und gesellschaftlicher Funktion und Gegenstand Sozialer Arbeit nach ihrem professionellen Selbstverständnis konkretisiert: dem Ökonomisierungszwang, der zugedachten sozialen Kontrollfunktion und dem sozialen Ausschluss von Menschen über Maßnahmen der Sozialpolitik im aktivierenden Sozialstaat. (Kapitel 4). Diese Ausführungen werden aufzeigen, dass das klassische (oder "selbstverständlichere") Verständnis der Mandatierung Sozialer Arbeit zur Problemlösung nicht mehr ausreichend ist. Abschießend will ich nicht nur theoretische Perspektiven beschreiben, sondern auch darstellen, wie kritische Soziale Arbeit in der Praxis und Ausbildung aussehen könnte, damit das politische Mandat der Sozialen Arbeit nicht nur theoretisch und damit abstrakt bleibt, sondern auch in den Arbeitsfeldern der Praxis individuell von Sozialarbeitern/innen umgesetzt werden könnte (Kapitel 5). In einem Resümee werden die dargestellten Sachverhalte abschließend reflektiert (Kapitel 6).
1. Das Verständnis von "Mandat" und "politisch" im Kontext von Sozialer Arbeit
Zunächst muss dargestellt werden, was unter diesen Begriffen im Kontext dieser Arbeit zu verstehen ist, da eine unterschiedliche Auslegung und Interpretation unter Umständen nicht von der Hand zu weisen ist. Mir geht es dabei nicht unbedingt darum, mich an der Debatte zu beteiligen, ob Soziale Arbeit ein politisches Mandat haben könnte bzw. sollte, sondern vielmehr warum es notwendig ist und wie dieses konkret aussehen könnte. Im Folgenden soll daher unter anderem auch dargestellt werden, warum die Vorstellung, Soziale Arbeit hätte kein doppeltes oder sogar Tripelmandat, weil dieses konstruiert sei (Lutz 2011, S. 9), zwar vielleicht wünschenswert, aber in dieser Radikalität jedenfalls nicht haltbar ist.
1.1 Das Verständnis von "Mandat", Annährung an die Begrifflichkeit
Unter Mandat wird laut Duden[10] grundsätzlich ein "Auftrag bzw. eine Vollmacht" bzw. insbesondere im rechtlichen Kontext "eine juristische Vertretung bei einer bestimmten Angelegenheit" verstanden. Auch die lateinische Herkunft von "Mandat" weist dort auf die Übersetzung als "Auftrag" oder "Weisung" hin. Schneider (2001) stellt aber auch klar, dass "der Begriff des Mandats kein originär staatsrechtlicher [ist]" (ebd., S. 29), sondern ursprünglich auf Vertragsformen des römischen Rechts zurück geht (ebd.). Insofern ist es keinesfalls so zu verstehen, dass ein Mandat ausschließlich vom Staat erteilt wird bzw. ein/e Dritte/r als Auftraggeber/in zwingend notwendig ist, auch wenn dies dem gängigen Verständnis von Mandat entspricht.
1.1.1 Das gängige Verständnis von Mandat
Das Wort "Mandat" kennt man vor allem aus der Politik. Abgeordnete eines Parlaments, die auch als Mandatsträger/innen[11] bezeichnet werden, erhalten ihr Mandat, also ihren Auftrag, von den Wählerinnen und Wählern, die für dieses Parlament wahlberechtigt sind. Diese Abgeordneten sind laut Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aber einzig ihrem Gewissen verpflichtet und damit gegenüber weiteren Institutionen unabhängig, dies wird als "freies Mandat"[12] bezeichnet. "Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter/innen des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen (GG Art. 38, Absatz 1). Die wesentlichen Unterschiede zu einem Mandat in der Sozialen Arbeit, in Abgrenzung zum gängigen Verständnis von Mandat und Mandatsträger/in, sind damit klar:
1. Die Soziale Arbeit bzw. Sozialarbeiter/innen erhalten ihre Mandatierung nicht mittels allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl.
2. Sie scheinen auch nicht einen so umfassenden Auftrag inne zu haben wie Mandatsträger/innen in Parlamenten, nämlich das ganze Volk zu vertreten.
3. Sie sind in ihren Entscheidungen, völlig anders als Mandatsträger/innen in Parlamenten, nicht nur ihrem Gewissen unterworfen, sondern insbesondere den Vorstellungen und Leitlinien der unterschiedlichen Träger und den Vorstellungen ihrer Klienten/innen.
Es stellt sich daher die Frage, ob nicht eine andere Bezeichnung als Mandat besser und ehrlicher wäre, wenn sich der Aufgabenbereich von Sozialarbeitern/innen derart eklatant von einem klassischen Abgeordnetenmandat unterscheidet. Aber auch wenn die Unterschiede offensichtlich sind, ist Mandat doch der passende Begriff. Wie bereits angesprochen, ist der Begriff "Mandat" erstens nicht zwangsläufig an Wahlen bzw. staatliche Vergabe gekoppelt, zweitens ist der Auftrag Sozialer Arbeit durchaus umfassender, als man bzw. frau im ersten Moment vielleicht annimmt[13] und drittens mögen die Vorstellungen und Leitlinien der Träger in deren Augen zwar relevant sein, für den/die einzelne/n Sozialarbeiter/in sollte aber dennoch ein professionelles Selbstverständnis, der Berufsethos, über diesen hundertfach unterschiedlichen Vorstellungen eines/r Arbeitgebers/in stehen. Damit sind Soziarbeiter/innen natürlich noch keine gewählten Abgeordneten, aber "Mandat" scheint dennoch der passende Begriff zu sein, da man immer im Auftrag handelt, und wenn es sich dabei um ein übergeordnetes Selbstverständnis handelt.
1.1.2 Das doppelte Mandat
Für die Doppelfunktion, einerseits dem Träger und andererseits den Klienten/innen gegenüber verpflichtet zu sein, hat sich bereits 1973 der Begriff des doppelten Mandats etabliert, der von Böhnisch und Lösch (1973) geprägt wurde (von Spiegel 2008, S. 37) und für diese ein "zentrales Strukturmerkmal der Sozialen Arbeit" (ebd.) darstellt. Fachkräfte der Sozialen Arbeit sind demnach angehalten, "ein stets gefährdetes Gleichgewicht zwischen den Rechtsansprüchen, Bedürfnissen und Interessen der Klienten einerseits und den jeweils verfolgten sozialen Kontrollinteressen seitens öffentlicher Steuerungsagenturen andererseits aufrecht zu erhalten" (Böhnisch/Lösch 1998, S. 368; zitiert nach ebd.). Nach diesem Verständnis erhält Soziale Arbeit bzw. jede/r einzelne Sozialarbeiter/in ihren/seinen Auftrag einerseits durch die Klienten/innen und ihre Vorstellungen und andererseits durch öffentliche Steuerungsagenturen, beispielsweise Ämter und Behörden wie Jugendamt, Arbeitsamt oder auch Gerichte, also letztendlich durch den Staat und in einer Demokratie damit zumindest indirekt von der (Mehrheits)Gesellschaft.
Dabei kritisiert Staub-Bernasconi (2007b), dass es "in einer sehr engen Auslegung des doppelten Mandates [genügt], die gesellschaftlichen Normen, Gesetze sowie methodischen Verfahren zu kennen und - einer Subsumtionslogik gehorchend - die sozial abweichenden Tatbestände bestimmten Gesetzen, Verfahren, Vorschriften, Fallsteuerungskontingenten zuzuordnen" (ebd., S. 6). Das bedeutet, dass zum Nachteil der Klienten/innen ein klares Ungleichgewicht zu Gunsten des Trägers vorhanden ist. Wären der Mandatierung der Sozialen Arbeit tatsächlich so enge Grenzen gesetzt, wäre es gar nicht notwendig, über ein politisches Mandat zu sprechen, da die Profession auf die Funktion einer ordnungspolitischen Instanz beschränkt wäre. Dass dies aber nicht so ist, soll im weiteren Verlauf der Arbeit ebenfalls dargestellt werden.
Es muss in diesem Kontext noch erwähnt werden, dass nicht alle Klienten/innen von sich aus und freiwillig der Sozialen Arbeit einen Auftrag erteilen. In diversen Arbeitsfeldern stehen diese unter dem Zwang, Maßnahmen über sich ergehen zu lassen, da anderenfalls Sanktionen drohen. Hier von einem Auftrag von Seiten der Klienten/innen zu sprechen, wie dies bei vielen freiwilligen Angeboten der Fall ist, wäre geradezu unverschämt. Die Schwierigkeit dabei ist insbesondere der Vertrauensaufbau als notwendige Grundlage für eine erfolgreiche Arbeit, ohne dies hier abschließend darstellen und diskutieren zu können. Inwieweit dort Misstrauen abgebaut werden und eine tatsächliche vertrauensvolle Beziehung entstehen kann, ist auch nicht Gegenstand dieser Arbeit. Der Wille, mit Klienten/innen trotz dieses Widerspruchs vertrauensvoll zusammen zu arbeiten, scheint bei vielen Sozialarbeitern/innen aber dennoch sehr präsent zu sein (Arnold 2009, S. 119), allerdings findet sich zumindest bei Arnold keine schnelle Antwort auf die Frage, wie dieser Zustand erreicht werden kann. Präsenter ist der Hinweis auf eine kontroverse Diskussion dazu: "Dort, wo fehlende Freiwilligkeit der Angebotsnahme durch die Adressaten und der Kontrollaspekt der Sozialen Arbeit wesentliche Merkmale darstellen, wird die Frage nach Vertrauen der Klienten gestellt und kontrovers diskutiert" (ebd.).
Unter Umständen kann ein drittes und in der Folge politisches Mandat aber auch hier mit dazu beitragen, schneller Vertrauen in diesen Zusammenhängen aufzubauen, da ein solches Mandat insbesondere auch gesellschaftliche Ursachen in den Blick nimmt und Schuld nicht zwangsläufig und ausschließlich bei Individuen verortet, so wie dies im aktuell stattfindenden gesellschaftlichen Veränderungsprozess fast schon Normalität geworden ist.
1.1.3 Das professionelle Tripelmandat
Neben der dargestellten engen Auslegung des doppelten Mandats, gibt es für Staub-Bernasconi auch noch eine komplexere, eine "breitere Auslegung" (ebd.), die zwar eher einen mediativen Charakter aufweist, aber ebenfalls durch ein grundsätzliches Machtgefälle "zu Gunsten des Trägers ausfällt" (ebd.) und damit auch noch oft gegen die Interessen der Klienten/innen gerichtet ist (ebd.). Für sie kann dies zwar die Charakteristik eines sozialen Berufs sein, aber Soziale Arbeit als Profession verfügt über ein drittes Mandat und somit insgesamt über ein Tripelmandat (ebd.). Dieses dritte Mandat ist nach Staub-Bernasconi durch zwei Komponenten gekennzeichnet (ebd., S. 7):
- spezielle zu Grunde liegende Methoden und damit auch Handlungstheorien, die soziale Probleme lindern oder ihnen vorbeugen können;
- einen Ethikkodex, den sich die Profession unabhängig von dem Einfluss Dritter selbst gibt und dessen Einhaltung sie auch selbst kontrolliert bzw. kontrollieren sollte.[14] Dieser Ethikkodex beschreibt, nach welchen ethischen Grundsätzen Problemdefinitionen und Veränderungsprozesse bei den Klienten/innen als auch den Trägern beurteilt werden müssen (ebd.).
Nach Staub-Bernasconi (2010) wird eine Profession durch dieses dritte Mandat verpflichtet, gesellschaftliche als auch klientele Verhältnisse kritisch zu betrachten (ebd., S. 52) und verschafft der Sozialen Arbeit dadurch "nicht nur eine eigene, allgemeine Legitimations- und Mandatsbasis, sondern auch die Basis für unabhängige, wissenschaftlich begründete, kritische Urteile über Situationen und Probleme [...] und damit für relativ eigenbestimmte Aufträge" (ebd.). Dies dient als notwendige Grundlage, um sich kritisch mit den Zumutungen in einer Gesellschaft und den dort teilweise menschenverachtenden Machtstrukturen und Steuerungsagenturen auseinander setzen zu können (ebd.). Auch Ruth Großmaß (2005) weist darauf hin, dass dieser Ethikkodex "das für eine eigenständige Fachlichkeit notwendige 'Dritte' zwischen Sozialstaatsbezug und KlientInnenzentrierung [liefert]"(ebd., S. 21).
Dieses dritte Mandat ist ein wesentlicher Teil des "politischen Mandats", weil es einen ethischen Maßstab in das professionelle Selbstverständnis einführt. Dabei gilt festzuhalten, dass Sozialer Arbeit als Profession dieses Mandat nicht erst zugestanden oder ihr ein externer Auftrag dafür erteilt werden muss, sondern sie gibt sich diesen Auftrag selbst. Dies wird aber auch von Autoren/innen in Frage gestellt, wenngleich die Begründung für die Kritik mindestens fragwürdig erscheint, wie im Folgenden dargestellt werden soll.
1.1.4 Die Kritik am doppelten und Tripelmandat
Roland Lutz (2009) dürfte der mit bekannteste Kritiker dieses beschriebenen doppelten bzw. Tripelmandats sein und seine Meinung soll daher exemplarisch dargestellt werden. Er kritisiert insbesondere das doppelte Mandat als Konstruktion, die grundsätzlich nur dann existieren könnte, wenn "mit der Hilfe [Im Kontext des Hilfe/Kontrolle Dilemmas; Anm. d. Verf.] ein unhintergehbarer Zwang zur Anpassung verknüpft würde, dem Mann oder Frau sich in keiner Weise entziehen kann" (Lutz 2009, S. 15). Im Umkehrschluss bejaht er damit, dass professionelle Sozialarbeiter/innen jederzeit die im doppelten Mandat geforderte Verpflichtung auch gegenüber den "öffentlichen Steuerungsagenturen" hintergehen können und keine Kontrolle bzw. Anpassung von Klienten/innen durchführen müssen, wenn dies nicht gewollt sei.
So sehr diese indirekte Aufforderung zur ausschließlichen Verpflichtung gegenüber den Klienten/innen begrüßt werden kann, so sehr ist diese Einschätzung, insbesondere für die Praxis, auf die Lutz wiederkehrend verweist, mindestens fragwürdig. Dieses Dilemma ist sehr real und mitnichten einzig dafür da, "Ausreden zu finden, warum Dinge nicht so laufen, wie sie es sollten: die gesellschaftlichen Bedingungen, das fehlende Geld, die unzureichende Struktur, die schlechte Ausstattung oder die Lebenslagen der Menschen gaben es nicht her" (ebd., S.17). Seithe (2012a) stellt das doppelte Mandat nicht in Frage (ebd., S. 78ff) und auch Staub-Bernasconi (1995) beschreibt dieses sehr anschaulich und fasst zusammen, dass sich Dilemmata "vornehmlich auf den Hauptdimensionen Kontrolle, gesellschaftliche Integration versus Hilfe zur Emanzipation aus behindernden Machtverhältnissen, zur Unabhängigkeit von professioneller wie wirtschaftlicher Unterstützung und damit hin zu autonomer Lebensführung" (ebd., S. 103) bewegen.
Lutz führt auch aus, dass die im Zusammenhang mit dem doppelten Mandat immer wieder kritisierte Anpassung von Klienten/innen für ihn eine unzulässige Zuspitzung von "Normalisierungsarbeit" (ebd.) und lediglich und vereinfacht als zwei Pole von Interventionsmöglichkeiten zu verstehen sei (ebd.). Das doppelte Mandat ist für Lutz, wie schon kurz erwähnt, lediglich eine "Konstruktion, die sich als ein eigentlich unproduktives Denkmuster erweist, das nichts erklärt, möglicherweise Handlungen unnötig erschwert und immer wieder zu einem eher schlechten Gewissen der Helfer führen kann, die nicht wirklich wissen, ob sie denn Unterstützer oder Kontrolleure sind" (ebd., S. 16). In der Folge gibt es für ihn nur ein Mandat der Sozialen Arbeit in ihrer Praxis, nämlich Menschen dabei zu unterstützen, ihre eigenen Kräfte wieder zu erlangen, die sie zeitlich begrenzt oder für einen längeren Zeitraum verloren hatten. Gemeint sind dabei Kräfte, die notwendig sind für die Selbstverwirklichung, die Einrichtung in der Umwelt, die Findung der eigenen Identität oder auch dem Erlangen von Wohlbefinden (ebd.).
Lutz reiht sich damit - zumindest bezüglich der Kritik am doppelten Mandat und seiner Darstellung der Konstruktion - in die Reihe der Personen, Politiker/innen und künftigen Kollegen/innen ein, die der Ansicht sind, Soziale Arbeit könne unter allen Bedingungen erfolgreiche Arbeit im Sinne ihrer Klienten/innen leisten, in diesem Fall mittels Ermächtigung. Es soll hier keinesfalls gegen die Idee der Ermächtigung von Menschen argumentiert werden, insbesondere nicht gegen ein Verständnis von Ermächtigung nach Paolo Freire oder anderen Befreiungspädagogen/innen, aber ganz klar der Vorstellung eine Absage erteilt werden, dies sei durch die Soziale Arbeit ohne ein politisches Mandat einfach so ohne weiteres möglich. Auch Lutz ist eigentlich ein überzeugter Anhänger dieser Befreiungspädagogik (Lutz 2005), aber der Versuch, diese mittels der Dekonstruktion des doppelten Mandats zu begründen, erscheint erstens nicht zielführend und zweitens noch weniger schlüssig, im Gegensatz zu Staub-Bernasconis Ergänzung eines dritten Mandats. Insbesondere im letzten Kapitel werde ich darauf eingehen, dass praktische, kritische Soziale Arbeit - als ein Teil des politischen Mandats - insbesondere auch auf die Ermächtigung von Menschen abzielt, dies aber als Folge und Eingeständnis real existierender Widersprüchlichkeiten (u.a. Staub-Bernasconi 1995, S. 103f) und nicht stattdessen.
Zusammengefasst gibt sich die Profession Soziale Arbeit neben dem doppelten Mandat das dritte Mandat selbst und sollte sich diesem auch verpflichtet fühlen. Im Folgenden will ich aber auch noch darstellen, warum ein "politisches Mandat", in dem das dargestellte dritte Mandat nach Staub-Bernasconi aufgrund seiner ethischen Dimension auch Bestandteil ist, noch weitere Dimensionen besitzt und zudem zentrale Bedeutung erlangen sollte.
1.2 Das Verständnis von "politisch", Annährung an die Begrifflichkeit
Der Begriff "politisch" wird als ein "mehrdeutiger Begriff" (Baum 2004., S. 11) bzw. "uneindeutig" (Sorg 2001, S. 42) beschrieben. Einerseits hat er eine institutionelle Bedeutung. Darunter ist vor allem die Arbeit von politischen Institutionen wie Kommunalparlamenten, dem Bundestag oder dem Europaparlament gemeint oder auch die damit verbundenen Wahlen. An diesen nehme man bzw. frau zwar in bestimmten Zyklen regelmäßig teil, könne dadurch die politischen Machtverhältnisse (in überaus bescheidenem Maße) beeinflussen, aber nicht mitbestimmen, was die (neuen) Machtträger letztendlich für eine Politik verfolgen, also was sie planen und entscheiden (Baum 2004, S. 11). Andererseits gibt es daneben noch eine zweite Bedeutung, die im Kontext von Sozialer Arbeit und der Forderung nach einem "politischen Mandat" die Relevante ist. Bei diesem Aspekt von "politisch" geht es nicht um diesen - oft negativen - institutionellen Bezug, sondern um "Werte und Zielvorstellungen, die festgelegt und befürwortet, zum Maßstab des gesellschaftlichen Lebens gemacht werden" (ebd.).
Auch Zitzmann (2011) geht - in einem etwas anderen Kontext, nämlich der politischen Bildungsarbeit - der Frage nach, was unter Politik verstanden wird (ebd., S. 127). Sie verweist dort unter anderem auf 15 Experteninterviews[15], in denen sich keiner der befragten Experten/innen für einen engen, "ausschließlich auf das politische System bezogenen Politikbegriff ausspricht" (ebd.), sondern das Gegenteil zutreffend ist. Die Definition von Politik als "rein staatsbezogenem Zusammenhang" (ebd.) wird von den Befragten explizit abgelehnt. Daneben ist Soziale Arbeit für Baumann (2004) wiederum "abhängig von Politik" (ebd., S. 12) und "selbst Teil der Politik" (ebd.):
- Einerseits sind politische Entscheidungen folgenreich für die Soziale Arbeit, sie können die Notwendigkeit einer Hilfeleistung bzw. einer Intervention auslösen, die ohne diese Entscheidung erst gar nicht eingetreten wäre;
- Andererseits können politische Entscheidungen und Zugeständnisse auch gute Bedingungen für Soziale Arbeit und insbesondere deren Ausstattung in der Praxis erst schaffen (ebd.).
"Politisch" bezieht sich also nicht nur auf die erwähnten Werte und Zielvorstellungen, sondern auch auf die Notwendigkeit politischer Einflussnahme auf Entscheidungen im Sinne Sozialer Arbeit, also "Lobbyarbeit" zu betreiben. Dies gilt aber nicht nur für eine allumfassende materielle Ausstattung, sondern vor allem dafür, dass soziale und individuelle Probleme von Klienten/innen erst gar nicht entstehen. Das zu Grunde liegende Verständnis von "politisch" im Kontext dieser Arbeit ist somit ebenfalls verdeutlicht: Demnach wäre ein "politisches Mandat", neben den bereits dargestellten Charakteristika des dritten Mandats nach Staub-Bernasconi (Methoden und Handlungstheorien sowie Ethikkodex), zusätzlich insbesondere geprägt durch "Einflussnahme auf Entscheidungen" (Lobbyarbeit) sowie "Werte und Zielvorstellungen" der Sozialen Arbeit, die im Folgenden über die Frage nach dem Gegenstand und der Funktion Sozialer Arbeit konkretisiert werden sollen.
2. Gegenstand und Funktion Sozialer Arbeit
Michael Klassen (2001) weist darauf hin, dass bei der Frage bzw. Suche nach dem Gegenstand der Sozialen Arbeit angesichts der sich aus dem "komplexen Handlungsfeld Sozialer Arbeit ergebenden Probleme" (ebd., S. 72) der Begriff der "Stolpersteine" sehr zutreffend sei und verweist ferner darauf, dass auch bei Ernst Engelke (1992) diese Begrifflichkeit Verwendung finde (ebd.). Da allein die Frage, ob Soziale Arbeit einen Gegenstand, eine gesellschaftliche Funktion oder beides hat, nicht einfach zu klären ist, erscheint diese Einschätzung als durchaus treffend. Auch Staub-Bernasconi (1995) stellt fest, dass "Soziale Arbeit im Vergleich mit anderen, auch älteren Professionen, ein überdurchschnittliches Spektrum von Problematiken, Zielsetzungen, Tätigkeiten und sozialen Systemen [hat], in die sie direkt oder indirekt einbezogen ist" (ebd., S. 95). Insofern ist diese Klärung des Gegenstands und der Funktion Sozialer Arbeit für die Darstellung, warum diese ein politisches Mandat benötigt, unabdingbar.
Dabei wird ganz bewusst unter anderem auch auf Literatur älteren Datums zurück gegriffen, weil wichtige Theoretiker/innen wie z.B. Albert Mühlum, Hans Thiersch oder auch Silvia Staub-Bernasconi schon sehr früh - bereits in den 90iger Jahren- maßgebliche Überlegungen zur Fragestellung getätigt haben und diese auch heute in großen Teilen noch ihre Gültigkeit und Relevanz besitzen. Im Folgenden soll jetzt
2.1 Annährung an den "Gegenstand" Sozialer Arbeit
Hiltrud von Spiegel (2008) stellt im Hinblick auf die Frage nach dem Gegenstandsbereich Sozialer Arbeit die Frage "Was ist das Spezifische und Unverwechselbare dieses Berufes, das sich in allen beruflichen Tätigkeiten wiederfindet?" (ebd, S. 23), um wenige Absätze später festzuhalten, dass sich die Gegenstandsbestimmung als schwierig herausstellt: "Die Bestimmung des Gegenstands der Sozialen Arbeit gestaltet sich schwierig, schon allein aufgrund des unscharfen Berufsprofiles" (ebd.). Dieses Dilemma ist fast schon bezeichnend für nahezu alle Versuche, eine klare, feste und dauerhaft gültige Formel für den Gegenstandsbereich[16] der Sozialen Arbeit zu finden, nicht vergleichbar mit vielen anderen etablierten wissenschaftlichen Disziplinen. Als Gegenstand der Soziologie gilt beispielsweise das Soziale und als Gegenstand der Erziehungswissenschaften die Frage nach der möglichen Bildung für Menschen (ebd.).
Auch wenn für Soziale Arbeit eine kurze und prägnante Formulierung des Gegenstandsbereichs also vieleicht nicht möglich ist - dies wird sich im weiteren Verlauf noch untersucht werden -, ist eine Formulierung aber dennoch notwendig. Dadurch werden zwei Funktionen erfüllt: Eine solche Formel benennt relativ eindeutig den zentralen Inhalt einer Wissenschaft auch als Abgrenzung zu anderen Wissenschaften und "vereidigt" die dort organisierten Mitglieder auf diesen zentralen Sachverhalt (ebd.).
2.1.1 Die Trennung in zentrale und periphere Bereiche
Bei der Annährung an den Gegenstand von Sozialer Arbeit fällt zunächst auf, dass die Grenzen des Gegenstands bei vielen Wissenschaften grundsätzlich nicht scharf gezogen werden. Wichtig ist, dass klar wird, welcher Inhalt zentrale Bedeutung hat (zentraler Bereich) und welcher eher dem Umfeld zugeordnet wird (peripherer Bereich), also nicht zentrale Bedeutung erlangt (von Spiegel 2008, S. 23).
Ria Puhl et al. (1996) weisen darauf hin, dass man diesem "Anstoß zur Unterscheidung in zentrale und periphere Bereiche" zwar folgen kann, es aber vor allem darauf ankommt, diese mit passenden Inhalten zu füllen. So wären nach Peter Lüssi[17] (1992), sozialkulturelle, sozialstrukturelle und sozialpolitische Aktivitäten lediglich im periphären Bereich anzusiedeln (ebd., S. 50), also beispielsweise Erwachsenenbildung (darunter politische Bildungsarbeit), Gemeinwesenarbeit oder die Tätigkeit und Unterstützung von Bürgerinitiativen. Im Zentrum hingegen stünde "die Arbeit am einzelnen Problemfall" (ebd.).
Vertreter/innen einer radikalen Gemeinwesenarbeit wie Saul Alinsky[18] würden dieser Einschätzung mit Sicherheit widersprechen, da ihr Arbeitsfeld plötzlich nicht mehr zentrale Bedeutung haben würde. Insofern ist eine derartige Unterteilung als problematisch zu beschreiben, führt diese doch schon fast zwangsweise zu einer nicht notwendigen Hierarchisierung bzw. Unterteilung in zentrale und nicht-zentrale Handlungsfelder. Dies ist vermutlich, aber zumindest bei den genannten Unterscheidungsvorschlägen, u.a. schlicht arbeitsplatzabhängig und kann damit nicht mehr allgemein verbindlich und dadurch für alle Sozialarbeiter/innen gleichermaßen verpflichtend sein. Da ein politisches Mandat aber gleichermaßen für alle Sozialarbeiter/innen Bedeutung erlangen muss, ist eine solche Trennung des Gegenstandsbereichs in zentral und peripher auch im Kontext der Fragestellung nicht zielführend, vor allem wenn gesellschaftliche Fragestellungen als weniger zentral gelten würden. Im Weiteren wird daher versucht, einen Gegenstandsbereich zu finden, der tatsächlich universelle Gültigkeit besitzt.
2.1.2 Probleme der Gegenstandsbestimmung
Folgt man Merten (1997), ist "die Vorstellung einer disziplinär-identitären Selbstbestimmung über eine Gegenstandsbestimmung erkenntnis- wie wissenschaftstheoretisch gleichermaßen nicht haltbar" (Merten 1997, S. 84). Auch von Spiegel (2008, S. 23) weist auf diese Überlegung hin, gleichermaßen nachvollziehbar begründet mit der offensichtlichen Interdisziplinarität der Sozialen Arbeit, also den unterschiedlichsten Bezugswissenschaften (Soziologie, Psychologie, Recht, Medizin, Pädagogik etc.), die in der Sozialen Arbeit eine wichtige Rolle spielen und der Frage, ob es eine eigenständige Sozialarbeitswissenschaft überhaupt geben kann. "Es gibt wohl kaum irgend einen Gegenstand, der nicht auch von einer anderen Disziplin bearbeitet werden könnte oder bearbeitet wird, allerdings unter einer jeweils eigenen Fragestellung und Problemperspektive. [...] Gleichwohl wäre es denkbar, daß die Sozialarbeit von diesen Bestimmungen insofern eine Ausnahme bildet, als ihr sehr wohl ein spezifischer Gegenstand korrespondiert und sie sich über diesen konstituiert, der von ihr und nur von ihr bearbeitet wird [Hervorhebungen im Original]" (Merten 1997, S. 80f). Nur gefunden werden müsse dieser noch, denn bisher scheint es lediglich verschiedene - auch nachvollziehbare - Vorschläge zu geben.
Albert Mühlum sah 1995 die Schwierigkeit bei der Bestimmung eines eigenen Gegenstandsbereiches vor allem darin, dass sich die Soziale Arbeit mit ihrem eigenen Gegenstand nicht nur von den anderen Sozialarbeitswissenschaften abgrenzen, sondern zusätzlich auch noch das breite Spektrum der Praxis Sozialer Arbeit abdecken soll. (Mühlum 1995, S. 32). Er macht aber auch deutlich, was Soziale Arbeit nicht ist bzw. besser nicht sein sollte, z.B. eine pädagogische Reduktion auf Erziehung oder gar eine Kontrollinstanz (Mühlum 1994, S. 44). "Soziale Arbeit befaßt sich mit sozialen Problemen und Problembewältigungen" (ebd.). Grundsätzlich scheint Mühlum also ein relativ breites Verständnis des Gegenstandsbereiches Sozialer Arbeit zu haben: "Von Sozialer Arbeit sprechen heißt, von Problemen zu sprechen, von der ganzen Bandbreite menschlichen Leids [...]" (Mühlum 2009, S. 11).
Puhl et al. (1996) sind der Ansicht, dass man es "als eine Art Ausweichmanöver deuten kann, wenn anstelle einer Gegenstandsbestimmung Ziele und Aufgaben [also "die Funktionen", Anm. d. Verf.] benannt und aufgelistet werden" (ebd., S. 168). Dies sieht eine Mehrheit von Autoren/innen anders, denn auf der einen Seite ist es wichtig, den Gegenstand der Sozialen Arbeit zu bestimmen, vor allem für die Eigenständigkeit als Wissenschaft und um von einer Profession sprechen zu können (Merten 1997; Dewe/Otto 2005). Auf der anderen Seite ist die Diskussion über die Funktion von Sozialer Arbeit aber insbesondere für das Selbstverständnis aller Sozialarbeiter/innen von maßgeblicher Bedeutung. Gegenstand und Funktion sind gleichermaßen bedeutsam, insbesondere im Hinblick auf eine mögliche politische Dimension und damit für ein politisches Mandat.
Daneben versucht Puhl zum "Kern Sozialer Arbeit zu gelangen" (Puhl et al 1996, S. 171 ff). Darunter finden sich dann Überlegungen wie "bei der Gegenstandsbestimmung muss Soziale Arbeit auch die sozialstaatlich ausgehandelten bzw. gesellschaftlich akzeptierten Aufgaben in den Blick nehmen" (ebd., S. 172). Gerade diese Definition des Aufgabenbereichs führt aber doch zu den großen Widersprüchen zwischen Theorie und Praxis. Ich sehe es als schwierig an, dass der Auftraggeber ein bestimmter Zeitgeist bzw. die öffentliche Meinung sein könnte (ebd.), denn damit wäre Soziale Arbeit einer absoluten Beliebigkeit bzw. zufälligen Mehrheiten unterworfen. Einen kurzen und prägnanten Kern zu finden, erscheint daher kaum möglich, insofern ist der Gegenstandsbereich von Sozialer Arbeit eher breit angelegt.
[...]
[1] Professor am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim.
[2] Zuletzt Professorin am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Jena, mittlerweile emeritiert.
[3] Bis zu seinem Tod Professor am Fachbereich Sozialwesen der Universität Kassel.
[4] Die "Berliner Resolution" findet sich nicht nur in der Dokumentation der Fachtagung (Seithe et al. 2012b), sondern kann auch unter http://einmischen.info/joomla2.5/index.php/resolution nachgelesen werden.
[5] Der Begriff "neosozial" steht für den Umbau des Sozialstaates, beginnend mit der Ära Schröder bzw. der Rot/Grünen Bundesregierung.
[6] Verwiesen sei hierzu u.a. auf Dewe/Otto 2005 und Hanses 2007.
[7] Eine ausführliche Darstellung findet sich bei Seithe 2012a, S. 47 - 55.
[8] Gil ist emeritierter Professor für " Social Policy" der Brandeis University in Massachusetts. Er wurde 2008 mit dem "Noam Chomsky Award of the Justice Studies Association" ausgezeichnet. (http://heller.brandeis.edu/facultyguide/person.html?emplid=31504f5b81cfcaa790e1838614cc507ae9c2241d [zuletzt aufgerufen am 04.08.2012). Als Kind jüdischer Eltern musste er 1938 aus Österreich nach Schweden und im Anschluss nach Palästina emigrieren, wo er anfangs in einem Kibbuz lebte. Diese Erfahrungen prägten Gils gesamte wissenschaftliche Laufbahn (Gil 2009, S. 73f).
[9] Ein Überblick findet sich unter anderem bei Treptow 2001, S. 42ff oder ausführlicher u.a. im Sammelband Merten, Roland (Hrsg.): Hat die Soziale Arbeit ein politisches Mandat? Positionen zu einem strittigen Thema. Opladen: Leske und Budrich, 2001.
[10] http://www.duden.de/rechtschreibung/Mandat [zuletzt aufgerufen am 21.07.2012].
[11] http://www.duden.de/rechtschreibung/Mandatstraeger [zuletzt aufgerufen am 26.07.2012].
[12] http://www.bundestag.de/service/glossar/M/mandat.html [zuletzt aufgerufen am 30.07.2012].
[13] Dies wird im weiteren Verlauf der Arbeit, in den folgenden Kapiteln, noch dargestellt werden.
[14] Hier sei u.a. auf den "International Code of Ethics" verwiesen, der 1994 auf der Generalversammlung der International Federation of Social Work (IFSW) beschlossen wurde. Eine Auslegung dazu findet sich bei Keller (2010, S. 75ff), der Wortlaut unter http://ifsw.org/policies/statement-of-ethical-principles/ [zuletzt aufgerufen am 22.07.2012].
[15] Zitzmann weist darauf hin, dass von den fünfzehn befragten Experten/innen zwölf als Professoren/innen an Universitäten oder Pädagogischen Hochschulen tätig sind oder waren und drei als "Grenzgänger zwischen Praxis und Theorie" (ebd.) bezeichnet werden können.
[16] "Als Gegenstand bezeichnet man das Erkenntnisobjekt einer wissenschaftlichen Disziplin, auf das sich alle theoretischen und praktischen Bemühungen richten. Die Gegenstandsbestimmungen etablierter wissenschaftlicher Disziplinen haben den Charakter einer Formel, sie sind gewissermaßen inhaltsleer " (Sahle 1997, Klüsche 1999, zitiert nach von Spiegel 2008, S. 23).
[17] Schweizer Sozialarbeiter und emeritierter Professor für Sozialarbeitstheorie.
[18] Saul Alinsky war US-amerikanischer Bürgerrechtler und gilt als Begründer des sog. "Community Organizing". Mehr unter anderem in: Saul, Alinsky: Anleitung zum Mächtigsein. (Deutsche Übersetzung von "Reveille for Radicals"). Göttingen: Lamuv Verlag, 2. Auflage, 1999.
- Arbeit zitieren
- Florian Paul (Autor:in), 2012, Die Notwendigkeit eines politischen Mandats für die Soziale Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/210018