Laut Schätzungen des Kinderschutzbundes leben in Deutschland mehrere zehntausende Kinder, die völlig verwahrlost sind, da ihre Eltern sich nicht angemessen um sie kümmern und sie somit vernachlässigen. Meist sind dies Kinder von Problemfamilien, in denen Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Gewalterfahrungen, Armut und Isolation vorzufinden sind. Die Abgeschirmtheit in der Wohnung der Familien trägt dazu bei, dass Kindesvernachlässigung vor allem in den ersten Jahren der Kinder häufig unbemerkt bleibt. Nicht nur aus diesem Grund, sondern auch weil Deutschland eines der wenigen Industrieländer ist, in dem keine Statistik zu Fällen von Kindesvernachlässigung geführt wird. Die meisten Fälle von Kindeswohlgefährdung sind die der Kindesvernachlässigung, wobei diese die häufigste und gefährlichste Form der Kindeswohlgefährdung ist. Jedoch wird ihr in den Medien und der Öffentlichkeit weniger Beachtung als den anderen Formen von Kindeswohlgefährdung geschenkt, außer sie führt zum Tod eines Kindes.
So sorgten der Hungertod der kleinen Lea-Sophie aus Schwerin und der Fall von Kevin aus Bremen, welcher misshandelt wurde und mit 24 Knochenbrüchen im Kühlschrank seines Ziehvaters aufgefunden wurde, in den letzten Jahren für großes Entsetzen. Aktuell wurde der Fall der elfjährigen Chantal, welche an einer Methadonvergiftung starb, bekannt. Diese drei und viele andere vernachlässigte Kinder haben eines gemeinsam: Sie litten oder fanden sogar dort den Tod, wo sie sich am sichersten fühlen sollten – zu Hause. Derartige Fälle sind tragische Geschichten, die in die Schlagzeilen der Medien gelangen.
Allerdings tauchen in den Medien ebenso vermehrt Schlagzeilen über das Jugendamt auf, welches immer wieder in der Kritik stehen. So heißt es in der aktuellsten Debatte um den Fall Chantal: „Haben Hamburger Behörden ein Mädchen auf dem Gewissen? Das Jugendamt vermittelt eine Elfjährige an drogenabhängige Pflegeeltern, dann stirbt das Kind an einer Methadonvergiftung.“
Das Jugendamt steht bei Fällen von Kindeswohlgefährdung vor hochverantwortungsvollen und komplexen Aufgaben, welche ihre Fachkräfte vor enorme Herausforderungen stellen. Um die Arbeit der Behörden beurteilen zu können, bedarf es einer expliziten Auseinandersetzung mit deren Möglichkeiten und Grenzen um Kindeswohlgefährdungen abzuwenden.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung
2. 1 Begrifflichkeiten
2. 2 Formen von Kindeswohlgefährdung
3. Kindesvernachlässigung
3. 1 Definition Kindesvernachlässigung
3. 2 Wie wirkt sich Vernachlässigung aus?
3. 3 Formen von Kindesvernachlässigung
3. 4 Die Epidemiologie
4. Kindliche Lebensbedürfnisse
4. 1 Was braucht ein Kind?
4. 2 Folgen unbefriedigter Lebensbedürfnisse von Kindern
5. Risiko- und Schutzfaktoren
5. 1 Dimensionen von Risiko- und Schutzfaktoren
5. 2 Risikofaktoren
5. 3 Schutzfaktoren
6. Aufgaben des Jugendamtes bei einer Gefährdung des Kindes durch Vernachlässigung
6. 1 Der Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe
6. 1. 1 Kindeswohl zwischen Elternrecht und Staatlichem Wächteramt
6. 1. 2 Adressaten des Schutzauftrages
6. 1. 3 Vereinbarungen zwischen öffentlichen und freien Trägern der Jugendhilfe
6. 1. 4 Abschätzung des Gefährdungsrisikos
6. 2 Erzieherische Hilfen als Interventionsform bei Kindeswohlgefährdung
7. Die Beziehungsdynamik zwischen Helfer und Familie
7. 1 Schwierigkeiten bei der Herstellung des Kontaktes zum Klienten
7. 2 Wie wird Hilfe und helfen erlebt?
8. Das Jugendamt zwischen Hilfe und Eingriff – eine Schlussbetrachtung
Quellenverzeichnis
Anhang
A. § 8a SGB VIII Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung
B. § 42 SGB VIII Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Vernachlässigung von Kindern: Unzureichend(e)
Abbildung 2: Maslowsche Bedürfnispyramide (1943)
Abbildung 3: Risikofaktoren der Vernachlässigung von Kindern
Abbildung 4: Elternrecht und Kindesgrundrecht
Abbildung 5: Die "Staatlichen Wächter"
Abbildung 6: Merkmale eines qualifizierten Umgangs mit gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII
Abbildung 7: Hilfen des Jugendamtes je nach Gefährdungsgrad
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Laut Schätzungen des Kinderschutzbundes leben in Deutschland mehrere zehntausende Kinder, die völlig verwahrlost sind, da ihre Eltern sich nicht angemessen um sie kümmern und sie somit vernachlässigen. Meist sind dies Kinder von Problemfamilien, in denen Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Gewalterfahrungen, Armut und Isolation vorzufinden sind.[2] Die Abgeschirmtheit in der Wohnung der Familien trägt dazu bei, dass Kindesvernachlässigung vor allem in den ersten Jahren der Kinder häufig unbemerkt bleibt. Nicht nur aus diesem Grund, sondern auch weil Deutschland eines der wenigen Industrieländer ist, in dem keine Statistik zu Fällen von Kindesvernachlässigung geführt wird. Die meisten Fälle von Kindeswohlgefährdung sind die der Kindesvernachlässigung, wobei diese die häufigste und gefährlichste Form der Kindeswohlgefährdung ist.[3] Jedoch wird ihr in den Medien und der Öffentlichkeit weniger Beachtung als den anderen Formen von Kindeswohlgefährdung geschenkt, außer sie führt zum Tod eines Kindes.
So sorgten der Hungertod der kleinen Lea-Sophie aus Schwerin und der Fall von Kevin aus Bremen, welcher misshandelt wurde und mit 24 Knochenbrüchen im Kühlschrank seines Ziehvaters aufgefunden wurde, in den letzten Jahren für großes Entsetzen. Aktuell wurde der Fall der elfjährigen Chantal, welche an einer Methadonvergiftung starb, bekannt. Diese drei und viele andere vernachlässigte Kinder haben eines gemeinsam: Sie litten oder fanden sogar dort den Tod, wo sie sich am sichersten fühlen sollten – zu Hause. Derartige Fälle sind tragische Geschichten, die in die Schlagzeilen der Medien gelangen.[4]
Allerdings tauchen in den Medien ebenso vermehrt Schlagzeilen über das Jugendamt auf, welches immer wieder in der Kritik stehen. So heißt es in der aktuellsten Debatte um den Fall Chantal: „Haben Hamburger Behörden ein Mädchen auf dem Gewissen? Das Jugendamt vermittelt eine Elfjährige an drogenabhängige Pflegeeltern, dann stirbt das Kind an einer Methadonvergiftung.“ [5]
Das Jugendamt steht bei Fällen von Kindeswohlgefährdung vor hochverantwortungsvollen und komplexen Aufgaben, welche ihre Fachkräfte vor enorme Herausforderungen stellen.[6] Um die Arbeit der Behörden beurteilen zu können, bedarf es einer expliziten Auseinandersetzung mit deren Möglichkeiten und Grenzen um Kindeswohlgefährdungen abzuwenden.
Um die Dimensionen von Kindesvernachlässigung und das damit zusammenhängende Dilemma des Jugendamtes verstehen und einordnen zu können, beschäftigt sich diese Arbeit mit den Fragen, was Kindesvernachlässigung ist, welche Auswirkungen sie hat und vor allem, welche Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten das Jugendamt dabei hat.
Dazu werden im ersten Teil der Arbeit Definitionen zu den Begriffen „Kindeswohl“ und „Kindeswohlgefährdung“ aufgeführt, um daraufhin die Form der Kindesvernachlässigung von den anderen Formen der Kindeswohlgefährdung abzugrenzen.
Daraufhin wird das Phänomen Kindesvernachlässigung, deren Folgen und Formen ausführlich beschrieben und auf die Epidemiologie eingegangen.
Im zweiten Teil werden die kindlichen Lebensbedürfnisse definiert und erläutert welche Folgen auftreten können, wenn diese nicht befriedigt werden. Anschließend werden die Risiko- und Schutzfaktoren für eine gesunde Entwicklung von Kindern vorgestellt.
Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf dem dritten Teil, welcher sich mit den Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten und dem daraus resultierenden Dilemma des Jugendamtes beschäftigt. Dazu erfolgt eine Auseinandersetzung mit dem Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe bei Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII. Des Weiteren werden erzieherische Hilfen als Interventionsformen bei Kindeswohlgefährdung vorgestellt. Danach wird die problematische Beziehung zwischen Jugendamtsmitarbeitern und Eltern vernachlässigter Kinder verdeutlicht.
Letztlich wird der Konflikt des Jugendamtes zwischen Leistung und Eingriff analysiert und ein Fazit über die Arbeit gezogen.
Die benutze männliche Form der Berufsbezeichnungen soll der Überschaubarkeit und dem flüssigen Lesen dienen und keineswegs Unterschiede bezüglich der Arbeit von Männern und Frauen darstellen.
2. Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung
In der Öffentlichkeit wird mehr über die Gefährdung des Kindeswohls diskutiert als darüber, was unter Kindeswohl zu verstehen ist oder was dafür getan werden kann, dass es Kindern wohl ergeht.[7]
Demzufolge ist es sinnvoll zunächst einen Blick darauf zu werfen, was Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung bedeuten, um danach auf die Kindesvernachlässigung als ein Aspekt der Kindeswohlgefährdung eingehen zu können.
2. 1 Begrifflichkeiten
Die Begriffe „Kindeswohl“ und „Kindeswohlgefährdung“ haben eine wichtige pädagogische Bedeutung und stellen eine zentrale Rechtsnorm dar. Jedoch kann durch rechtswissenschaftliche Methoden nur schwer definiert werden, was sich hinter diesen Konstrukten tatsächlich verbirgt.[8]
Der Begriff „Kindeswohl“ ist ein zentraler Begriff und ein Entscheidungsmaßstab im Rahmen des Familienrechts des BGB, insbesondere unter dem Titel der „Elterlichen Sorge“ und von Sorgerechtsmaßnahmen. In diesem Zusammenhang ist das Kindeswohl eine wesentliche Rechtsnorm, aber auch ein unbestimmter Begriff. Dieser muss immer vom Einzelfall ausgehend definiert werden. Eine konkrete Definition liegt insbesondere nicht vor, obwohl der Begriff als „ Orientierungs- und Entscheidungsmaßstab familiengerichtlichen bzw. kindschaftsrechtlichen Handelns genutzt wird “.[9]
Es wird darauf hingewiesen, dass dieser Begriff trotz seiner Unklarheit zwei zentrale Aufgaben erfüllen soll: Einerseits dient er als Legitimationsgrundlage für staatliche Eingriffe und andererseits als sachliche Norm in gerichtlichen Verfahren.[10]
Für Eltern, andere Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen und für Mitarbeiter der Jugendhilfe, die aufgrund unterschiedlicher Motive um das Wohl der Kinder bemüht sind, ist dieser Begriff ebenfalls undefiniert. Er wird zwar oft angewendet, ist aber dennoch schwer verständlich und nicht eindeutig. Er lässt sich nicht wissenschaftlich herleiten und ist somit ein hypothetisches Konstrukt.[11]
„Kindeswohlgefährdung“ ist kein Sachverhalt, der beobachtet werden kann, sondern ein rechtliches, normatives Konstrukt.[12] Es gibt einen rechtlichen Rahmen, der auf der einen Seite von den Eltern und auf der anderen Seite mit Hilfe von sozial- und humanwissenschaftlichem Gutachten gefüllt werden muss.
Die Bestimmung, was dem Wohl eines Kindes oder Jugendlichen dient, gebührt in erster Linie den Eltern. Sie haben gemäß § 1626 Abs. 2 BGB die Pflicht und das Recht, bis zur Volljährigkeit ihrer Kinder für diese zu sorgen.[13]
„ Bei der Pflege und Erziehung haben sie die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbstständigem verantwortungsvollem Handeln zu berücksichtigen, besprechen mit dem Kind, soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge und streben Einvernehmen an. “[14]
Die gesetzliche Definition der Kindeswohlgefährdung ist im § 1666 Abs. 1 BGB verankert und eines von drei Tatbestandsmerkmalen, die vorhanden sein müssen, damit Familiengerichte in die elterliche Sorge eingreifen dürfen.
„ Das Recht spricht von Kindeswohlgefährdung, wenn ein Verhalten von Eltern in einem solchen Ausmaß in Widerspruch zu körperlichen, geistigen, seelischen oder erzieherischen Bedürfnissen eines Kindes oder Jugendlichen steht, dass mit ziemlicher Sicherheit eine erhebliche Beeinträchtigung in der Entwicklung des Kindes droht.“[15]
Der Rechtssprechung nach sind für die Mutmaßung einer Kindeswohlgefährdung drei Kriterien zu unterscheiden:
- Die Gefährdung für das Kind muss gegenwärtig gegeben sein
- Die (künftige) Schädigung des Kindes muss erheblich sein
- Die Schädigung muss sich mit ziemlicher Sicherheit vorhersehen lassen.[16]
2. 2 Formen von Kindeswohlgefährdung
Die Neufassung des Paragrafen 1631, Abs. 2 BGB aus dem Jahr 2000 besagt:
„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen,
seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässi g.“[17]
Im Einzelfall ist zu entscheiden, wann z.B. von „körperlichen Bestrafungen“ die Rede ist oder was unter „seelische Verletzungen“ fällt. Es ist keine strikte Abgrenzung zwischen den verschiedenen Formen der Kindeswohlgefährdung möglich, da diese sich im alltäglichen Umgang von Eltern und Kindern überschneiden.
Häufig kommt es vor, dass Kinder von mehreren Formen der Kindeswohlgefährdung zugleich betroffen sind. Bei einem Gutachten einer Kindeswohlgefährdung sind die familiäre Atmosphäre und die Qualität der familiären Beziehungen genauso wichtig wie die unterschiedlichen Unterlassungen der Eltern.[18] Dennoch werden meist sechs Unterkategorien zur Kindeswohlgefährdung gebildet:
- die körperliche Kindesmisshandlung,
- die seelische Kindesmisshandlung,
- der sexuelle Missbrauch,
- Erwachsenenkonflikte ums Kind,
- Autonomiekonflikte und
- die Kindesvernachlässigung.[19]
In der vorliegenden Arbeit liegt der Schwerpunkt auf der zuletzt genannten Form – die der Kindesvernachlässigung. Dazu soll in den folgenden Kapiteln das Phänomen Kindesvernachlässigung beschrieben werden, um im zweiten Teil der Arbeit auf die Handlungs- und Interventionsformen des Jugendamts bei Fällen von Kindesvernachlässigung eingehen zu können.
3. Kindesvernachlässigung
Das Thema der Kindesvernachlässigung ist ein immer wiederkehrendes Problem. Schon im 19. Jahrhundert erschienen Romane von Charles Dickens (z.B. Oliver Twist), die über das Schicksal von vernachlässigten und verwahrlosten Kindern im englischen Frühkapitalismus berichteten. Zu Beginn dieses Jahrhunderts erarbeitete Otto Rühle Studien zur Lebenssituation „proletarischer“ Kinder. Jedoch ist das Thema der Vernachlässigung von Kindern kein ausschließlich sozialgeschichtliches Problem, welches seine Aktualität bis heute verloren hat.[20] Dieses Phänomen tritt immer häufiger auf und wird vor allem für Mitarbeiter des Jugendamts ein immer größeres Problem.
Um sich mit dem Thema der Kindesvernachlässigung befassen zu können, soll in den folgenden Abschnitten zuerst auf die Definition, die verschiedenen Formen und auf die Epidemiologie eingegangen und daraufhin eine Abgrenzung zu anderen Formen der Kindeswohlgefährdung gezogen werden.
3. 1 Definition Kindesvernachlässigung
„Von Vernachlässigung spricht man, wenn Kinder das für ihre körperliche und seelische Entwicklung notwendige Maß an Zuwendung, Schutz und Fürsorge nicht oder nicht ausreichend erhalten.“ [21]
Die Kindesvernachlässigung ist mit der Hälfte bis zu zwei Dritteln aller bekannt gewordenen Fälle, die am häufigsten auftretende Form der Kindeswohlgefährdung. Diese wird als situative oder andauernde Unterlassung fürsorglichen Handelns seitens der Eltern definiert. Häufig sind Eltern aufgrund von Unfähigkeit bzw. Unwissenheit nicht in der Lage die Grundbedürfnisse ihrer Kinder zu befriedigen.[22]
Oft nimmt die Vernachlässigung einen schleichenden Verlauf mit einer immer zunehmenden Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung.[23]
Laut Schone et al. (1997) wird Kindesvernachlässigung in Deutschland als:
„andauernde oder wiederholte Unterlassung fürsorglichen Handelns sorgeverantwortlicher Personen (Eltern oder andere von ihnen autorisierte Betreuungspersonen), welches zur Sicherstellung der physischen und psychischen Versorgung des Kindes notwendig wäre.“ [24],
definiert.
Engfer (2004) spricht dann von Kindesvernachlässigung,
„wenn Kinder durch ihre Eltern unzureichend vor Gefahren und gefährlichen Substanzen geschützt werden, keine altersgerechte Förderung erfahren, mangelhaft ernährt und versorgt und/oder gesundheitlich unterversorgt werden.“ [25]
Egle (2005) bezeichnet als vernachlässigend, wenn Eltern ihren Kindern abwertend gegenüber treten, sie ignorieren und ihnen negative Eigenschaften beimessen. Überbehüten und Überforderungen können aufgrund ihrer hindernden Einflüsse auf die kindliche Entwicklung ebenfalls als Vernachlässigung beurteilt werden.[26]
Daher wird Kindesvernachlässigung anlehnend an den rechtlichen Rahmen gemäß § 1666 BGB, ähnlich wie von Schone, verstanden als:
„ andauerndes oder wiederholtes Unterlassen fürsorglichen Handelns (bzw. Unterlassens der Beauftragten geeigneter Dritter mit einem solchen Handeln) durch Eltern oder andere Sorgeberechtigte, das für einen einsichtigen Dritten vorhersehbar zu erheblichen Beeinträchtigungen der physischen und/oder psychischen Entwicklung des Kindes führt oder vorhersehbar ein hohes Risiko solcher Folgen beinhaltet. “[27]
Allgemein wird in Deutschland jedoch meist die sehr umfassende Definition für Kindesvernachlässigung angewendet. Dabei wird Kindesvernachlässigung als
„ die (ausgeprägte, d.h. andauernde oder wiederholte) Beeinträchtigung oder Schädigung der Entwicklung von Kindern durch die Sorgeberechtigten und –verpflichteten Personen aufgrund unzureichender Pflege und Kleidung, mangelnder Ernährung und gesundheitlicher Fürsorge, zu geringer Beaufsichtigung und Zuwendung, nachlässigem Schutz vor Gefahren sowie nicht hinreichender Anregung und Förderung motorischer, geistiger, emotionaler und sozialer Fähigkeiten.“[28],
beschrieben.
Kalscheuer und Schone (2002) beschreiben die Vernachlässigung von Kindern hingegen etwas weniger differenziert als
„eine über einen längeren Zeitraum ausbleibende Versorgung der materiellen, emotionalen oder kognitiven Bedürfnisse des Kindes.“ [29]
Demzufolge ist eine passive Haltung der Eltern zu ihrem Kind ein Kennzeichen für eine Vernachlässigung und als Ursache dafür werden Unwissenheit, Überforderung und/oder Unfähigkeit der Eltern gesehen.
Diese Unterlassung kann aktiv oder passiv durch ungenügende Einsicht oder ungenügenden Wissens erfolgen. Die chronische Unterversorgung des Kindes durch die anhaltende Nichtberücksichtigung, Missachtung oder dem Nichtgerechtwerden seiner Lebensbedürfnisse, die bei Vernachlässigung eintritt, verlangsamt, beeinträchtigt oder schädigt die physische und psychische Entwicklung des Kindes und kann zu schwerwiegenden chronischen Schäden bis hin zum Tod führen.[30]
Die in der Definition angewandte Unterscheidung von aktiver und passiver Vernachlässigung stellt für die Handlungsstrategien der Jugendhilfe einen zentralen Unterschied dar und ist für das weitere Vorgehen von großer Bedeutung.
Passive Vernachlässigung ist eine Folge von mangelnder Einsicht, Nichterkennen von Bedarfssituationen oder unzureichenden Handlungsmöglichkeiten der Sorgeberechtigten, wobei diese ihre Kinder über einen nicht angemessenen Zeitraum alleine lassen, notwendige Versorgungsleistungen vergessen und der ausreichenden Pflege und Ernährung ihrer Kinder nicht gerecht werden.[31]
Aktive Vernachlässigung tritt ein, wenn die Sorgeberechtigten die Vernachlässigung erkennen und dennoch keine Abhilfe schaffen oder sie sogar bewusst herbeiführen. Strikte Abgrenzungen zwischen passiver und aktiver Vernachlässigung sind jedoch nicht möglich und bezogen auf das Kind nicht von Bedeutung.[32]
Vernachlässigung kann auch als primäre Beziehungsstörung zwischen den Eltern bzw. Sorgeberechtigten und den Kindern beschrieben werden. So wird Vernachlässigung häufig als Wahrnehmungsstörung der Eltern bzw. der Sorgeberechtigten bezeichnet, da diese nicht in der Lage sind, die Bedürfnisse ihres Kindes zu erkennen und/oder dementsprechend angemessen zu handeln. Sie nehmen die Vernachlässigung als solches nicht wahr und meinen, alles was sie tun oder nicht tun, reicht für ihr Kind aus.[33]
Um Kindesvernachlässigung schließlich gegenüber anderen Formen der Gewalt gegen Kinder abzugrenzen, müssen zwei zentrale Faktoren berücksichtigt werden. Zum einen liegt Vernachlässigung nur dann vor, „ wenn über längere Zeit bestimmte Versorgungsleistungen materieller, emotionaler oder kognitiver Art ausbleiben.“[34] Demnach wird Vernachlässigung, was bereits bei den Definitionen deutlich wurde, als ein andauernder Zustand der unzureichenden Versorgung des Kindes verstanden. Zum anderen ist meist deutlich zu erkennen, wer die vernachlässigende Person ist. Die „Täter“ sind die Eltern bzw. Sorgeberechtigten, die das Kind vernachlässigen. Dadurch werden sie zu Empfängern von Hilfeleistungen und Interventionen der sozialen Dienste.[35]
Die verschiedenen Definitionen lassen vermuten, dass sich Kindesvernachlässigung auf verschiedene Arten auswirken kann, welche im folgenden Teil beschrieben werden sollen.
3. 2 Wie wirkt sich Vernachlässigung aus?
Um sich mit dem Problem der Kindesvernachlässigung beschäftigen zu können, muss primär verdeutlicht werden, wie sich die Vernachlässigung im Leben der Kinder und deren Eltern auswirkt. Das Leben vernachlässigter Kinder ist von chronischer Unterernährung, unangemessener Bekleidung, mangelnder Versorgung und Pflege, schlechter bis nichtvorhandener Gesundheitsvorsorge, unbehandelten Krankheiten und erhöhten Unfallgefahren geprägt. Diese Kinder werden mit fehlender Versorgung, Betreuung und Zuwendung alleine gelassen.[36]
Eltern vernachlässigter Kinder sind in den meisten Fällen selbst erschöpft, resigniert, gefühllos, interesselos und abgestumpft. Sie haben Probleme mit ihrer eigenen Lebenssituation und können ihre eigene Zukunft genauso wenig steuern, wie die ihrer Kinder.
Mangelernährung, unzulängliche Bekleidung, mangelnde Versorgung und Pflege, ungenügende Gesundheitsvorsorge, fehlende Zuwendung, Liebe und Bestätigung in der frühen Kindheit haben lebenslange Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder und nehmen enormen Einfluss auf das Bindungs-, Sozial- und Leistungsverhalten.[37]
Die folgende Abbildung führt essentielle Faktoren auf, die bei einer Kindesvernachlässigung unzureichend erfüllt werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Vernachlässigung von Kindern: Unzureichend(e)...[38]
Prinzipiell gilt, dass bei jüngeren und stärker vernachlässigten Kindern ein höheres Risiko für nachhaltige Schädigungen besteht. Für Säuglinge kann eine Vernachlässigung sogar schon nach kurzer Zeit lebensbedrohliche Zustände annehmen, da diese sich nicht erfolgreich gegen Vernachlässigung wehren können.[39]
Ihr Protest, ihre Verzweiflung und ihre Abwehrreaktionen drücken sie durch Weinen, Schreien, Apathie, Schaukeln, oder Kopfschlagen aus.
Doch genau diese Handlungen der Kinder lösen bei den Eltern häufig Gegenreaktionen aus, die das Problem zusätzlich verstärken. Nicht selten führt dies zu Ohnmachtsgefühlen der Eltern und geht soweit, dass dies ihre Kinder daraufhin einsperren, alleine lassen oder ihnen sogar körperliche Gewalt hinzufügen. Demzufolge kann die Reaktion der Kinder auf starke Vernachlässigung zusätzlich noch zum Ursprung von Misshandlungen durch überforderte Eltern werden.[40]
Das größte Problem ist, dass die Lebens- und Leidenssituation der betroffenen Kinder, vor allem im Säuglings- und Kleinkindalter, im Privatbereich der Familie verborgen wird und häufig unbemerkt bleibt. Doch spätestens, wenn die Kinder ein gewisses Alter erreicht haben, wirken sich ihre Symptome und ihre Notlage in Problem- und Fehlverhalten in gesellschaftlichen Institutionen wie Kindertagesstätten oder Schulen aus und schreien nach sozialpädagogischer Hilfe und Intervention. Jedoch findet die konsequente Auseinandersetzung mit dem Problemfeld der Vernachlässigung in den Bereichen der Jugendhilfe, der Sozialhilfe, dem Gesundheitswesen und der Justiz erst in Ansätzen statt.[41]
[...]
[1] Regenbogenwald - Hilfe zur Selbsthilfe e.V.: http://www.regenbogenwald.de/songtexte/st-wegner-kinder.htm, 03.06.2012
[2] vgl. FH Potsdam, Kunkel (o.J.), S. 3
[3] vgl. Nationales Zentrum Frühe Hilfen (2012)
[4] vgl. Stern.de (2012)
[5] ebd.
[6] vgl. Krieger et al. (2007), S. 101
[7] vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin (2009), S. 20
[8] vgl. Meysen in: Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V. (2008), S. 18
[9] Kinderschutz-Zentrum Berlin (2009), S. 20
[10] vgl. ebd.
[11] vgl. ebd.
[12] vgl. Schone in: Jordan (2008), S. 112
[13] vgl. Meysen in: Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V. (2008), S. 21
[14] ebd.
[15] BGH 14.07.1956 – IV ZB 32/56 – FamRZ (1956), S. 351 in: Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V., S. 21
[16] vgl. Galm/Hees/Kindler (2010), S. 20
[17] vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin (2009), S. 38
[18] vgl. ebd., S. 39
[19] vgl. Münder/Mutke/Schone (2000), S. 47
[20] vgl. DKSB Landesverband NRW e.V. (2006), S. 12
[21] Programm Polizeiliche Kriminal Prävention der Länder und des Bundes (2010), S. 11
[22] vgl. Wolff (2002), S. 70 f.
[23] vgl. Kindler in: Kindler et al. (2006), S. 3-1
[24] ebd.
[25] Gellert (2007), S. 6
[26] vgl. Fieseler/Herborth (2010), S. 76
[27] ebd.
[28] Deegener/Körner (2006), S. 80
[29] Gellert (2007), S. 6
[30] vgl. Schone et al. (1997), S. 21
[31] vgl. DKSB Landesverband NRW e.V. (2006), S. 15 f.
[32] vgl. ebd.
[33] vgl. Gellert (2007), S. 6 f.
[34] DKSB Landesverband NRW e.V. (2006), S. 16
[35] vgl. ebd.
[36] vgl. ebd., S. 13 f.
[37] vgl. DKSB Landesverband NRW e.V. (2006), S. 13 f.
[38] ebd., S. 14
[39] vgl. Deegener/Körner (2006), S. 80
[40] vgl. DKSB Landesverband NRW e.V. (2006), S. 13 f.
[41] vgl. ebd., S. 14 f.
- Arbeit zitieren
- Carolin Zauner (Autor:in), 2012, Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten des Jugendamtes bei Fällen von Kindesvernachlässigung, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/207776