Erarbeitet worden ist die Konzeption einer Einführungsstunde in Franz Kafkas Verwandlung für eine Doppelstunde in der Oberstufe des Gymnasiums. Der Entwurf enthält die Formulierung von Grob- und Feinzielen der Unterrichtsstunde, eine Sachanalyse, eine didaktische Analyse, eine methodische Analyse sowie eine tabellarische Darstellung des geplanten Verlaufs der Doppelstunde.
Stundenentwurf im fachdidaktischen Seminar:
Einführungsstunde in Franz Kafkas „Die Verwandlung“
Grobziel der Unterrichtsstunde:
Die SuS erarbeiten sich ein Bild des Protagonisten Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“. Sie setzen sich dabei besonders intensiv mit der Psyche Gregor Samsas auseinander, die ihnen vermittels einer Gegenüberstellung intuitiver Beiträge zugänglich gemacht wird. Sie gelangen dabei zur einer für die weitere Interpretation des Werkes bedeutsamen Deutungshypothese von Gregor Samsa als einer Person, die sich vom eigenen Selbst entfremdet hat.
Feinziele der Unterrichtstunde:
Fz1: Die SuS lesen den auf einem ausgeteilten Arbeitsblatt abgedruckten Anfang der Erzählung, der auch von der Lehrperson vorgetragen wird. Sie werden dadurch mit der Situation Gregor Samsas zu Beginn der Erzählung konfrontiert.
Fz2: Die SuS verfassen, inspiriert durch den Beginn der Erzählung, einen inneren Monolog Gregor Samsas und setzen sich dadurch intuitiv mit möglichen psychischen Auswirkungen der Verwandlung auseinander.
Fz3: Die SuS vergleichen in Gruppen die zuvor erarbeiteten, in ihren Thematisierungsschwerpunkten voneinander abweichenden inneren Monologe. Sie stellen dazu eine Liste der auffindbaren Themen zusammen und erarbeiten daraus eine eigene Taxonomie.
Fz4: Die SuS präsentieren in kurzen Vorträgen die Ergebnisse ihrer Gruppenarbeit. Im Plenum werden die taxonomischen Vorschläge diskutiert. Im Tafelbild wird die Struktur von Themen, die das Problem des Verlustes der Integrität des Selbst zum Inhalt haben, und von Themen, die die Verwandlung im Bezug auf das Umfeld des Verwandelten problematisieren festgehalten.
Fz5: Die SuS lesen den Beginn der Erzählung im Ganzen.
Fz6: Die SuS erarbeiten am Text einen Steckbrief Gregor Samsas, in den vor allem eine Darstellung seiner psychischen Verfasstheit eingeht. Die SuS wenden die erarbeitete thematische Taxonomie auf die psychische Verfasstheit Gregor Samsas an. Sie extrahieren dazu aus einem auf einem zweiten Arbeitsblatt zur Verfügung gestellten erweiterten Rahmen des Beginns der Erzählung die Themen, die für Gregor Samsas Psyche bestimmend sind und ordnen diese taxonomisch zu.
Sachanalyse:
Franz Kafkas Werk „Die Verwandlung“ ist ein hermeneutischer Schatz, wie er an Motivlinien und Themen reicher kaum sein könnte. Das episch bestimmende und alle anderen thematischen Entwick- Stundenentwurf im fachdidaktischen Seminar: Einführungsstunde in Franz Kafkas „Die Verwandlung“ - Lukas Rieger lungen auslösende Grundproblem der Erzählung ist die psychische Verfasstheit des Protagonisten Gregor Samsa, die sich im Werk durch die stattgefundene „Verwandlung“ sowohl oberflächlichphysisch manifestiert, wie umgekehrt diese physische Manifestation als Angelpunkt der Selbstreflexion und der reibungsvollen Verschiebung der familiären Tektonik den psychoarchäologischen Zugang zur pathologische Beschaffenheit der Psyche Gregor Samsas erst legt.
Diese abstrakte Feststellung sei konkreter ausgeführt: Gregor Samsa ist eine Person, deren Selbst im Kräftefeld von beruflichem Pflichtbewusstsein, patriarchialischem Gehorsam und geschwisterlichem ltruismus vollständig konsumiert worden ist. Gregor Samsas „Ich“, das im Werk erzählperspekti- visch wohlweißlich keinen Platz hat, ist dergestalt eines, das ausschließlich negativ, und nahezu aus- schließlich vom Über-Ich bestimmt ist.[1] Diese Selbstvergessenheit inszeniert die Erzählung als ein Fremdsein im eigenen Körper, als Entfremdung von der eigenen Natur, als eben jene titelgebende physische „Verwandlung“.
Für den Rezipienten ist es genau diese „Verwandlung“, und der in ihrem Lichte, dem Lichte der greif- baren Bedrohung der eigenen Integrität stattfindende Umgang Gregors mit sich selbst, insbesondere die von ihm vorgenommene Präferenzialisierung, die die pathologische Qualität der Psyche Gregors zugleich versinnbildlicht und offenbart. Darüber hinaus führt die „Verwandlung“ Gregors, die letztlich eben keinen evolutionären, sondern nur einen manifestierenden Charakter hat, dem duch Gregors Psyche mitbedingten, bislang unterschwelligen Missverhältnis zwischen Gregor als dem Elternhaus untertänig Ergebenem und seiner ihn despektierlich abutierenden Familie den Sauerstoff zu, unter dessen Einfluss sich der familiäre Schwelbrand nun seinen explosionsartigen Ausdruck verschafft.
Didaktische Analyse und Unterrichtszusammenhang:
Die dargestellte Selbstentfremdung Gregors ist als das Grundproblem der Erzählung, aus dem sich alle weiteren Aspekte der Erzählung speisen und aus dessen Perspektive sie sich erst entschlüsseln lassen, notwendig und notwendigerweise frühzeitig zu vermittelnder und durch die SuS zu erken- nender Analysegegenstand. Mit Hilfe des erhellenden Lichtes der Einsicht in das Bestehen dieses Grundproblems ließen sich in künftigen Unterrichtsstunden etwa die Konstellationen des Erzählper- sonals im Einzelnen oder in ihrer Gesamtaufstellung ebenso zielgerichtet und gewinnbringend be- leuchten, wie die Wahl der im Dienste des Transportes des Grundproblemes stehenden sprachlichen oder gestalterischen Mittel.
Der Lehrperson ist sich darüber im Klaren, dass sich das hier vertretene Modell einer durch die vor- gegebene paradigmatische Perspektive angestrebterweise stringenten Interpretation des Werkes und seiner in folgendenen Unterrichtsstunden zu betrachtenden Einzelaspekte leicht dem Vorwurf ausgesetzt sehen könnte, die Vielfalt möglicher Interpretationen von vorneherein gewaltsam zu be- schneiden. Dieser Vorwurf wäre nicht unberechtigt. Die Lehrperson hat sich bei der Planung der Un- terrichtseinheit mit diesem möglichen Vorwurf auseinandergesetzt und nach Abwägung von Vor- und Nachteilen zu Gunsten des hier skizzierten Modells entschieden. Besonders schwer wog bei dieser Abwägung die Entscheidung, bei der Beschäftigung mit Franz Kafkas „Die Verwandlung“ in erster Linie nicht darauf abzielen zu wollen, den SuS die interpretatorische Potentialität des konkreten Stundenentwurf im fachdidaktischen Seminar: Einführungsstunde in Franz Kafkas „Die Verwandlung“ - Lukas Rieger Werkes zugänglich zu machen, sondern das konkrete Werk als Vehikel zur exemplarischen Durchfüh- rung und damit der Vermittlung der Kompetenz zur Erarbeitung einer in sich stimmigen, schlüssigen, stringenten Interpretation zu nutzen - pointiert: es geht der Lehrperson in der Gestaltung der Unter- richtseinheit weniger darum, dem konkreten Werk in all seinen Facetten gerecht zu werden, sondern darum, die Voraussetzungen für exemplarisch-methodisches Lernen zu schaffen. Eine Voraussetzung, die solch methodisches Lernen begünstigt, ist das anfängliche Erarbeiten einer gemeinsamen Deu- tungshypothese. Nach diesen Erwägungen kann festgehalten werden, dass es gerechtfertigt und sinnvoll ist, die Extrapolation des in der Sachanalyse dargestellten epischen Grundproblems im Auf- bau der Unterrichteinheit früh anzusiedeln.
Dieser Stundenentwurf sieht vor, diese Extrapolation nicht nur früh, sondern gar in der Einführungs- stunde anzusiedeln. Diese Anordnung ist zwar nicht nur sinn-, sondern für die SuS auch durchaus anspruchsvoll, gleichwohl ist sie möglich. Dass dem so ist, ergibt sich vor allem aus dem Aufbau der Erzählung selbst. Obgleich sich das Grundproblem der Erzählung freilich an zahlreichen anderen Stel- len der Erzählung ebenfalls ablesen und sich das Bild der Psyche Gregor Samsas durch zuhilfenahme dieser anderen Stellen differenzierter darstellen lässt, ist es in seinen Grundzügen bereits auf den ersten Seiten der Erzählung angelegt. Es schöpft sich hier im Wesentlichen aus der Tatsache des Aus- einanderklaffens von äußerlicher Situation und innerem Umgang mit der Situation. Der Körper Gre- gor Samsas hat sich offenbar über Nacht vollkommen deformiert und die Gestalt eines Untieres an- genommen. Der Geist Gregors hingegen ist, wie dem Rezipienten durch die Schilderung der Gedan- kenwelt Gregors deutlich gemacht wird, unbeschadet geblieben - jedenfalls ist er weiterhin in menschlicher Sprache organisiert. Obwohl die äußere Situation, in der Gregor Samsa sich beim Ein- setzen der Erzählung befindet von ihm selbst durchaus detailliert wahrgenommen und als wirklich eingeschätzt wird, findet die Bewertung dieser unerklärlichen, bedrohlichen Situation, die durchaus dazu geeignet wäre, demjenigen, dem sie widerfährt, aus Gründen des Verlustes der eigenen Integri- tät Furcht einzuflößen und ihn in Panik zu versetzen, nur über ihre Konsequenzen für die im sozialen Gefüge an Gregor Samsa gestellten Ansprüche und Erwartungen statt. Die Sorgen, die Gregor hier plagen, kreisen nicht um die Unbeschadetheit der eigenen Person, sondern ausschließlich darum, Pflichten nicht erfüllen, Erwartungen nicht nachkommen zu können. Dieser Umstand ist symptoma- tisch für seine psychische Situation der Selbstentfremdung, deren Bedeutsamkeit für die Interpreta- tion des weiteren Ganges der Erzählung bereits geschildert worden ist: gerade weil sich Gregor schon vor seiner Verwandlung von sich selbst entfernt und entfremdet hatte, ist die Verwandlung selbst für ihn kein besorgniserregendes Ereignis mehr. Dieser Umstand kann von den SuS, gestützt durch die Gegenüberstellung von intuitiv formulierten Reaktionsalternativen, erfasst und als Problem formu- liert werden.
Methodische Analyse:
Es ist ein Zeichen der Größe Kafkas epischen Vermögens, dass die Erzählung, obwohl sie zumindest oberflächlich betrachtet aus der Sicht eines Dritten geschildert ist[2], den Rezipienten unmerklich schnell für die Perspektive und die Wertungen Gregor Samsas vereinnahmt.
[...]
[1] Ein Nachweis des dem Werk zu Grunde liegenden Modells freudscher Psychoanalyse könnte mit einiger akribischer Textarbeit leicht geleistet werden, soll hier aber zu Gunsten eines an dieser Stelle anders gesetzten Schwerpunktes ungeführt bleiben.
[2] In Wahrheit liegt größtenteils eine durch den sprechenden Dritten maskierte Erzählung aus Perspektive und Augenhöhe der ersten Person Gregor Samsas vor.
- Quote paper
- Lukas Rieger (Author), 2011, Einführungsstunde in Franz Kafkas "Die Verwandlung", Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/205346