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Seminararbeit, 2012
19 Seiten, Note: 1,7
1. Einleitung
2. Die Novelle „Der Schimmelreiter“ als Analysegegenstand der Grenzziehungstheorie von Jurij M. Lotman
3. Metaereignis in „Der Schimmelreiter“?
Theodor Storm, einer der berühmtesten deutscher Schriftsteller des Realismus, schrieb nicht nur Gedichte, sondern auch zahlreiche Novellen, die ihn weltweitbekannt machten. Die von ihm verfassten Werke wurden in viele Sprachen übersetzt. Seine letzte Novelle ist „Der Schimmelreiter”. Diese wurde 1888 veröffentlicht und zu einer Zeit geschrieben, in der Storm bereits von seiner schweren Krankheit gezeichnet war. Aufgrund dieser Krankheit musste er das Publikationsdatum immer wieder verschieben. Letztendlich erschien die Novelle erst 1888, als Storm schon tot war. „Der Schimmelreiter“ wird auch als Storms Meisternovelle beschrieben. Für dieselas er viele historische Texte, schaute sich in der PraxisDeiche an und studierte deren Planungsskizzen. Schon seit seiner Kindheit in Nordfriesland - Storm wurde in Husum geboren - begeisterte er sich für den Sagenstoff rund um den Schimmelreiter. Nach eigener Behauptung las Storm als Zwanzigjähriger die Geschichte in einer damals weit verbreiteten Zeitschrift, jedoch stellte er schon damals fest, dass die Sage, so sehr sie auch auf Nordfriesland zutreffen könnte, nicht aus Deutschland stammt.
„Der Schimmelreiter, so sehr er auch als Deichsage seinem ganzen Charakter nach hierher passt, gehört leider nicht unserem Vaterlande; auch habe ich das Wochenblatt, worin er abgedruckt war, noch nicht gefunden.“[1]
Die eigentliche Geschichte vom Schimmelreiter, die Storm für seine Novelle nutzte, spielte ursprünglich 1829 mit dem Titel „Der gespenstische Reiter“ an der Weichsel. In Bezug auf die regionalen Verbindungen der Nordsee, wurde dieser „Gespenstische Reiter“ von Storm in den nordfriesischen Kontext gesetzt und somit zum Schimmelreiter seiner Novelle gemacht. Storm problematisiert in dieser Novelle das Verhalten des Menschen, der mit seinen Innovationen versucht, die Natur zu beherrschen um neue Landmasse bewohnen und bewirtschaften zu können. Im Fall der Novelle war es die Errichtung eines neuen Deiches mittels neuer Erkenntnisse, die sich der „Naturwissenschaftler“ Hauke Haien über die Jahre angeeignet hat. Durch diesen Deich sollte neue Bewirtschaftungsfläche entstehen, um den Menschen eine bessere Lebensqualität zu ermöglichen.
Der Realismus war maßgeblich durch die industrielle Revolution und den daraus resultierenden Spannungen zwischen „alt und neu“ geprägt. Roman und Novelle, die sich schon vor dem Realismus etablierten, wurden in dieser Zeit weiter durch Kleist, Storm und Mörike geprägt. Auch die auktoriale Erzählweise entstammt dem Realismus. Wenn von dem Begriff Novelle gesprochen wird, muss im Zusammenhang mit dem Realismus immer das Wort „poetisch“ genannt werden. Der Begriff ,,poetischer Realismus" verbindet den scheinbar stark auseinanderklaffenden Gegensatz zwischen der realen Welt und der poetischen Idealität. Die Autoren strebten eine Abgrenzung zu den Normen des Realismus an, der eine Verpflichtung von Wirklichkeit beinhaltete und auf übernatürliche Motive verzichtete.[2]
In den letzten Jahren ist das Interesse der Forscher an der Novelle erneut gestiegen. Ausgangspunkt dafür ist die verschachtelte Rahmenkonstruktion.[3] Wenn man die Erzählerperspektiven der Novelle genauer betrachtet, dann wird daraus erkennbar, dass immer noch Uneinigkeit herrscht, wie viele Rahmen und Binnenerzählungen die Novelle enthält. Jedoch sollen die verschiedenen Rahmungen in dieser Arbeit nicht weiter betrachtet werden. Die Theorie von Jurij M. Lotman ist in Bezug auf die Novelle in keinerlei Sekundärliteratur näher beschrieben, so dass bei der Bearbeitung als Hilfe nur die Theorie selber zu Seite steht. Jedoch ist es somit auch relativ schwierig, die Richtigkeit dieser Anwendung zu überprüfen, da durch die verschiedenen Interpretationsansätze verschiedene Sichtweisen in Hinblick auf die Grenzziehung erfolgen können.
Dass der Schimmelreiter zur Basislektüre fast jeder Schule geworden ist, scheint unumstritten, da er zu einem der populärsten Erzähltexte Deutschland gehört, der international in mehrere Sprachen übersetzt und verfilmt wurde.
Neben der Primärliteratur ist in den Bibliotheken viel Sekundärliteratur zu finden, in denen beispielsweise das Geheimnisvolle und Gespenstische in zahlreichen Publikationen behandelt wird. Aber auch das Natursymbol des Meeres und das Tiersymbol des Pferdes werden immer wieder thematisiert.
In dieser Arbeit liegt der Fokus auf der Raumsemantik und der darin enthaltenen Grenzüberschreitungstheorie von Jurij M. Lotman. Nach einer kurzen Erklärung dieser Theorie wird das Augenmerk auf die verschiedenen semantischen Räume und ihrer Grenzen im „Schimmelreiter“ gelegt. Im Schlussteil wird das Konzept von Michael Titzmanns „Grenzziehung“ und „Grenztilgung“ in Bezug auf das Literatursystem des Realismus diskutiert. Verschiedene Grenzen werden zu kennzeichnen sein. Zum einen der Deich, als Grenze zwischen „Kultur und Natur“, und zum anderen auch gesellschaftliche Grenzen des Realismus, die zwischen den Oppositionen „alt und neu“, „klug und ungebildet“ usw. gezogen werden. Die Frage wird zu klären sein, wo die verschiedenen Grenzen genau liegen und welche disjunkten semantischen Teilräume sich konstituieren.
Im Folgenden wird die Novelle „Der Schimmelreiter“ in Bezug auf die Theorie von Jurij M. Lotman, der in seiner Arbeit „Die Struktur literarischer Texte“ erkannte hatte, dass ein Text erst dann eine narrative Struktur aufweist, „[…] wenn in der von ihm dargestellten Welt ein Ereignis stattfindet […]“[4], analysiert. Der Ereignisbegriff, den Lotman benutzt, baut seiner Meinung nach auf der Grenze auf. Denn „Ereignis“ ist für ihn „[…] die kleinste unzerlegbare Einheit des Sujetaufbaus […] .“ [5] Nach Lotman setzt sich ein Sujet aus einem semantischen Feld, welches in zwei komplementäre Untermengen aufgeteilt ist, und einer Grenze, die diese beiden Untermengen voneinander teilt, zusammen. Diese Grenze ist normalerweise impermeabel. Für ein Sujet notwendig ist außerdem der die Handlung tragende Held.[6] Für die handlungstragende Figur muss die Grenze jedoch permeabel sein, damit der sujetlose Text sujethaft wird. Demnach kommt es erst zu einem Ereignis, wenn eine Grenze zwischen zwei semantischen Räumen durch eine Figur überschritten und dadurch eine narrative Dynamik entfaltet wird. Handlungen innerhalb der semantischen Räume sind nach Lotman keine Ereignisse, sondern nur Geschehnisse, die auf der Ebene der Histoire ablaufen. Die Grenze wird dabei zum zentralen Strukturmerkmal der einzelnen Raum-Modelle und ist Text- bzw. Kulturabhängig.
Nach A.D. Aleksandrov definiert sich der Raum nach der „Gesamtheit homogener Objekte (Erscheinungen, Zustände, Funktionen […]), zwischen denen Relationen bestehen, die den gewöhnlichen räumlichen Relationen gleichen […] . [7] Lotmans Theorie der Grenzüberschreitung basiert dabei auf dem Konzept der semantischen Räume. Diese Räume werden durch die eben erwähnte Grenze in zwei disjunkte Teilräume aufgegliedert, die wiederum eigene semantische Merkmale besitzen und untereinander hierarchisiert und strukturiert sind. Dieser Raum steht in Opposition zu einem anderen. Somit stellen sie eine gewisse Ordnung auf der narrativen Ebene dar, die sujetlos ist, aber vor deren Hintergrund sich eine Handlung vollziehen kann. Es können (müssen jedoch nicht) topographische Räume entstehen, die topologische Merkmale aufweisen. Wichtigstes topologisches Merkmal eines semantischen Raumes ist seine Grenze.[8] Topologisch kann der Raum durch Oppositionen wie „hoch vs. tief“, „begrenzt vs. unbegrenzt“, „innen vs. außen“ usw. bestimmt werden. Auf dieser Grundlage werden diese Oppositionen mit nicht-topologischen semantischen Oppositionen verbunden wie „gut vs. böse“, „vertraut vs. fremd“, „natürlich vs. künstlich“. Semantische Oppositionen sind meistens wertend. Eine Konkretisierung erfährt diese semantisch aufgeladene topologische Ordnung durch topographische Gegensätze der dargestellten Welt wie zum Beispiel „Stadt vs. Land“, „Berg vs. Tal“ und „Himmel vs. Hölle“.[9] Sujetlose Texte sind beispielsweise Kalender, Telefonbücher usw. Erst mit dem Grenzübertritt einer Figur wird ein Text sujethaft. Wichtig dabei ist, dass er auf sujetlosen Grundlagen basiert.[10]
[...]
[1] Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Hamburger Lesehefte Verlag. 2. Heft, S. 101.
[2] Vgl. Meier, Albert: Wie kommt ein Pferd nach Jevershallig? Die Subversion des Realismus in Theodor Storms „Der Schimmelreiter“. In: Weltentwürfe in Literatur und Medien. Hrsg. von Hans Krah/Claus-Michael Ort. Kiel: Ludwig 2002, S. 167-180.
[3] Vgl. Kittstein, Ulrich: „…was ist das mit dem Schimmelreiter?“ Geschichten vom Fortschritt in Theodor Storms letzter Novelle. In: Poetische Ordnungen: zur Erzählprosa des deutschen Realismus. Hrsg. von Ulrich Kittstein. Würzburg: Königshausen und Neumann GmbH 2007, S. 273.
[4] Titzmann, Michael: „Grenzziehung“ vs. „Grenztilgung“. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme „Realismus“ und „Frühe Moderne“. In: Weltentwürfe in Literatur und Medien. Hrsg. von Hans Krah/Claus-Michael Ort. Kiel: Ludwig 2002, S. 181.
[5] Lotman, Jurij: Die Struktur literarischer Texte. 4. Unveränderte Aufl. München: Fink 1993, S. 330.
[6] Vgl. ebd., S. 360.
[7] Ebd., S. 312.
[8] Vgl. Krah, Hans: Raumkonstruktionen und Raumsemantik in Literatur und Medien. Entwurf einer textuell-semiotischen Modellierung http://www.phil.uni-passau.de/fileadmin/group_upload/48/Grundlagen.pdf (12.03.2012)
[9] Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 7. Aufl. München: Beck 2007, S.141.
[10] Vgl. Lotman 1993, S. 336-339.