Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen des Oberseminars „Geschichte der Sonderpädagogik“, unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Evelyn Heinemann, an der Universität Mainz, im Sommersemester 2011. Durch die Auseinandersetzung mit dem Thema Behinderung und Euthanasie im Nationalsozialismus bin ich dabei auf ein interessantes Paradoxon in der deutschen Psychiatriegeschichte gestoßen: so wird im elften Kapitel des Werkes „Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie“ von Hans-Walter Schmuhl auf einen engen Zusammenhang zwischen Euthanasieaktion und vermeintlicher Modernisierung des psychiatrischen Wesens verwiesen (vgl. SCHMUHL 1987, S. 261f). Auf den folgenden Seiten versucht der Autor seine These zu erläutern, dass der verbrecherische Prozess der massenhaften Anstaltstötungen in der NS-Zeit nicht zuletzt durch einen „therapeutischen Idealismus“ (ebd., S. 261) der beteiligten Psychiater ermöglicht wurde. Bei dieser Lektüre stellte ich mir die Frage, in wie weit das systematische Töten von sog. „lebensunwerten Lebens“ (BRÜCKNER 2010, S. 126) nach Binding und Hoche (vgl. ebd.) mit dem wissenschaftlichen Fortschrittsgedanken und insbesondere einem tatsächlichen therapeutischen Professionsverständnis vereinbar sein kann.
Die vorliegende Arbeit gibt dementsprechend das Produkt meiner Recherchen wieder, und weist einige Aspekte zur Beantwortung meiner Fragestellung auf. Sie begreift sich dabei als historische Analyse jener geschichtlichen Vorbedingungen, die zur Erklärung für den erwähnten Widerspruch im therapeutischen Selbstverständnis der NS-Psychiatrie dienen können. Unverzichtbar für mich ist hierbei der Verweis, dass die Erhellung dieser Umstände und Erklärungen im Wesentlichen darauf zielen, eine Wiederholung jener ungeheuerlichen Mordvorgänge auszuschließen, „Euthanasie“ als einmalige Katastrophe der Geschichte zu betrachten, und ihr das Attribut endgültiger Historizität zu geben.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Euthanasie und Psychiatrie in der NS-Zeit
1.1. „Rassenhygiene“ und Euthanasie
1.2. Die Rolle der Psychiatrie
2. Psychiatrie im 19. Jahrhundert
2.1. Die Etablierung des psychiatrischen Wesens
2.2. Sozialdarwinismus und Degenerationstheorie
2.3. Psychiatrische Anstaltspraktiken
3. Euthanasie als Endprodukt psychiatrischer
Entwicklungsdynamik?
4. Fazit
5. Literatur
Vorwort
Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen des Oberseminars „Geschichte der Sonderpädagogik“, unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Evelyn Heinemann, an der Universität Mainz, im Sommersemester 2011. Durch die Auseinandersetzung mit dem Thema Behinderung und Euthanasie im Nationalsozialismus bin ich dabei auf ein interessantes Paradoxon in der deutschen Psychiatriegeschichte gestoßen: so wird im elften Kapitel des Werkes „Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie“ von Hans-Walter Schmuhl auf einen engen Zusammenhang zwischen Euthanasieaktion und vermeintlicher Modernisierung des psychiatrischen Wesens verwiesen (vgl. SCHMUHL 1987, S. 261f). Auf den folgenden Seiten versucht der Autor seine These zu erläutern, dass der verbrecherische Prozess der massenhaften Anstaltstötungen in der NS-Zeit nicht zuletzt durch einen „therapeutischen Idealismus“ (ebd., S. 261) der beteiligten Psychiater ermöglicht wurde. Bei dieser Lektüre stellte ich mir die Frage, in wie weit das systematische Töten von sog. „lebensunwerten Lebens“ (BRÜCKNER 2010, S. 126) nach Binding und Hoche (vgl. ebd.) mit dem wissenschaftlichen Fortschrittsgedanken und insbesondere einem tatsächlichen therapeutischen Professionsverständnis vereinbar sein kann.
Die vorliegende Arbeit gibt dementsprechend das Produkt meiner Recherchen wieder, und weist einige Aspekte zur Beantwortung meiner Fragestellung auf. Sie begreift sich dabei als historische Analyse jener geschichtlichen Vorbedingungen, die zur Erklärung für den erwähnten Widerspruch im therapeutischen Selbstverständnis der NS-Psychiatrie dienen können. Unverzichtbar für mich ist hierbei der Verweis, dass die Erhellung dieser Umstände und Erklärungen im Wesentlichen darauf zielen, eine Wiederholung jener ungeheuerlichen Mordvorgänge auszuschließen, „Euthanasie“ als einmalige Katastrophe der Geschichte zu betrachten, und ihr das Attributendgültiger Historizitätzu geben.
Zunächst werde ich in einer knappen Zusammenfassung die im Nationalsozialismus verübten Anstaltstötungen thematisieren, mit einem besonderen Fokus auf das beteiligte Psychiatriewesen (Kapitel 1). Im darauf folgenden Abschnitt werde ich auf die geschichtliche Entwicklung der deutschen Psychiatrie im 19. Jahrhundert eingehen, und insbesondere charakteristische Grundzüge derselben darstellen (Kapitel 2). Weiterhin beziehe ich die gewonnenen Erkenntnisse auf die Ausführungen von Kapitel 1, und werde den Zusammenhang zwischen historischer Psychiatrie-Entwicklung und Euthanasieaktion verdeutlichen (Kapitel 3). Abschließen werde ich diese Arbeit mit einem Fazit, in welchem ich die grundlegenden Aussagen, die ich aus meinen Recherchen gewinnen konnte, zusammenfassend darstellen werde (Kapitel 4).
1. Euthanasie und Psychiatrie in der NS-Zeit
Zum einen will ich in diesem Kapitel einen kurzen Abriss über die im Nationalsozialismus stattgefundenen Massentötungen in psychiatrischen Anstalten liefern, sowie den historischen Ablauf und die damalige Rechtslage darstellen. Zum anderen will ich ein besonderes Augenmerk auf die relevante Rolle der Psychiatrie werfen. Hierbei soll vor allem die enge Verzahnung zwischen Psychiatrie und dem nationalsozialistischen Euthanasieprogramm verdeutlicht werden.
1.1. „Rassenhygiene“ und Euthanasie
Allgemein bekannt dürfte die rasche Umsetzung der nationalsozialistischen Programmatik nach der sog. Machtergreifung vom 30. Januar 1933 sein (vgl. NOACK 1996, S. 66ff). Der schon wenige Monate später abgeschlossene Prozess der Gleichschaltung - die Vereinheitlichung des öffentlichen Lebens unter der Kontrolle des NS-Regimes - macht die radikale politische Veränderung des damaligen deutschen Staates besonders deutlich (vgl. KLEE 1983, S. 37). Ausgehend von der totalitären politischen Macht Hitlers durch das „Gesetz zur Behebung von der Not von Volk und Reich“ vom 24. März 1933 (ebd., S. 35), stehen dem Regime nahezu uneingeschränkte Mittel zur Verfügung, die ideologischen Charakteristika des Nationalsozialismus politisch und gesellschaftlich manifest werden zu lassen (vgl. ebd., S.34f). Das öffentliche wie private Leben fällt unter staatliche Kontrolle, Parteien und Verbände werden aufgelöst oder in die Organisationen der NSDAP eingegliedert, „rassisch“ und weltanschaulich geprägte personelle Reformen - etwa im Beamtentum - vollzogen, sowie politische Gegner, Juden, ideologisch Abweichende, u.a. gewaltsam unterdrückt (NOACK 1996, S. 76ff). Auch und insbesondere das vorherrschende Gesundheitswesen beugt sich der gleichschaltenden Nazifizierung (vgl. KLEE 2010, S. 34ff), bzw. reiht sich selbst in das vorherrschende Regime ein (vgl. KLEE 2001, S. 42ff).
Als das zentrale programmatische Werk der nationalsozialistischen Bewegung weist Hitlers „Mein Kampf“ die grundlegenden ideologischen Aspekte und Prinzipien der Herrschaft des NS-Regimes auf (NOACK 1996, S. 33). Von wesentlicher Bedeutung ist hierbei der radikale, rassistisch-sozialdarwinistische Einschlag, umhüllt von einer scheinbar biologistisch- wissenschaftlichen Terminologie, als roter Faden der gesamten NS-Weltanschauung (ebd., S. 37ff). Der „Rassenhygiene“, die Aufrechterhaltung der allgemeinen Gesundheit des sog. „Volkskörpers“, wohnt somit eine elementare Bedeutung für das NS-Regime bei. Angesichts des totalitären Machtpotentials der Nationalsozialisten nach der Machtergreifung scheint es kaum überraschend, dass sich in schneller Folge die politische Umsetzung jener rassenideologischen Forderungen manifestieren; mit dem bereits im Juli 1933 beschlossenen und im Januar 1934 in Kraft getretenen „Sterilisierungsgesetz“ nehmen die rassenhygienischen Maßnahmen der regierenden Partei erste Gestalt an (vgl. KLEE 1983, S. 35f). Weitere Gesetze, wie etwa das „Ehegesundheitsgesetz“ von 1935, ergänzen die Bestrebungen des Regimes zur „Erb- und Rassenpflege“ (vgl. RICHARZ 1987, S. 114). Das Sterilisierungsgesetz sieht im Wesentlichen vor, erblich bedingte Krankheiten durch (Zwangs-) Unfruchtbarmachung flächendeckend wortwörtlich „auszumerzen“. Hierbei gelten als vermeintlich erbkrank v.a. „Schwachsinnige“, Schizophrene, und Epileptiker, aber auch Alkoholiker, sowie Verbrecher (vgl. KLEE 2010, S. 40f). Die Meldepflicht von „Erbkranken“ des beteiligten Personals im Gesundheitswesen sichert dem Regime dabei ein umfassendes Verwaltungswerkzeug zur Erfassung des unerwünschten Personenkreises (vgl. KLEE 2001, S.63).
Bewegen sich die Zwangssterilisierungen noch innerhalb eines gesetzlichen Rahmens, so finden die noch folgenden Massentötungen in einem „rechtlosen Hohlraum“ (SCHMUHL 1987, S. 297) statt. Trotz öffentlicher Diskussionen schon vor dem Dritten Reich um ein Sterbehilfegesetz, und konkreter Gesetzesvorlagen in der NS-Zeit, kommt es bis zum Ende des 2. Weltkrieges zu keiner formell gesetzlichen Regelung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ (vgl. ebd., S. 291ff). Dieser Umstand hinderte das Regime und beteiligte Anstalten allerdings nicht daran, für vollendete Tatsachen zu sorgen. Die Devise „möglichst wenig behandeln, möglichst viele sterben lassen“ (KLEE 2010, S. 71) spiegelt die Tötungspraxis staatlicher Anstalten in den fortlaufenden 30er Jahren wieder. Nach mündlicher Aufforderung durch personelle Vertreter des Regimes stellen dabei bewusst überdosierte Medikationen, Pflegeentzug, oder Mangelernährung gängige Praktiken des beteiligten psychiatrischen Personals dar, um die Morde in das Licht natürlicher bzw. schicksalhafter Todesursachen zu rücken (vgl. ebd., S. 71ff). Die vor der eigentlichen Euthanasiewelle stattfindenden Krankenverlegungen in überfüllte staatliche Einrichtungen erzielen im Schutzkleid vermeintlicher Pflegemaßnahmen den bewusst abgezielten Nebeneffekt massenhafter Patiententode und lassen sich nach Klee als „Euthanasietransporte vor Beginn der Euthanasie“ (ebd., S. 73) bezeichnen.
Während sich die Anstaltsmorde vor 1939 durch ein vermeintlich passives Vorgehen charakterisieren, so verschärft sich die Tötungspraxis im Zuge der Kindereuthanasie durch die staatliche Freigabe aktiver und systematischer Tötungen (vgl. RICHARZ 1987, S. 142f). Maßgebend sind hierbei die Runderlasse zur Erfassung (18.08.1939) und Behandlung (01.07.1940) behinderter Kinder des Reichsinnenministeriums (vgl. KLEE 2010, S. 334f). Die Informationen über behinderte Kinder werden über die Meldepflicht der Ärzte eingeholt und zentral verwaltet. Die letztgültige Entscheidungsgewalt über die „weitere Behandlung“ behält dabei nicht das diagnostizierende Ärztepersonal, sondern die Kanzlei des Führers selbst (ebd., S. 335). Der Terminus „Behandlung“ stellt hierbei nichts anderes als eine typisch nationalsozialistische Farce dar, um die tatsächlichen Tötungen nach außen hin zu verdecken (vgl. ebd., S. 339f). Letztere finden vor allem durch Vergasen in ausgewählten und eigens eingerichtete Tötungsanstalten statt (ebd., S. 337f). Nach demselben Prinzip werden zwischen 1939 und 1941 auch die Massenmorde an erwachsenen Patienten der Heil- und Pflegeanstalten praktiziert (RICHARZ 1987, S. 143). Die „Erwachseneneuthanasie“ geht auf ein inoffizielles Ermächtigungsschreiben Hitlers an seinen Begleitarzt Karl Brandt und den Reichsleiter Philipp Bouhler zurück (vgl. KLEE 2010, S. 114), lässt sich allerdings auf mündliche Weisungen des Führers zurückdatieren (vgl. RICHARZ 1987, S. 144). Der lediglich aus kriegspolitischen Gründen erfolgende, offizielle Stopp der „Aktion T4“ im Sommer 1941 beendet zwar die staatlich-formelle Beteiligung an den Patientenmorden, die Tötungen aber werden in dezentralisierter, unbürokratischer, willkürlicher, und nicht weniger vehement betriebener Form bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges innerhalb des Regimes fortgeführt (vgl. SCHMUHL 1987, S. 220ff). Dabei wird die etablierte Vergasungsmethode in der sogenannten „wilden Euthanasie“ (ebd. S. 223) durch die schon in der Vorkriegszeit angewandten Praktiken ergänzt: von überdosierten Medikationen, über „Entzugskost“, bis hin zu „Dämmerschlafkuren“, u.a. (ebd., S. 222f). Insgesamt beläuft sich die Zahl der Patientenmorde aus deutschen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1939 und 1945 auf über 100.000 (SCHMUHL 1987, S. 236).
1.2. Die Rolle der Psychiatrie
Von Anfang an lassen sich direkte Beteiligung der psychiatrischen Anstaltswesens am Euthanasieprogramm, ein unmittelbares Involviert-Sein und eine tragende Funktion des Psychiatriepersonals auf sämtlichen Ebenen der Verantwortungshierarchie bezüglich des Tötungsgeschehens, sowie Äquivalenzverhältnis von Pflege- und Tötungseinrichtung als augenscheinlich kennzeichnende Charakteristika für die Euthanasieaktionen im Dritten Reich betrachten (vgl. SCHMUHL 1987, S. 261ff). Als repräsentatives Beispiel soll an dieser Stelle auf Hermann Pfannmüller verwiesen werden: Psychiater, Nationalsozialist und Direktor der Tötungsanstalt Eglfing-Haar (vgl. RICHARZ 1987, S. 189ff). Sieht man von vereinzelten, meist nicht-staatlichen Einrichtungen - etwa kirchlicher Trägerschaft - ab (vgl. SCHMUHL 1987, S. 305ff), erhält man im psychiatrischen Heil- und Pflegewesen das flächendeckende Bild einer aktiven Bereitwilligkeit zur Beteiligung an den vollzogenen Massensterilisierungen und -morden, die man durchaus als notwendiges Kriterium für die verheerenden Ausmaße der Euthanasieaktionen deuten kann:
„Von allen medizinischen Fächern hat sich die Psychiatrie am radikalsten in den Dienst des Nationalsozialismusgestellt. Sie betrieb die Sterilisierung wie die Ermordung ihrer Kranken - als Vordenker und Vollstrecker.Zwischen 1933 und 1945 geschieht nichts, was Psychiater nicht lange vor den Nazis gefordert hatten.“
(KLEE 2001, S. 78)
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