Nach dem Prologgedicht sind es zunächst die so genannten passer-Gedichte, denen sich der chronologische Leser der carmina des lateinischen Poeten C. Valerius Catullus zu widmen hat. „No poems of Catullus were better known in the antiquity“ schreibt Fordyce über sie und dieser Satz scheint auch sich auch noch für die heutige Zeit zu bewahrheiten. Mit Vorliebe finden sie beispielsweise als Lektüre im Lateinunterricht Anwendung, stellen sie sich doch neben ihrer Eleganz und Schönheit als sprachlich nicht zu komplex dar und der Dichter scheint auf seine nicht selten angewandte Obszönität zu verzichten. So populär diese Schöpfungen des antiken Dichters sind, so umstritten sind sie in der Forschung, da sie reichlich Anlass zu kontroverser Diskussion bieten. Es sind zwei der Hauptstreitpunkte, auf die in dieser problemorientierten Hausarbeit insbesondere eingegangen werden soll.
Der eine betrifft Überlieferungsschwierigkeiten in Bezug auf carmen 2: In den Handschriften erscheinen nämlich zwischen den beiden Gedichten drei Zeilen, in welchen sich dem Augen-schein nach ein inhaltlicher Bruch zu c. 2 zu vollziehen scheint. Deshalb gelten sie in den Textausgaben zumeist als Fragment 2a oder 2b eines verlorenen Gedichtes. Das Lager der „Separatisten“ vertritt diese Abtrennung, während die „Unitaristen“ durchaus eine inhaltliche Gedankenfolge und eine logische Verbindung erkennen wollen und daher die Plausibilität des Anschlusses an carmen 2 betonen. In dieser Arbeit werden die besagten Zeilen in Anlehnung an die Textausgabe als carmen 2b behandelt.
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Stil der „Passergedichte“ und ihre Tradition
2.1 carmen 2
2.2 Carmen 3
3. Carmen 2b
3.1 Carmen 2b?
4. Interpretation der Passergedichte
4.1 Das Wortfeld der Liebe und Erotik
4.2 Der passer als erotische Metapher?
4.3 Der passer als passer
5. Schluss
6. Literaturverzeichnis
6.1 Quellen und Catullausgaben
6.2. Sekundärliteratur
1. Einleitung
Nach dem Prologgedicht sind es zunächst die so genannten passer -Gedichte, denen sich der chronologische Leser der carmina des lateinischen Poeten C. Valerius Catullus zu widmen hat. „No poems of Catullus were better known in the antiquity“[1] schreibt Fordyce über sie und dieser Satz scheint auch sich auch noch für die heutige Zeit zu bewahrheiten. Mit Vorliebe finden sie beispielsweise als Lektüre im Lateinunterricht Anwendung, stellen sie sich doch neben ihrer Eleganz und Schönheit als sprachlich nicht zu komplex dar und der Dichter scheint auf seine nicht selten angewandte Obszönität zu verzichten. So populär diese Schöpfungen des antiken Dichters sind, so umstritten sind sie in der Forschung, da sie reichlich Anlass zu kontroverser Diskussion bieten. Es sind zwei der Hauptstreitpunkte, auf die in dieser problemorientierten Hausarbeit insbesondere eingegangen werden soll.
Der eine betrifft Überlieferungsschwierigkeiten in Bezug auf carmen 2: In den Handschriften erscheinen nämlich zwischen den beiden Gedichten drei Zeilen, in welchen sich dem Augenschein nach ein inhaltlicher Bruch zu c. 2 zu vollziehen scheint. Deshalb gelten sie in den Textausgaben zumeist als Fragment 2a oder 2b eines verlorenen Gedichtes. Das Lager der „Separatisten“[2] vertritt diese Abtrennung, während die „Unitaristen“[3] durchaus eine inhaltliche Gedankenfolge und eine logische Verbindung erkennen wollen und daher die Plausibilität des Anschlusses an carmen 2 betonen. In dieser Arbeit werden die besagten Zeilen in Anlehnung an die Textausgabe als carmen 2b behandelt.
Eine andere Kontroverse, die mitunter durchaus polemisch geführt wurde, betrifft die inhaltliche Interpretation der Gedichte. Zwei Lesarten sollen hier beleuchtet und diskutiert werden. Die Vertreter des „dirty reading“[4] sehen den passer als Metapher für das männliche Glied. Durch eine solche Allegorie ließe sich der Inhalt der carmina sehr viel erotischer interpretieren. Der größere Teil der Forscher jedoch[5] lehnt diese Sichtweise ab und sieht in den carmina durchaus erotisch aufgeladene Liebesgedichte, in welchen der passer als innig geliebtes Spieltier der puella die Aufmerksamkeit ihres Verehrers genießt.
Diese Arbeit wird zunächst auf den individuellen Stil und die Sprache Catulls eingehen. Dies geschieht namentlich anhand von carmen 2, da es sich hierfür besonders eignet. Auch sollen für beide Passergedichte die literarischen Vorbilder des Dichters herausgearbeitet werden. Im Anschluss wird die oben bereits kurz vorgestellte Kontroverse um die Zugehörigkeit des „Fragments 2b“ zum ersten der Passergedichte erläutert werden. Dazu müssen die Hauptargumente diskutiert werden und deren Vertreter zu Wort kommen. Im ausführlicheren Interpretationsteil stehen, nach Herausarbeitung des Wortfeldes der Liebe und Erotik, die unterschiedlichen Lesearten der Gedichte im Zentrum des Interesses. In den Schlussbetrachtungen soll ein Fazit darüber gezogen werden, ob der passer Catulls im Kontext seiner Gedichte als Allegorie oder erotisches Symbol und geliebtes Spieltier seiner puella erscheint.
2. Stil der „Passergedichte“ und ihre Tradition
2.1 carmen 2
PASSER, deliciae mea puellae,
quicum ludere, quem in sinu tenere,
cui primum digitum dare appetenti
et acris solet incitare morsus,
cum desiderio meo nitenti 5
carum nescio quid lubet iocari,
et solaciolum sui doloris,
credo, ut tum gravis acquiescat ardor:
tecum ludere sicut ipsa possem
et tristis animi levare curas! 10
Kurz zusammengefasst berichtet das Gedicht zunächst, wie das lyrische Ich den passer seiner geliebten puella anspricht (V. 1). Anschließend wird das Spiel der Geliebten mit dem Vogel und deren Verhältnis beschrieben (V. 2-8). Nach dieser Betrachtung bedauert der Verehrer seine eigene Situation mit dem Wunsch, seine Leiden ebenfalls durch das Spiel lindern zu können (V. 8-10).
Sehr deutlich lässt sich an diesem Gedicht der individuelle Stil Catulls erkennen. Anhand einiger sprachlicher Besonderheiten wird die „Übergangsstellung zwischen archaischem, d.h. vorciceronischem, und klassischem Latein“[6] wahrnehmbar. So zeugen hiervon einige vorklassische Formen, nämlich acris (V. 4) , lubet (V. 6) sowie tristis (V. 10). Ebenfalls lassen sich umgangssprachliche Elemente feststellen, z.B. quicum (V. 2) und auch der Ausdruck solaciolum (V. 7). Der häufige Gebrauch solcher Diminutive in seinen carmina ist bezeichnend für den „spezifischen Kunstwillen“ des Dichters. Als „Stilmittel der Zärtlichkeit […], der Teilnahme und Einfühlung“ verringern sie „affektisch den Abstand des Sprechers von dem Gegenstand oder Sachverhalt“[7] . Sie gelten als Charakteristika des neoterischen Dichterkreises, dem auch Catull angehörte[8] .
Kroll merkt dazu an: „Das Gedicht scheint ganz spontan entstanden und hat mit den griechischen Epigrammen auf Lieblingstiere […] nichts zu tun“[9] . Es gibt allerdings plausible Gründe diese Behauptung anzuzweifeln. Auch wenn Catull in diesem Gedicht auf Gräzismen verzichtet, so scheint eine hellenistische Tradition doch gegeben: „Catullus 2 has important epigrammatic models: a series of epigrams from the Palatine Anthology […] treat the subject of pets. Closest to Catullus 2 are AP 7.195 and 196, both by Meleager, which take the form of parodic hymns addressing pets which […] have the ability to soothe pains and cares”[10] . Entsprechend J. Engelheart, so sieht auch Syndikus hinsichtlich des Motivs und der Form in den genannten Epigrammen des Meleagros ein Vorbild Catulls[11] . Wie Catull den passer, so spricht nämlich auch Meleager die adressierten Tiere, eine Heuschrecke und eine Zikade, durch den Vokativ zunächst direkt an und es folgt die Charakterisierung der Tierchen durch Appositionen. Analog ist auch die Verwendung von Koseworten und Liebessprache, wie der finale Wunsch nach der Linderung persönlicher Leiden[12] . Vermutlich lässt sich aber eine Inspirationsquelle für Catull schon in der vorhellenistischen Zeit ausmachen. Bezeichnend mag hierfür die Wahl des Namens Lesbia (c. 5) für die verehrte puella sein. Dies ist vermutlich eine bewusste Anspielung des Dichters auf Sappho, die berühmteste Dichterin der Antike und Verfasserin von Liebespoesie. Sie lebte und wirkte im 7. Jahrhundert vor Christus auf der Insel Lesbos[13] . In einem ihrer Verse beschreibt die Poetin, wie Aphrodite bzw. Venus in ihrem, von einem Gespann aus στροῦθοι gezogenen Wagen über die Erde gleitet (Sappho 1, 9f). Sperlinge galten der Aphrodite als heilig[14] und waren in der Antike für ihren außerordentlichen Paarungswillen bekannt[15] . Es erscheint aufgrund dieser Verbindungen durchaus plausibel, wenn im Kontext eines catullschen Liebesgedichtes der passer eine bedeutsame Rolle spielt. Brenk schreibt: „The references to passer as a term of endearment in Latin literature before Catullus are sparse”[16] . “These are the first poems preserved in the antiquity specifically about a sparrow”[17] , gibt Hooper zu bedenken. Dennoch scheint sich Catull mit der Wahl des passer in einer gewissen Tradition zu befinden. Martial nennt den passer in seinen Epigrammen stets in Verbindung mit Catull[18] . Vielleicht hat also Catull dem bis dahin in der römischen Geisteswelt eher wenig bekannten passer zu seiner Berühmtheit als literarisches Liebessymbol verholfen. So beweist er sich hier als poeta docta, indem er in seiner Lyrik verschiedene Stilebenen vermischt und auch neue Akzente setzt. Umgangssprachliche Elemente existieren neben griechischer Tradition und persönlichem Einfallsreichtum in einem individuellen und kunstvollen Gebilde, dem ersten der Passergedichte Catulls.
[...]
[1] Fordyce, Christian J., Catullus, Oxford 1971, S. 87.
[2] Kroll, Wilhelm, C. Valerius Catullus, Stuttgart 1960, 4. Auflage; Eisenhut, Werner, zu Catull C. 2A und der Trennung der Gedichte in den Handschriften, in: Philologus 109 (1965), S. 301-305.
[3] Mit einem guten Überblick über den gegenwärtigen Stand der Diskussion: Felgentreu, Fritz, passer und malum in Catulls c. 2, in: Philologus 137 (1993), S. 216-222. Weitere Unitaristen: Gugel, H., Die Einheit von Catulls erstem Passergedicht, in: Latomus 27 (1968), S. 810-822; Wirth, Theo, Catull c. 2: passer und malum als Zeichen der Liebe, in: RhM 129 (1986), S. 36-53.
[4] Giangrande, Giuseppe, Catullus’ Lyrics on the passer, in: Museum Philologum Londiniense 1 (1975), S. 137-146; Holzberg, Niklas, Der Dichter und sein erotisches Werk, München 2002; Hooper, Richard W., In defence of the dirty sparrow, in: G&R 32 (1945), S. 162-175.
[5] Jones, Julian Ward, Catullus’ Passer as Passer, in: G&R 14 (1998), S. 188-194; Jocelyn, H. D., On some unnecessarily indecent interpretations of catullus 2 and 3, in: AJPh (1980), S. 421-444; Lieberg, Godo, Puella divina. Die Gestalt der göttlichen Geliebten bei Catull im Zusammenhang der antiken Dichtung, Amsterdam 1962. Syndikus, Hans Peter, Catull. Band 1. Die kleinen Gedichte (1-60), Darmstadt 1984; Quinn, Kenneth, Catullus. An Interpretation, London 1972.
[6] Schmidt, Ernst A., Catull, Heidelberg 1985, S. 47.
[7] Ders., S. 51.
[8] Tränkle, Hermann, Die Sprachkunst des Properz und die Tradition der lateinischen Dichtersprache, Wiesbaden 1960, S. 28-29.
[9] Kroll 1960, S. 3
[10] Ingleheart, J., Catullus 2 and 3: A programmatic pair of Sapphic epigrams?, in: Mnemosyne 56 (2003) S. 553.
[11] Syndikus 1984, S. 79-80.
[12] Ingleheart 2003, S. 554.
[13] Brenk, F. E., Non primus pipiabat: Echoes of Sappho in Catullus’ passer Poems, in: Latromus 39 (1980),
S. 707.
[14] Erbse, Hartmut, Sapphos Sperlinge, in: Hermes 125 (1997), S. 233.
[15] Plautus nennt den passer in einer Reihe mit einer Taube und einem Hase. Sowohl Taube und Hase sind für ihren Paarungswillen bekannt. Es scheint sich also um ein erotisch konnotiertes Kosewort zu handeln: meus pullus passer, mea columba, mi lepus. (Plaut. Cas. 138). Catulls Zeitgenosse Cicero spricht von der allen bekannten voluptas des passer: quae passeribus omnibus nota est. (Cic., de finibus, 2,75). Plinius maior setzt die salacitas des Sperlings mit der von Tauben und Turteltauben gleich: Contra passeri minimum vitae cui salacitas par. (Plin. 10,107).
[16] Brenk 1980, S. 704.
[17] Hooper 1945, S. 162-175.
[18] Martial 1,109,1; 4,14,13-14.