„Zur Erklärung dieser letzten Erzählung füge ich nur hinzu, dass nicht nur sie peinlich, dass vielmehr unsere allgemeine und meine besondere Zeit gleichfalls sehr peinlich war und ist und meine besondere sogar noch länger peinlich als die allgemeine.“1 Mit diesen bedeutungsschweren Worten rechtfertigt Franz Kafka (1883 – 1924) im Oktober 1916 seine Erzählung „In der Strafkolonie“ in einem Brief an Kurt Wolff. Der Schriftsteller reagierte damit auf eine vorangegangene Aussage seines Verlegers, der trotz einer gewissen Begeisterung und Faszination für die Erzählung die Peinlichkeit im Text rügte und aus diesem Grund eine Veröffentlichung des Werks scheute. Unter dieser angesprochenen Peinlichkeit versteht Wolff die auffällig brutalen und sadomasochistischen Schilderungen, die in einer Detailgenauigkeit und Intensität dargeboten werden, die in keinem anderen Werk Kafkas – weder vor noch nach „In der Strafkolonie“ erscheinen sollten. Neben der möglichen Verletzung des zeitgenössischen sittlichen Empfindens unter der Leserschaft liegt ein weiterer Grund für den vorsichtigen Umgang des Verlegers mit dem Werk wohl in einer nicht unbegründeten Angst vor einer drohenden, staatlichen Zensur. Bedenkt man den zeitgeschichtlichen Hintergrund – seit über zwei Jahren tobt der 1.Weltkrieg in Europa – dann werden die beschriebenen Szenen in der Strafkolonie leicht Assoziationen an die Praxis von militärischen Standgerichten erwecken, die die allgemeine Kriegspropaganda jener Zeit durch die im Werk geschilderte Grausamkeit und Brutalität kontrastieren. Schon nach der Fertigstellung des Werkes im Oktober 1914 wurde Kafkas ursprünglicher Plan, die Erzählung zusammen mit „Das Urteil“ und „Die Verwandlung“ unter dem Titel „Strafen“ zu publizieren, mit der Begründung der Unverkäuflichkeit abgelehnt. Dieser Wunsch des Autors, dem nicht stattgegeben wurde, macht schon darauf aufmerksam, dass die zwei 1912 veröffentlichten Erzählungen in einem engen Zusammenhang mit „In der Strafkolonie“ stehen. Ebenso verhält es sich bei „Der Prozess“, an dem Kafka seit Sommer 1914 arbeitet. Seine Schreibtätigkeit daran bricht er Anfang Oktober ab und widmet sich der Arbeit an „In der Strafkolonie“, die er nach zwei Wochen abschließen kann. In allen vier Erzählungen greift Kafka die Strafthematik auf und verarbeitet seine biographisch bedingten Straffantasien, die eng mit seinen Schuldgefühlen zusammenhängen.
Inhaltsverzeichnis
- 0. Einleitung
- 1. Grundzüge des Strafsystems unter der alten Ordnung
- 1.1 Der Stellenwert des Apparats für den Offizier
- 1.2 Vergleich zwischen dem Strafsystem in der Kolonie und Rechtsgrundsätzen in der aufgeklärten Gesellschaft
- 1.3 Die Rolle des Forschungsreisenden: Zwischen Teilnahmslosigkeit, Faszination, Ablehnung und Akzeptanz
- 2. Das Strafsystem in der Epoche des Absolutismus nach Foucault als Analogie zu der alten Ordnung in der Strafkolonie
- 2.1 Das Verfahren als Praxis der Strafe und der Wahrheitsermittlung
- 2.2 Der Körper als Zielobjekt der Strafe
- 2.3 Die peinliche Bestrafung als Demonstration absoluter Macht im öffentlichen Raum
- 3. „Unter der Maschine“: Der Apparat als Symbol für die moderne Disziplinargesellschaft
- 4. Abschließende Bemerkungen
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die Bedeutung von Strafe und Schuld in Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“ im Kontext der Strafsystemanalyse Michel Foucaults. Dabei werden die traditionellen Strafpraktiken der alten Ordnung in der Kolonie mit den historischen und modernen Ansätzen Foucaults verglichen.
- Das Verhältnis von Strafe und Schuld in Kafkas „In der Strafkolonie“
- Der Apparat als Symbol für Macht und Kontrolle
- Der Vergleich des Strafsystems in der Kolonie mit dem absolutistischen System nach Foucault
- Die Transformation des Strafsystems in der modernen Disziplinargesellschaft
- Die Rolle des Forschungsreisenden als Beobachter und Interpret
Zusammenfassung der Kapitel
Kapitel 0: Einleitung
Die Einleitung stellt die Erzählung „In der Strafkolonie“ vor und erklärt den Kontext ihrer Entstehung. Sie beleuchtet Kafkas Interesse an der Strafthematik und deren Verbindung zu seinen persönlichen Erfahrungen.
Kapitel 1: Grundzüge des Strafsystems unter der alten Ordnung
Dieses Kapitel analysiert das Strafsystem in der Strafkolonie, insbesondere die Funktion des Hinrichtungsapparats und dessen Bedeutung für den Offizier. Es werden die Unterschiede zwischen dem Rechtssystem in der Kolonie und den Rechtsgrundsätzen der aufgeklärten Gesellschaft aufgezeigt.
Kapitel 2: Das Strafsystem in der Epoche des Absolutismus nach Foucault als Analogie zu der alten Ordnung in der Strafkolonie
Das Kapitel betrachtet die Strafsystemanalyse Foucaults im Kontext der alten Ordnung in der Strafkolonie. Es werden Analogien zwischen den Verfahren, der Bestrafung und den Machtstrukturen in der Epoche des Absolutismus und in der Strafkolonie aufgezeigt.
Kapitel 3: „Unter der Maschine“: Der Apparat als Symbol für die moderne Disziplinargesellschaft
Dieses Kapitel interpretiert den Apparat als Symbol für die moderne Disziplinargesellschaft. Es wird die Transformation der Strafsysteme vom Absolutismus zur Moderne und deren Folgen für das Individuum in der kapitalistischen Gesellschaft untersucht.
Schlüsselwörter
Schlüsselwörter in dieser Arbeit sind: Franz Kafka, „In der Strafkolonie“, Schuld, Strafe, Macht, Gerechtigkeit, Michel Foucault, Absolutismus, Moderne, Disziplinargesellschaft, Apparat, Körper, Verfahren, Wahrheit, Hinrichtung, Forschungsreisender, Rechtsstaatlichkeit, Humanisierung, politische Ökonomie, Wissen, Kontrolle.
- Quote paper
- Hannes Engl (Author), 2011, Die Bedeutung von Strafe und Schuld in Kafkas "In der Strafkolonie" unter Einbezug der Strafsystemanalyse Foucaults, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/201129