Ein Vergleich zwischen Wissenschaft und Modewelt mag auf den ersten Blick etwas befremdlich wirken, wohlmöglich würden sich viele – vor allem wohl Wissenschaftler – auch gegen einen solchen wehren und sich in ihrer Berufsehre verletzt fühlen, doch zeigen sich verblüffende Gemeinsamkeiten. Die Modewelt ist geprägt von einer ständigen Jagd nach neuen Trends. Alljährlich versuchen sich Modeschaffende an immer neuen Kreationen oder forcieren mit ihren Werken eine bestimmte Stilrichtung. Mal setzt sich ein Trend von den Laufstegen dieser Welt in Boutiquen und Filialen der großen Modeketten durch, mal wird ein neuer Look auf den Straßen der Metropolen aufgegriffen von den Modedesignern. Die Wissenschaft kennt ähnliche Phänomene. Geraden in den Geisteswissenschaften gibt es Phasen, in denen ein Forschungsschwerpunkt eine ganze Reihe von Wissenschaftlern einer Teildisziplin dazu veranlasst, sich diesem Thema zu widmen. Ein zeitlich begrenzter Wissenschaftstrend ist entstanden. Häufig erreicht die wissenschaftliche Debatte nach einer Weile auch die Feuilletons der Tagezeitungen, entwickelt sich zu einer breiten gesellschaftlichen Diskussion und erreicht mitunter sogar den Boulevard. Die Thematik dieser Arbeit widmet sich einem Gegenstand der Geschichtswissenschaft, der genau den anderen Weg gegangen ist. Nicht die wissenschaftliche Diskussion bildete die Grundlage für eine breite öffentliche Auseinandersetzung, sondern ausgehend von einem breiten Diskurs mit vielen Protagonisten haben Historiker das Thema zu einem wissenschaftlichen Forschungsgegenstand gemacht.
Inhaltsverzeichnis
1. Vorwort
2. Thema und Fragestellung
3. Pierre Noras Lieux de mémoire: Was sind Erinnerungsorte?
3.1 Maurice Halbwachs und die Theorie des kollektiven Gedächtnisses
3.2 Verlust der Identität des kollektiven Gedächtnisses – Idee, Methodik und Vorgehen von Nora
4. Deutsche Erinnerungsorte
5. Kritische Reflexion
6. Resümee
7. Literatur- und Quellenverzeichnis
1. Vorwort
Ein Vergleich zwischen Wissenschaft und Modewelt mag auf den ersten Blick etwas befremdlich wirken, wohlmöglich würden sich viele – vor allem wohl Wissenschaftler – auch gegen einen solchen wehren und sich in ihrer Berufsehre verletzt fühlen, doch zeigen sich verblüffende Gemeinsamkeiten. Die Modewelt ist geprägt von einer ständigen Jagd nach neuen Trends. Alljährlich versuchen sich Modeschaffende an immer neuen Kreationen oder forcieren mit ihren Werken eine bestimmte Stilrichtung. Mal setzt sich ein Trend von den Laufstegen dieser Welt in Boutiquen und Filialen der großen Modeketten durch, mal wird ein neuer Look auf den Straßen der Metropolen aufgegriffen von den Modedesignern. Die Wissenschaft kennt ähnliche Phänomene. Geraden in den Geisteswissenschaften gibt es Phasen, in denen ein Forschungsschwerpunkt eine ganze Reihe von Wissenschaftlern einer Teildisziplin dazu veranlasst, sich diesem Thema zu widmen. Ein zeitlich begrenzter Wissenschaftstrend ist entstanden. Häufig erreicht die wissenschaftliche Debatte nach einer Weile auch die Feuilletons der Tagezeitungen, entwickelt sich zu einer breiten gesellschaftlichen Diskussion und erreicht mitunter sogar den Boulevard. Die Thematik dieser Arbeit widmet sich einem Gegenstand der Geschichtswissenschaft, der genau den anderen Weg gegangen ist. Nicht die wissenschaftliche Diskussion bildete die Grundlage für eine breite öffentliche Auseinandersetzung, sondern ausgehend von einem breiten Diskurs mit vielen Protagonisten haben Historiker das Thema zu einem wissenschaftlichen Forschungsgegenstand gemacht.[1]
2. Thema und Fragestellung
Erinnerungskultur lautet das Schlagwort, mit dem sich in jüngerer Vergangenheit zunächst eine breite, generationenübergreifende öffentliche Diskussion beschäftigte und spätestens seit den 1990er Jahren auch eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Publikationen zu diesem Thema veröffentlicht wurden.[2] Wagt man sich an diese Thematik, so muss einem bewusst sein, dass man es mit einem nahezu kategorischen Imperativ zu tun hat. Etienne Francois beschreibt es mit dem Gegenüber vom guten Gedenken und schlechten Vergessen. Das Gedächtnis ist dabei zu einem politischen und ethischen Imperativ erhoben worden, obwohl die Erfahrung lehrt, dass in der Menschheitsgeschichte oftmals das Vergessen der größere Garant für Frieden war, als das Erinnern an vergangene Taten.[3]
Ausgehend von den Überlegungen zum Gedächtnis als Kategorie der Geschichtswissenschaft, umfasst die Thematik Erinnerungskultur viele unterschiedliche Bereiche der Forschung. Ein Versuch, die ganze Bandbreite an theoretischen Ansätzen und Methoden (z.B. oral history) und vor allem die unzähligen Themenfelder darzustellen, übersteigt die Möglichkeiten, welche dem Verfasser dieser Seminararbeit zur Verfügung stehen.[4] Diese Arbeit konzentriert sich daher nur auf einen Forschungsansatz und möchte dessen theoretische Grundlagen darstellen und im Anschluss daran in einer kritischen Diskussion die Vor- und Nachteile des ausgewählten Konzepts darlegen.
Es handelt sich hierbei um das Konzept der Erinnerungsorte[5] (Lieux de mémoire). Diese in den frühen 1980er Jahren von dem französischen Historiker Pierre Nora entwickelte, theoretische Herangehensweise an die Thematik Erinnerung, hat in der Geschichtswissenschaft großen Anklang gefunden. Zunächst nur auf die Geschichte Frankreichs bezogen, verbreitete sich diese neue Art der Geschichtsschreibung schnell auch in anderen europäischen Staaten. Der Nora ’sche Begriff der Erinnerungsorte wurde schnell „in den Rang eines neuen Forschungsparadigmas von universellem Wert erhoben.“[6]
Wie bereits kurz erwähnt soll im Verlauf dieser Arbeit das Konzept Erinnerungsorte in seiner theoretischen Konstruktion dargestellt werden. In einem kurzen Exkurs werden einige Werke, die auf den Annahmen Noras beruhen, vorgestellt. Eine kritische Reflexion des Konzepts Erinnerungsorte wird unter der Leitfrage: Beruht die Idee der Erinnerungsorte nicht zu sehr auf dem klassischen Nationalstaatsgedanken des 19. Jahrhunderts und ist somit heute nicht mehr anwendbar, bzw. zeitgeschichtlich überholt? In einem abschließenden Resümee werden die Ergebnisse zusammengefasst.
3. Pierre Noras Lieux de mémoire : Was sind Erinnerungsorte?
Um sich dem Konzept Noras zu nähern, werden zunächst die theoretischen Anknüpfungspunkte knapp erläutert. In einem zweiten Schritt werden dann die Methodik und die Umsetzung des Konzepts in den Werken Noras betrachtet.
3.1 Maurice Halbwachs und die Theorie des kollektiven Gedächtnisses
Bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts legte der französischen Soziologe, Pädagoge und Philosoph Maurice Halbwachs mit seinem Werk Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen den Grundstein für eine umfassende Theorie des Gedächtnisses im soziologischen, aber durchaus auch historischen Kontext. Über einen langen Zeitraum von Geisteswissenschaftlern relativ unbeachtet, erfuhr sein Werk in jüngerer Vergangenheit (wobei die Publikationen von Pierre Nora eine wichtige Rolle spielen) wieder vermehrt Aufmerksamkeit.[7]
Halbwachs geht bei seinen Überlegungen davon aus, dass die Rekonstruktion der Vergangenheit in der Gegenwart, Grundlage eines jeden Erinnerns ist.[8] Geprägt durch eine soziale Bedingtheit des Erinnerns, schafft sich jedes Individuum seine eigene Erinnerung. Diese sind jedoch nicht auf ewig festgelegt. Bei jedem erneuten Erinnern werden die Bilder neu geschaffen und unterliegen den sich wandelnden, äußeren Umständen.[9] „[D]as Tätigsein des individuellen Gedächtnisses ist letztlich nicht möglich ohne jene Instrumente, die durch Worte und Vorstellungen gebildet werden, die das Individuum nicht erfunden und die es seinem Milieu entliehen hat.“[10]
Von dieser Grundüberlegung ausgehend nähert sich Halbwachs der Idee des kollektiven Gedächtnisses. Im Gegensatz zu den Philosophen des Altertums, meint dabei der Terminus Gedächtnis mehr als bloß die Summe der individuellen Gedächtnisse von Personen.[11] Das kollektive Gedächtnis ist die gemeinsame Gedächtnisleistung einer Gruppe, bildet die Basis für gruppenspezifisches Verhalten und ist „vor allem [eine] soziale und politische, kulturelle und symbolische Wirklichkeit ist.“[12] Im Gegensatz zum individuellen Gedächtnis, sind die Grenzen des kollektiven Gedächtnisses andere. Diese bestehen „nicht nur aus Jahreszahlen, Namen und Formeln, sondern stellen Denk- und Erfahrungsströmungen dar, in denen wir unsere Vergangenheit nur wiederfinden, weil die von ihnen durchzogen worden ist.“[13]
Für Halbwachs ist das kulturelle Gedächtnis keine Gegenposition zum individuellen Gedächtnis, sonder beide sind unabdingbar miteinander in Raum und Zeit verbunden. Jan Assmann griff eben diesen Gedanken in den 90er-Jahren auf und präzisierte das Konzept, indem er dem kollektiven Gedächtnis zwei Unterkategorien zuordnete: das sogenannte Kommunikative Gedächtnis als jene Spielart des kollektiven Gedächtnisses, die ausschließlich auf Alltagskommunikation beruht (meist mündlich, generationenbegrenzt, wenig formal)[14] und das Kulturelle Gedächtnis, welches durch seine Alltagsferne gekennzeichnet ist und in dem schicksalhafte Ereignisse kulturell geformt werden.[15] Assmann begreift das Gedächtnis als eine komplexe und globale Realität, die sich nicht bloß in individuellen und kulturellen Gedächtnissen widerspiegelt, sondern alle Menschen und Gemeinschaften immer und überall umgibt.
Zusammenfassend ist die Erkenntnis, dass die spezifische Prägung des Menschen nicht das alleinige Ergebnis der Evolution ist, sondern dessen Sozialisation und Überlieferung maßgeblich dazu beiträgt.
[...]
[1] Vgl.: Francois, Etienne: Forschungsinnovation, 2009, S. 94.
[2] Vgl.: Cornelißen, Christoph: Erinnerungskultur, 2003, S. 551
[3] Vgl.: Francois, Etienne: Forschungsinnovation, 2009, S. 92. Cornelißen, Christoph: Erinnerungskultur, 2003, S. 548.
[4] Einen recht übersichtlichen und umfassenden Überblick zum Thema Erinnerungskultur bietet: Cornelißen, Christoph: Erinnerungskultur, 2003, S. 548–563.
[5] Wird auch mit Gedächtnisort übersetzt, siehe: Nora, Pierre: Gedächtnis, 1990, S. 7. Im weitern Verlauf der Arbeit werden die Begriffe Erinnerungsorte und lieux de mémoire synonym verwendet.
[6] Francois, Etienne: Forschungsinnovation, 2009, S. 95.
[7] Vgl.: Cornelißen, Christoph: Erinnerungskultur, 2003, S. 552.
[8] Vgl.: Halbwachs, Maurice: Gedächtnis, 1985, S. 125-148.
[9] Halbwachs beschreibt in seinem Werk das Beispiel des Lesens eines Kinderbuchs: „es scheint uns, als ob wir ein neues Buch läsen, oder wenigstens eine veränderte Ausgabe.“, Gedächtnis, 1985, S. 125.
[10] Halbwachs, Maurice: Gedächtnis, 1985, S. 35.
[11] Vgl.: Francois, Etienne: Forschungsinnovation, 2009, S. 91.
[12] Ebd.: S.92.
[13] Halbwachs, Maurice: Gedächtnis, 1985, S. 50.
[14] Vgl.: Assmann, Jan: Identität, 1988, S. 10-11.
[15] Ebd.: S. 12-16.