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Hausarbeit, 2011
16 Seiten
1. Einleitung
2. Metalepsen: eine Definition
3. Erzähltheoretische Analyse zu Rosalie geht sterben
3.1 „Du bist meine Erfindung“: die Unselbstständigkeit der Diegese
3.2 Die Erzählung als eigenständige Welt: Rosalies Veränderung und Auseinandersetzungen zwischen Erzähler und Figur
3.3 die Kapitulation des Erzählers vor der Figur: Realitätsanspruch von extradiegetischer und diegetischer Welt
4. Zusammenfassung
5. Literaturverzeichnis
In der Romanepisode Rosalie geht sterben aus Daniel Kehlmanns Roman Ruhm beschließt die Hauptfigur ihrem unausweichlichen Tod durch Suizid zuvorzukommen, entscheidet sich dann jedoch gegen diesen Schritt und kann den Erzähler schließlich nach mehreren Gesprächen zum Ändern seiner Geschichte und somit zur Verlängerung ihres Lebens bewegen. Jener Erzähler betont von Beginn an mit Reflektionen über das Schreiben und einer Fülle metafiktionaler Verweise die Unwirklichkeit seiner Geschichte und erklärt sie und deren Charaktere wie selbstverständlich zum Produkt seiner mehr oder weniger gewissenhaften Recherchen und Vorstellungskraft. Der Autor lässt seinen omnipräsenten Erzähler den Wirklichkeitsanspruch der Hauptfigur und ihrer Welt mit größter Selbstverständlichkeit für nichtig erklären: Der Narrateur stellt sich als Schriftsteller vor, dessen Figuren und Geschichten recherchiert und erfunden sind. Auch die Hauptfigur Rosalie scheint sich jederzeit ihrer Fiktionalität und der Allmacht des Erzählers über ihre Existenz bewusst zu sein, und erweckt den Anschein, sich sowohl in ihre Rolle als Figur zu fügen, als auch eine davon unabhängige Identität zu besitzen.
Jedoch begehrt Rosalie mehr und mehr gegen den vom Erzähler vorgesehenen Handlungsverlauf auf, indem sie über sich selbst reflektiert, versucht, eigene Entscheidungen zu treffen und so verstärkt einen eigenen Charakter zu entwickeln scheint. Das Aufbäumen der Hauptfigur gegen die Allmacht des Erzählers mündet schließlich zunehmend in Metalepsen, und somit in Brüchen der Grenze zwischen der diegetischen und extradiegetischen Welt. Damit wird der Wirklichkeitsanspruch des Erzählers in Frage gestellt und zugleich der der diegetischen Welt bekräftigt. Die Deutungshoheit des Erzählers über die Narration verliert dieser schließlich durch das Auftauchen einer ihm fremden Person und durch seine Kapitulation gegenüber Rosalies Wünschen.
Der Realitätsanspruch des extradiegetischen und der fiktionale Charakter des diegetischen Universums in Rosalie geht sterben wird durch das Aufbegehren der Hauptfigur, daraus folgenden Metalepsen und schließlich durch das Kapitulieren des Erzählers in Frage gestellt. Diese These wird in der folgenden Erzähltextanalyse untersucht. Da Metalepsen durch das Überqueren der Grenze zwischen dem Erzähler und der erzählten Welt generell die Idee verdeutlichen, die Welt außerhalb der Diegese könne ebenso gut fiktional sein und die Diegese möglicherweise real, scheinen sie das Ringen Rosalies um ihre Realität hervorragend zu illustrieren. Folglich steht am Beginn dieser Arbeit eine knappe Definition dieses narratologischen Phänomens; anschließend wird die Darstellung des Erzählers der Narration als nicht eigenständige Welt, das Aufbegehren Rosalies und letztlich die Kapitulation des Erzählers vor seiner Figur diskutiert.
Zwischen dem extradiegetischen und dem diegetischen Universum liegt laut Gérard Genette eine „bewegliche, aber heilige […] Grenze zwischen zwei Welten; zwischen der, in der man erzählt, und der, von der erzählt wird“.1 Mit dem Ausdruck narrative Metalepse versucht Genette alle Transgressionen zu bezeichnen, welche ein Überschreiten jener Linie des extradiegetischen Erzählers oder auch des narrativen Adressaten in die diegetische Welt oder umgekehrt beinhalten.2 Die Voraussetzung für eine metaleptische Transgression sind laut Bernd Häsner neben einer „systeminternen Ebenendifferenzierung“, also einer „Grenze“ zwischen dem extradiegetischem und diegetischem Universum, auch ein zeitliches „Gefälle“ zwischen discourse und histoire, wobei letztere dem narrativen Akt „notwendig vorgängig“ sein müsse.3 Nur wenn jenes Gefüge „kollabieren“ könne, also vorhanden sei, wäre eine Metalepse möglich.4 Das Ergebnis sei hierbei die Gleichzeitigkeit von narrativem Diskurs, erzähltem Geschehen und Textrezeption,5 und folglich der „logisch und pragmatisch nicht sanktionierte Einsatz des Präsens“.6
Der besondere Effekt, welcher durch das oben beschriebene Niederreißen der „heiligen“ Grenze entsteht, wird von Jorge Luis Borges als „Spiegelung“ beschrieben.7 Gemeint ist hiermit der mögliche Eindruck des Lesers, selbst fiktiv zu sein, wenn „Figuren einer Fiktion auch Leser und Zuschauer“ sein könnten. Aus dieser Überlegung resultiert ebenfalls die Idee, narrativer Adressat und Erzähler seien Teil der Erzählung.8 Häsner wertet metaleptischen Transgressionen als ein „eindeutige[s] Fiktionssignal“ für den Text, in welchem sie vorkommen, da die Übertretung der Grenze zwischen extradiegetischer und diegetischer Welt schlicht zutiefst unlogisch sei.9 Für ihn kollidiere aber vor allem die Möglichkeit, durch Metalepsen „vergangenes Geschehen zu korrigieren“, mit den „Realitätspostulaten“ des modernen Lesers, die somit getrost als weiterer Verweis auf die enorme Fiktionalität eines Textes gewertet werden darf.10
Die Textanalyse muss zugunsten einiger Hintergrundinformationen von Rosalie geht sterben ein letztes Mal verzögert werden. Die Geschichte versteht sich als Episode oder Kapitel eines Romans, und steht durch in diesem und anderen Kapiteln auftauchenden Figuren mit den anderen Geschichten in Verbindung. Der Erzähler im Roman Ruhm ist nicht durchgehend der gleiche, und könnte in Rosalie geht sterben, da er sich selbst als „Schriftsteller“ bezeichnet, auch einer der zwei im Roman vorkommenden Schriftsteller Leo Richter oder Miguel Auristos Blancos sein.11 Letzterer wiederum wird als Anspielung auf Paulo Coelho verstanden,12 und Rosalie geht sterben als Allusion oder Persiflage auf Coelhos Monica decide morrer, da auch dort der Suizid der Hauptfigur im Mittelpunkt steht, beide diesem entkommen können und durch Metalepsen mit dem Erzähler in Beziehung stehen.13 All diese intertextuellen Bezüge können sicherlich der Ausgangspunkt tiefgründiger Untersuchungen sein, gehören hier aber nur genannt, da sie so offensichtlich sind, dass sie Rosalie geht sterben neben anderen sprachlichen Zeichen einen metafiktionalen Charakter verpassen, der, wie im Folgenden gezeigt wird, für die erzähltheoretische Analyse essentiell ist.
Neben den metaleptischen Transgressionen in Rosalie geht sterben fällt vor allem der ausgeprägte metafiktionale Charakter der Erzählung auf. Bereits in Beerholms Vorstellung14 und Ich und Kaminski15 finden sich Elemente der Metafiktion und poetologische Verweise, welche von Volker Wehdeking als „wichtige […] Elemente der Fiktion“ gedeutet werden.16 In dieser Geschichte wird die metafiktionale Beschaffenheit von Kehlmann durch den Erzähler, der Schriftsteller ist, kreiert. Dadurch wird von Beginn an jeder Versuch unterbunden, die Diegese als „reale“ Welt erscheinen zu lassen, und wird stattdessen als unumstößlich fiktiv präsentiert. Der Erzähler ist fast omnipräsent, und ist deshalb und wegen seiner Dialoge mit Rosalie eine fast eigenständige Figur, nach Volker Wehdeking sogar ein „allwissender Autor im Leserdialog“.17 Der narrative Modus ist oft nur schwer von der Präsentation der Gedanken oder Rede Rosalies zu trennen, welche nicht nur offensichtlich vom Erzähler gesteuert wird, sondern in ihre Rolle als Figur gezwängt zu werden scheint.
Gleich am Anfang wird der Leser darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei der Erzählung um eine reine Fiktion handelt: „Von all meinen Figuren ist sie [Rosalie] die klügste“.18 Auch die Recherche für eine Narration wird vom Erzähler, indem er sich an den narrativen Adressaten wendet, beschrieben: Der Schweitzer Sterbehilfeverein existiere tatsächlich,19 ihm als Schriftsteller seien „akribisch recherchiert[e]“ Fakten und Details „egal“,20 Herr Freytag sei „erfunden“21 und seine Erzählung eine „Geschichte“, aus der „man ja durchaus auch etwas lernen“ könne.22 Rosalie, so stellt der Narrateur klar, bestehe ausschließlich „aus Wörtern, aus vagen Bildern und aus ein paar simplen Gedanken, und sie alle gehör[t]en anderen.“23
Der heterodiegetische extradiegetische Erzähler drückt hiermit nicht nur seine Geringschätzung für den Nutzen einer Narration aus, er bemüht sich nicht einmal, die Illusion einer möglicherweise realen Welt zu kreieren und manifestiert den Eindruck, die Diegese sei vollständig von ihm abhängig. Kehlmann lässt auch Rosalie die Fiktivität ihrer Welt bekräftigen: Für sie ist ihr Universum eine „Geschichte“ des Erzählers,24 den sie klar als Schöpfer ihres Daseins anerkennt („Es liegt doch alles in deiner Hand“25 ), sie offenbart Wissen um den Aufbau von Narrationen, welche eine „Wendung“ haben können26 und anscheinend auch eine Instanz, welche diese vielleicht als „gut“ bewertet.27
Neben dieser Überbetonung der Unwirklichkeit der Narration gesteht der Autor seinem Erzähler eine hohe Präsenz zu. Obwohl in der Erzählung eindeutig Rosalie die Fokalisations-instanz ist, nimmt der Erzähler eine mindestens gleichberechtigte Rolle ein. In mehreren Pausen lässt er von der Geschichte ab und wendet sich an den narrativen Adressaten, um seine Haltung zum Erzählen zu reflektieren.28 Das Charakterisieren der Hauptfigur lässt Kehlmann seinen Erzähler dann eher beiläufig erledigen: Rosalie sei, „[w]enn es ums Sterben geht,… schwer zu überraschen“29, habe zuletzt vor „mehr als fünfundzwanzig Jahren“ richtig geschlafen30 und wisse selbst nicht, weshalb sie einen Enkel erfinde, wo sie doch selbst einen „wirklichen“ habe31. Abermals unterstreicht der Autor mit diesen nachlässig wirkenden und schemenhaften Charakterisierungen die mangelnde Wertschätzung, die sein Erzähler der Figur entgegenbringt, und welcher um jeden Preis „das Thema ‚letzter Weg‘ an der Bedauernswerten“ durchexerzieren möchte.32
Zudem ist es recht schwierig, den narrativen Modus und die Präsentation von Worten oder Gedanken Rosalies, also die Äußerungen des Erzählers von denen der Figur, zu trennen. Bis auf einige Analepsen, in denen Kehlmann den Erzähler Hintergrundinformationen zu Rosalies Leben präsentieren lässt, ist die Erzählung im Präsens oder Perfekt gehalten, sodass eine Trennung der Äußerungen von Erzähler und Figur anhand des Tempus von vornherein nicht möglich ist. Dieses Problem wird durch das Ausbleiben von Anführungszeichenen als Markierung der Figurenrede verstärkt. Schließlich sind einige Zeilen schlichtweg nicht eindeutig dem Erzähler oder Rosalie zuzuordnen: „Es schadet nicht, wenn einem Experten helfen“,33 „Wozu sie [Rosalies Töchter] also jetzt belästigen…“34 und „Sie braucht keine [Hilfe], aber warum sollte man etwas Stütze und Freundlichkeit ablehnen?“35 sind nur eine Auswahl an Phrasen, die sowohl als narrativer Modus des vordergründigen Erzählers oder als Gedankenrede der Figur verstanden werden können.36 Kehlmann scheint hier bewusst Ambiguitäten hergestellt zu haben, weshalb angenommen werden darf, dass diese Aussagen sich gar nicht mit Rosalies Ansichten decken.
Überhaupt scheint der Erzähler, welcher sich ja selbst als „Schriftsteller“ bezeichnet, seine Figur in eine Inszenierung oder ein Drehbuch zu zwängen, dessen Umrisse oder „Strukturscharniere“37 schlecht versteckt sind. Rosalies mangelnde Überraschung oder Verzweiflung angesichts ihres nahenden Todes mag als nach mehreren Jahren erworbener Pragmatismus gewertet werden oder als Ausdruck ihrer Resignation angesichts eines festgelegten Handlungsverlaufs. Letztere Interpretation würde erklären, warum es ihr „fast leichtgefallen“ sein muss, sich in ihre Rolle zu fügen.38 Dass sie sich nicht ganz „in ihr Schicksal ergeben“ kann39 oder sich ihre Kehle zuschnürt, beim Gedanken an ihr baldiges Ableben40 oder dass sie dennoch auf eine „Ablehnung“ bei dem Sterbehilfeverein hofft,41 könnte auch darauf hindeuten, dass Rosalie neben den Beschreibungen des Erzählers vom Autor noch andere Empfindungen verliehen bekommen hat. Der Eindruck, Rosalie führe die Rollenanweisungen Kehlmanns Erzählers aus, wird auch dadurch unterstützt, dass sie sich offenbar anstrengen muss, „ein Gefühl von Dankbarkeit zu empfinden“,42 einen Enkel erfindet, und „selbst nicht“ weiß, warum,43 und ihre „eigenen Erinnerungen… sich plötzlich zu persönlich [anfühlen] um sie zu teilen“.44 Ihre Freundinnen und sich selbst beschreibt sie wie die Darsteller eines Stücks, mit „wunderlich geschminkten Gesichter[n],… gezierten Handbewegungen und lächerlichen Kleider[n]“.45 Sie befolgt also Anweisungen der Erzählinstanz, versucht aber, ihre eigene Identität nicht zu verraten.
Das Gespräch mit ihrer Nichte wirkt dann vollends wie der Entwurf eines Drehbuchs. Schon der Dialog über das Telefon offenbart eine Merkwürdigkeit: Lara stellt Rosalie eine Frage, woraufhin letztere keine sprachliche Äußerung tätigt, sondern „nickt“, und erhält dennoch eine Rückmeldung ihrer Nichte.46 In der variablen internen Fokalisierung auf Rosalie und Lara wird außerdem umständlich beschrieben, dass die eine die Gedanken der anderen kenne, deshalb ihre Reaktion erahne, und beide sich folglich so verstellten, dass „kein Widerspruch“ gegen Rosalies Entscheidung möglich sei.47 Die Parallelismen, mit denen dieses Gespräch beschrieben ist, erinnern stark an Regieanweisungen eines Dramas: „Rosalie weiß, daß Lara weiß, […] und Lara weiß, daß Rosalie es weiß“.48 Der hierbei abermals beschworene metafiktionale Charakter der Geschichte wird außerdem durch Begriffe aus der Narratologie („langes Gespräch voller Wiederholungen und gedehnter Pausen“) verstärkt. Dass es in jener Unterhaltung „um das Leben und die Kindheit und Gott und letzte Dinge geht“,49 kann als Persiflage auf jene Literatur verstanden werden, die der Erzähler als „lebensbejahend“ bezeichnet, und ist somit ebenfalls als metafiktionaler Verweis zu werten, der die diegetische Welt als unwirklich erscheinen lassen soll. Schließlich trägt auch das Auftauchen Lara Gaspards, die neben dieser auch noch in drei weiteren Geschichten in Ruhm vorkommt, zur Metafiktionalität der Erzählung bei.50
Die Frage, ob Rosalie sich während der ganzen Erzählung ihrer Fiktionalität bewusst ist, beantwortet J. Alexander Bareis folgendermaßen: In „Passagen interner Fokalisierung“ halte der Erzähler „die Fiktionsillusion aufrecht“, während der metaleptischen Transgressionen sei sich die Hauptfigur zwar ihrer Fiktionalität bewusst, ansonsten sei dieses „Bewusstsein der Fiktionalität“ aber trotz der „illusionsstörenden und metafiktionalen Passagen […] nur im Ansatz vorhanden“; diese These sei ferner nur dann möglich, „wenn man sich diese Sichtweise in einer realistisch erzählten Welt“ vorstelle, in welcher „die Figuren nicht wissen, dass sie Teil einer Fiktion sind“.51 Dieser Annahme steht natürlich die in dieser Arbeit vertretene These entgegen, dass Rosalie sich jederzeit ihrer Fiktionalität bewusst ist, da sie diese ob jener „wiederkehrender Kommentare metanarrativer und metafiktionaler Art“ ja schlecht übersehen kann. Bareis These impliziert eine Figur, die zwischen ihrem Bewusstsein ihrer Fiktionalität und dem Unbewusstsein derselben hin- und herwechselt. Einleuchtender scheint aber die Ansicht, Rosalie wisse permanent um ihre Unwirklichkeit in den Augen des Erzählers, folge in der Diegese zwar dessen Vorgaben, habe aber dennoch die Möglichkeit, eine davon abweichende Identität zu besitzen oder zu entwickeln. Somit ließe sich auch der Drehbuch- oder Inszenierungscharakter der oben angesprochenen Szenen erklären.
Mit der vorliegenden Fülle an metafiktionalen Verweisen und poetologischen Begriffen inszeniert Kehlmann also durch seinen Erzähler das diegetische Universum als unumstößlich fiktiv und ordnet es einem Erzähler unter, der von seiner Präsenz und der Uneigenständigkeit seiner Figuren völlig überzeugt ist.
Entgegen dem durch den Erzähler beschriebenen Handlungsverlauf bittet Rosalie um ihr Leben. Die erste metaleptische Transgression, Rosalies Flehen um ihre Rettung, erfolgt noch sehr zögerlich52 und wird vom Erzähler nicht ernst genommen. Ihre eigentliche Bitte erfährt der Leser zum Teil noch durch den sehr vordergründigen Erzähler („wendet sie sich an mich und bittet um Gnade“)53 und ihre Antragstellerin lässt sich recht schnell entmutigen: „Daraufhin dreht sie sich zur Seite.“54 Der Erzähler scheint über das fundamentale Überbrücken zweier Universen auch nicht wirklich überrascht zu sein, findet fast entschuldigende Worte für Rosalies Fehlverhalten und ihre Schlaflosigkeit („Das ist nichts Außergewöhnliches“) und kürzt seine Wiedergabe der folgenden Zeit mit einer Summary ab („Die nächsten Tage vergehen, als wäre alles wie immer“).55 Schließlich scheint er Rosalies Aufflammen von Eigenständigkeit durch den Rückzug zu Aphorismen vergessen machen zu wollen („Das eben ist Leben, wenn man über siebzig ist: ein Ziehen dort, ein Brennen da“).56
Rosalie hingegen scheint zu beginnen, über ihre Situation nachzudenken, und entblößt eine Identität, welche der durch den Erzähler präsentierten illusionslosen, scheinbar abgeklärten Lehrerin widerspricht. Beim bereits beschriebenen Blick auf die Aufmachung ihrer Freundinnen und sich selbst stellt sie den Realitätsgehalt ihrer Erscheinung in Frage („Sind das wirklich wir?“). Die Anspielung auf Miss Marple als Personifikation der Fiktivität, welche „das Gegenteil der Wirklichkeit verkörpert“, mag verdeutlichen, dass Rosalie sich eben nicht bloß als Bewohnerin einer Diegese wahrnimmt.57 Ihr vom Erzähler präsentiertes Leben entbehrt für sie jeder Realität:
„Das Ganze erscheint ihr plötzlich unwirklich und theatralisch, als wäre es die Geschichte einer anderen, oder als hätte sich jemand das alles ausgedacht“.58
Das „Nachdenken“ ist offensichtlich eine ungewohnte Handlung für Rosalie, da sie „[f]rüher“ nicht „nötig gewesen“ wäre und sie nun am sicheren Überqueren der Straße hindert.59 Dennoch scheint sie sich schnell daran zu gewöhnen: Im Dialog mit dem Reisebüroangestellten bringt sie einen scheinbar gewöhnlichen Gesprächsverlauf durch unerwartete Fragen durcheinander. Nach anfänglicher Resignation („Na gut.“, „Egal“) weicht sie vom Gesprächsthema der Reiseart zögerlich ab („Ist das denn logisch?“) und besteht dann auf ihren Zweifeln („Das ist nicht logisch“).60 Den Ablauf ihrer fiktionalen Welt, vertreten durch den Angestellten, bringt sie mit ihrer Unkonventionalität ins Stocken, wie am Anakoluth „Gnädige Frau...“ und dem Rückzug zum Mantra „Fragen Sie den Computer […] Jeder fragt den Computer, so läuft es!“ zu erkennen ist.61 Abgesehen von diesem Aufbegehren ändert sich auch die Wahrnehmung Rosalies. Die vorherigen Ereignisse in der Diegese wurden in ihrer Präsentation zwar äußerst stark durch Kommentare oder Abschweifungen des Erzählers im narrativen Modus beeinflusst, fokalisiert wurde aber stets über Rosalie. Deren Perzeption ihrer Umgebung fällt zunehmend kritisch aus: Die Eindrücke bei der unfallbedingten Reiseunterbrechung ergeben eine Klimax aus „häßliche[n] Häuser[n]“, einem „greinende[n] Kind“ und einer Mutter, welche „glotzt […], als wäre sie in einen Kothaufen getreten“.62
Rosalies Identitätswandel lässt sich auch an der abnehmenden Distanz der ihr zugeordneten Figurenrede und -gedanken erkennen. Abgesehen von den Metalepsen, in welchen der Autor Rosalie selbstverständlich in autonomer direkter Rede, der geringstmöglichen Distanz zum narrativen Adressaten, sprechen lässt, muss sich letzterer zu Beginn der Geschichte ganz auf den narrativen Modus des Erzählers verlassen oder erfährt von Rosalies Gedanken und Äußerungen aus großer Mittelbarkeit. Gedankenzitate sind am Anfang noch rar gestreut („Warum auch nicht, denkt Rosalie, er könnte sich woanders mehr verdienen“),63 ebenso wie direkte Rede („Der Arzt, sagt Rosalie, habe von wenigen Wochen gesprochen“).64 Dafür überwiegen als Darstellung ihrer Gedankenrede Bewusstseinsberichte (u.a. „Es ist ihr fast leichtgefallen, die Situation zu akzeptieren […] bloß eine kurze Phase des Unglaubens, dann eine Nacht tiefster Traurigkeit und am nächsten Morgen schon die Suche im Internet“).65 Im Laufe der Geschichte und scheinbar parallel zur oben bemerkten Veränderung der Hauptfigur mehren sich aber auch Formen der zitierten Gedanken- und gesprochenen Rede. Hierzu gehören sowohl autonome innere Monologe („Sind das wirklich wir [...] Wie ist das passiert?“)66 und Gedankenzitate („Ihr kommt bald nach, denkt sie“),67 als auch direkte Rede („‚Montag‘, wiederholt Rosalie“)68 und autonome direkte Rede („‚Na gut‘“).69 Mit der Zunahme des dramatischen Modus geht zwangsläufig eine Abnahme der Distanz des narrativen Adressaten zu Rosalies Gedanken und Äußerungen einher, sodass sie vielmehr als eigenständige Figur und unabhängig von den Beschreibungen des Narrateurs erscheint.
Am unmittelbarsten ist Rosalie innerhalb der metaleptischen Transgressionen zu erkennen. Im Gespräch mit dem Erzähler behauptet sie sich als ebenbürtig. Anfangs bittet sie noch zögerlich „um Gnade“,70 doch mit wachsender Angst vor ihrer baldigen Exekution und mit ihrem Identitätswandel begehrt sie gegen ihren Erzähler (oder, aus ihrer Sicht, Schriftsteller) auf und stellt seine Entscheidung und seinen Wirklichkeitsanspruch in Frage. Rosalies Furcht und Erregung spiegelt sich in ihrem veränderten Sprachstil wider, welcher sich immer weiter von einer gehobenen Wortwahl entfernt: Die Argumentation des Erzählers sei „Blödsinn“, sie „pfeife“ auf dessen Geschichte,71 und schließlich solle er sich eben jene „in den Arsch schieben“.72 Neben diesen markigen Entgleisungen versucht sie den Narrateur aber sowohl mit dem Verweis auf seine Macht über ihre Existenz als auch auf mögliche Alternativen des Handlungsverlaufs zum Umdenken zu überreden. Ihr Schicksal sei seine „Geschichte“,73 liege folglich in seiner „Hand“74 und eine Veränderung würde ihn „nichts kosten“;75 die Geschichte könne eine „Wendung“ nehmen76 und „positiv […]“ oder „lebensbejahend“ sein.77 Schließlich zieht sie seinen Anspruch auf Wirklichkeit in Zweifel. Für die Hauptfigur scheint es eine Tatsache zu sein, dass der Erzähler zwar ihr (fiktives) Leben in seinen Händen hält, doch gleichzeitig, früher oder später, das gleiche Schicksal teilen wird. Die Ellipsen „Blödsinn“ und „Gerede“,78 das Ignorieren des Einwurfs des Erzählers zwischen ihre Redeteile durch das Verbinden ihrer Äußerungen („… und dann wirst du betteln wie ich./ Das ist doch etwas anderes!/ Und wirst nicht verstehen…“) sowie die ironisch-spöttischen Nachfragen auf dessen Behauptung, er sei „real“ („Ja?“, „So?“) offenbaren Rosalies unerschütterlichen Glauben in die Fiktivität von Figur und Erzähler. Diese Überzeugung drückt sie auch in der vierten Metalepse aus: Auch dem Erzähler werde, wie ihr, der Anspruch auf Realität aberkannt, und auf seine Beteuerung, „real“ zu sein, dargestellt in der Hendriatis „Persönlichkeit und Gefühle und eine Seele“, wird ihre Verachtung für seine Ansicht durch ihr Lachen ausgedrückt.79
[...]
1 Genette, Gérard: Die Erzählung. München 1998, S.168-169.
2 Genette 1998: 168.
3 Häsner, Bernd: Metalepsen. Zur Genese, Systematik und Funktion transgressiver Erzählweisen. Berlin 2001, S.16.
4 Vgl. Häsner 2001: 16.
5 Vgl. Häsner 2001: 19.
6 Vgl. Häsner 2001: 16.
7 Borges, Jorge Luis: Befragungen. In: Gesammelte Werke. München 1981, S.57.
8 Vgl. Borges 1981: 57.
9 Häsner 2001: 29-30.
10 Häsner 2001: 30.
11 Kehlmann 53.
12 Vgl. Bareis, J. Alexander: „Beschädigte Prosa“ und „Autobiographischer Realismus“. In: Ders./ Frank Thomas Grub (Hrsg.): Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Berlin 2010: 261, sowie Wehdeking, Volker: Judith Hermann, „Alice“, und Daniel Kehlmann, „Ruhm“. Erzählverfahren des postmodernen Minimalismus und Postrealismus. In: Sprachkunst: Beiträge zur Literaturwissenschaft 40 (2009), S. 271.
13 Coelhos, Paulo: Veronika beschließt zu sterben. Zürich 2000.
14 Kehlmann, Daniel: Beerholms Vorstellung. Wien 1997.
15 Kehlmann, Daniel: Ich und Kaminski. Frankfurt (Main) 2003.
16 Wehdeking, Volker 2009: 276.
17 Wehdeking, Volker 2009: 271.
18 Kehlmann, Daniel: Rosalie geht sterben. In: Ders.: Ruhm. Ein Roman in neuen Geschichten. Hamburg 2009, S.51. Aus dieser Ausgabe wird zitiert.
19 Kehlmann 52.
20 Kehlmann 53.
21 Kehlmann 53.
22 Kehlmann 52.
23 Kehlmann 72.
24 Kehlmann 55.
25 Kehlmann 64.
26 Kehlmann 55.
27 Kehlmann 64.
28 Kehlmann 52, 53, 74, 76-77.
29 Kehlmann 52.
30 Kehlmann 55.
31 Kehlmann 57.
32 Wehdeking 2009: 272.
33 Kehlmann 53.
34 Kehlmann 56.
35 Kehlmann 65.
36 Alle Zeilen könnten Gedanken Rosalies sein, zur eindeutigen Zuordnung fehlen oft nur ein verbum dicendi (für Inneren Monolog), verbum sentiendi (für Gedankenzitate) oder beide in der dritten Person Indikativ Präteritum bzw. Plusquamperfekt (für erlebte Gedankenrede).
37 Wehdeking 2009: 273.
38 Kehlmann 52.
39 Kehlmann 52.
40 Kehlmann 57.
41 Kehlmann 59.
42 Kehlmann 54.
43 Kehlmann 56.
44 Kehlmann 56.
45 Kehlmann 57.
46 Kehlmann 62.
47 Kehlmann 63.
48 Kehlmann 63.
49 Kehlmann 63.
50 Lara Gaspard taucht weiterhin in In Gefahr, Ein Beitrag zur Debatte und in der letzten Geschichte des Buchs, ebenfalls In Gefahr genannt, auf.
51 Bareis, J. Alexander 2010: 258-259.
52 Kehlmann 55.
53 Kehlmann 55.
54 Kehlmann 55.
55 Kehlmann 55.
56 Kehlmann 55.
57 Kehlmann 57.
58 Kehlmann 62.
59 Kehlmann 58.
60 Kehlmann 60.
61 Kehlmann 61.
62 Kehlmann 67.
63 Kehlmann 54.
64 Kehlmann 54, außerdem „‚Tommi spielt viel Räuber und Gendarm‘, sagt Rosalie“, 56.
65 Kehlmann 52, außerdem „Sie beschließt, ihren Töchtern nichts zu sagen“, 55, und „Auch weiß sie nicht, ob Kinder heute noch Räuber und Gendarm spielen, es scheint ihr anachronistisch“, 57.
66 Kehlmann 57.
67 Kehlmann 58, außerdem „Diesmal, nimmt sich Rosalie vor, wird sie gewiss nicht einschlafen“, 67 und „Egal wie das Leben war, denkt sie, am Ende steht immer Entsetzen“, 73.
68 Kehlmann 60, außerdem „‚Ja‘, sagt sie. ‚Alles‘“, 58.
69 Kehlmann 60, außerdem „‚Ich möchte nicht zurück‘“ und „‚Also, ich nehme den einfachen Flug‘“, 60-61.
70 Kehlmann 55.
71 Kehlmann 64.
72 Kehlmann 72.
73 Kehlmann 55, 70.
74 Kehlmann 64.
75 Kehlmann 70.
76 Kehlmann 55, 66
77 Kehlmann 66.
78 Kehlmann 64.
79 Kehlmann 72.