Die Arbeit entfaltet aus der Interpretation einzelner Dramen eine Theorie des Dramas der Aufklärung. Betrachtet werden u.a. Gottsched, Sterbender Cato - Agis, König von Sparta; Lillo, London Merchant¸ Leisewitz, Julius von Tarent. Außerdem wird die einschlägige zeitgenössische Dramentheorie kritisch referiert.
Inhaltsverzeichnis
- Trauerspiel im Barock - doppelte Schematik von transmundaner Metaphysik und mundaner Ontologie - Wandel vom 17. ins 18. Jahrhundert - Gottscheds Reform als Poetologe und als Poet Wiederspruch von theoretischem Selbstverständnis und semantischer Potentialität der Texte: Sterbender Cato (1732) - Agis, König von Sparta (1745).
- Gegenwart auf der Bühne (J.E. Schlegel, 1747) - G. Lillo, London Merchant, deutsch von Bassewitz 1757 - Versittlichung der Tragödie: Schuld vs. Schicksal - J.M.R. Lenz - Kierkegaard, Valdastri - Könige als Menschen (Lessing) - Geschichte und Poesie - Bürgerliches Trauerspiel als Ausdruck bürgerlichen Klassenbewußtseins - Selbst-vs. Fremdbestimmung - Privatsphäre (häusliche Begebenheiten als Thema) - Verbindung zur Gesellschaft - Adel als Vorbild und Gegner - Bedeutung des bürgerlichen Dramas für Schiller.
- Julius von Tarent (J.A. Leisewitz) als Toposkatalog Schillers - Räuber, Karlos, Stuart, Braut-Präfigurationen - der patriarchalische Vater und Fürst - Recht der Erstgeburt und Feindschaft der Brüder - Affektstruktur und Gesellschaft der empfindsame Erbprinz - Erziehung zu politischem Leben Tod des Absolutismus Brudermord und Vatergericht Tragikkonzept - Zerstörung und Versöhnung - Rolle des Todes - Zentrale tragische Parameter.
- Endzweck der Trauerspiele (J.E. Schlegel): Verbesserung - Bilder der sittlichen Natur (H.W. v. Gerstenberg) - Gemälde der menschlichen Gesellschaft (Lenz) - Kopie der wirklichen Welt (Schiller) - Schaubühne als Form öffentlicher Verständigung - Gegen Gerichtsbarkeit der Bühne Wirklichkeit und Wahrheit Entfernung Nachahmung - Stilisierung - Bedeutung Shakespeares: Befreiung vom Regelzwang des Klassizismus - konstitutionelle Monarchie - Goethes Shakespeare Rede: Freiheit des Subjekts und notwendiger Gang des Ganzen - Nemesis.
- Schillers Dramen sind als Dichtungen poetischer Ausdruck der unsversalhistorischen Konstellation am Ausgang des aufklärenden Jahrhunderts. Was das konkret heißt, müssen die Einzelanalysen von Dramen zeigen. Beleginteresse dieses Kapitels ist anderes. Insofern als Schiller primär Dramatiker und, im Unterschied zu Goethe, dem kaum eine Tragödie zu schreiben gelang', Trauerspieldichter ist², bleibt die Rolle des Dramas, speziell des tragischen, im 18. Jahrhundert und besonders an dessen Ende zu betrachten.
- Im ersten Angang ließe sich vermuten, daß Trauerspiele mit dem Barock ausgestorben seien. Das 17. Jahrhundert war, was das Bewußtsein der Alltagswelt angeht, zentral von den Erfahrungen des großen Krieges bestimmt, der Deutschland weithin zerstört hatte. Wer die Dichtungen des Schlesiers Gryphius zu lesen nicht für unwichtig erachtet, weiß das. Diese Erfahrungen haben sich in einem set von Begriffen sedimentiert, das man gemeinhin christlich-stoische Weltauffassung nennt. Hierher gehört die Gewißheit der Vanitas mundi, der prinzipiellen Leerheit dieser Welt, die nur Leid bringt, deren Freuden Betrug oder Versuchung sind. Der Mensch muß sie, gestärkt von dem unerschütterlichen Glauben an die Frohe Botschaft, negieren, überwinden. Beständigkeit im Leid, Großmut, Bewußtsein des Glückwechsels (fortuna-providentia-Gewißheit), (trotz allem aber ist alles in des liebenden Gottes Hand) usf. sind Parameter eines barocken Tugendsystems, das in Dichtung vielfältig veranschaulicht wurde.
- Wobei die Probleme bei genauem Hinsehen freilich erst kommen. Seltsamerweise läßt sich jenes Sein, dem es in seinem Sein um das Sein selbst geht, mit diesen Ideologemen nicht ruhigstellen. Auch Grimmelshausens Simplex, der der Welt zunächst adieu gesagt und sich in die Einsiedelei zurückgezogen hatte, in die christliche Askese aus bitterer Lebenserfahrung, hält es dort nicht allzu lange aus und beginnt aufs Neue, in der Welt zu leben.³ So ist das barocke Bewußtsein in der Tat antithetisch strukturiert, ganz wie jener Vers, den es in seinen Dichtungen bevorzugt: Wer schöne Rosen sieht, sieht Dornen nur dabei. Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein.
- Nicht versöhnt hat es die christlich-stoische Anthropologie, die in transmundanen Regionen ihr telos findet, mit Tendenzen, die sich damit nicht zufrieden geben, an einer mundanen Ontologie arbeiten, die den lieben Gott als abstrakten Grenzbegriff allenfalls will gelten lassen. Noch immer ist lesbar, was W. Dilthey formulierte, um den Wandel aus dem 17. ins 18. Jahrhundert zu beschreiben: Das Bewußtsein erhob sich, daß die Vernunft des Menschengeschlechtes eine Einheit bilde, welche durch das Zusammenwirken der einzelnen Forscher [indefinite community of investigators heißt es später bei Ch. S. Peirce] ihr Werk vollbringt und in der fortschreitenden Erkenntis der Gesetzmäßigkeiten des Wirklichen die Herrschaft über die Erde erringen wird. So finden wir am Beginn des 18. Jahrhunderts die Menschen erfüllt von dem Gedanken eines gesetzmäßigen Fortschrittes im Menschengeschlecht. Das furchtbare Gefühl der Unstetigkeit menschlichen Tuns, das immer neu in den einzelnen Menschen, Zeitaltern und Völkern anzusetzen scheint, dies Gefühl eines ständigen Kreislaufs von Geburt, Wachstum und Untergang in Individuen und Völkern erfüllte alles Dichten und Denken der alten Welt; auf der Höhe der griechischen Kultur, in diesen von Tempeln, Statuen und dem Klange der Chorlieder erfüllten Städten hat der Mensch das tragische Gefühl von Unbeständigkeit und Ziellosigkeit seines Lebens nie zu überwinden vermocht: nun erst, am Beginn des 18. Jahrhunderts, findet er in dem Fortschreiten der Menschheit, dem Weltbesten entgegen, ein Ziel, das nicht in Eingebungen von Propheten und in Gottesgesandtschaften oder in den Gesichtern der Dichter, sondern in erweisbarer Erkenntnis gegeben ist. Es war wie eine neue Religion. Nun sind das pauschale Kennzeichnungen, die da und dort der Differenzierung bedürfen;³ sie bleiben aber als Tendenzcharakterisierungen richtig.
- Die nicht versöhnte Antithetik, die doppelte Semantik, so ließe sich behaupten, treibt den geschichtlichen Prozeß weiter voran. Zu untersuchen bleibt, welche Rolle das Drama in diesen Bewegungen spielte. Zunächst scheint es zurückzutreten, Romane erscheinen, Lyrik wird wichtig; das Theater lebt als Hof-, Schul- und Wanderbühne, der Harlekin, d. i. der Klamauk, triumphiert Lessing hat das im 17. Literaturbrief beschrieben: Als die Neuberin [1697 - 1760, Schauspielerin und Theaterdirektorin] blühte, und so mancher den Beruf fühlte, sich um sie und die Bühne verdient zu machen, sah es freilich mit unserer dramatischen Poesie sehr elend aus. Man kannte keine Regeln; man bekümmerte sich um keine Muster. Unsre Staats- und He I denaktionen waren voller Unsinn, Bombast, Schmutz und Pöbelwitz. Unsre Lustspie I e bestanden in Verkleidungen und Zaubereien; und Prügel waren die witzigsten Einfälle derselben. Gottscheds Reform wird nötig. Er bringt Ordnung, legt Aristoteles rigide aus (Ständeklausel, drei Einheiten), empfiehlt die französischen Klassizisten ganz im Sinne der Absolutismus-Theoretiker, die im Frankreich Ludwigs XIV. das große Vorbild sahen.
- Immerhin tradiert er damit eine, wenn auch durch seinen rationalistischen Standpunkt bornierte Vorstellung von der Tragödie. Nicht mehr voll zustimmen wird man der Schärfe von Lessings Verurteilung: Seine vermeinten Verbesserungen betreffen entweder entbehrliche Kleinigkeiten, oder sind wahre Verschlimmerungen. Er hätte aus unsern alten dramatischen Stücken, welche er vertrieb, hinlänglich abmerken können, daß wir mehr in den Geschmack der Engländer, als der Franzosen einschlagen; daß wir in unsern Trauerspielen mehr sehen und denken wollen, als uns das furchtsame französische Trauerspiel zu sehen und zu denken gibt; daß das Große, das Schreckliche, das Melancholische besser auf uns wirkt als aas Artige, das Zärtliche, das Verliebte; daß uns die große Einfalt sehr ermüde, als die zu große Verwickelung etc. Er hätte also auf dieser Spur bleiben sollen, und sie würde ihn geraden Weges auf das englische Theater geführet haben.
- Man kann Lessing deshalb nicht mehr voll zustimmen, weil er Gottsched nur als klassizistischen Poetologen sieht, nicht aber bereit ist, die Semantik seiner Stücke auseinanderzunehmen. Gottscheds immer wieder kritisierte Beschreibungen in normativer und praktischer Absicht: er wollte nicht nur vorschreiben, wie Dichtung auszusehen hat, sondern auch zu deren Verfertigung befähigen, erreicht nicht die Dimensionalität seiner Stücke. Sowohl im Sterbenden Cato (1732) wie in Agis, König von Sparta (1745) übertrifft der Text weit, was der Autor an moralischer Absicht in ihn zu legen glaubte. Cato wird zwar noch ganz barock als Muster der stoischen Standhaftigkeit, gleichzeitig aber als Muster ... der patriotischen Liebe zur Freiheit begriffen. Er begeht Selbstmord, weil Cäsar dabei ist, sich zum Kaiser zu machen und das ist schon der ganze Inhalt des Stückes, das sich selbst als Muster poetologischer Regeln versteht und weitgehend aus dem Französischen und Englischen übersetzt ist.
- Regiert ein einzig Haupt das große Rom allein, So wollen wir mit Lust daraus verbannet sein, (V. 841 f.) versichert Cato. Mein Schicksal heißt: Sei frei! (V. 945) Cato versteht sich tatsächlich als Verfechter einer freien Republik¹º: Laẞ Rom in Freiheit stehen und Rat und Volk regieren! (V 988) Verbesserung der deutschen Schaubühne ist für Gottsched bewußt¹ Anpassung an das französische Regeltheater, an die vermeintlich richtig beerbte Poetik des Stagiriten. Weil diese Reform der Form sich aber inhaltlich konkretisieren muß, kann ein Cato auf der Bühne den Haß gegen das monarchische Regiment, den Haß wider die Tyrannei, die edle ... Liebe zur Freiheit verkünden. Er wird in dem Stück als der tugendhafteste Mann und vollkommenste Bürger einer freien Republik.. vorgestellt¹³.
- Gottsched wehrt sich gegen den Vorwurf, daß Cäsar und Cato gleich groß dargestellt werden.14 (14) Ein Poet soll freilich der Hauptperson seiner Fabel einen merklichen Vorzug vor allem übrigen geben und die Zuschauer dergestalt vor dieselbe einzunehmen suchen¹, damit ihr Fall auch entsprechende Wirkung: Jammer und Schrecken, hervorruft Ich muß mich also mit Gründen schützen und erweisen, daß Cato in meinem Trauerspiele weit größer als Cäsar 16. Größer ist, in Gottscheds (borniertem) Selbstbewußtsein, der stoisch-standhafte Weise; in der Semantik des Textes aber der Republikaner. Kl. Ziegler¹ hat in dem Artikel über das Deutsche Drama der Neuzeit in der Deutschen Philologie im Aufriß darauf hingewiesen, daß im Cato politisch-republikanisches Freiheitspathos stecke, im Agis, König von Sparta sieht er soziaireformatorisches oder gar soziairevolutionäres Ethos, eine Erörterung ökonomischer Besitz- und Vermögensverhältnisse¹8 Das ist 1960 von einem bürgerlichen Ordinarius geschrieben, als marxistische Ansätze in der BRD nicht viel galten. Tatsächlich ist das, worauf Ziegler hinweist, nicht zu übersehen. Verifiziert wird vom Poetologen im Agis ein Stück spartanischer Geschichte anhand von Plutarchs ßɩɩ napaλλɛhoi (Parallellebensläufen)." Bemerkenswert ist dieses Datum in einem Schillerbuch, weil der Räuber Karl bekanntlich ausruft (in 1, 2): Mir ekelt vor diesem Tintengleksenden Sekulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von grossen Menschen. Hier wird in der Identifikation mit bestimmten Geschichten eine Kontinuität im 18. Jahrhundert deutlich, die jenseits literaturhistorischer Schubladen wie Frühaufklärung (Gottsched) und später Sturm und Drang (der frühe Schiller) auf gemeinsame Interessen hinweist. Es geht nicht allein und abstrakt, wie eine starke Deutungsfraktion will, um große Menschen 20: es geht auch um das, was die Größe dieser Helden konkret ausmacht, den Kampf für die Freiheit, der in Gottscheds Lebenszeit nicht wirklich geführt werden konnte und deshalb nur in der Fiktion, im Drama, stattfindet.
- Sicher ist es bei Gottsched noch wie im Barock stoische Ethik. Agis sieht unsers Staats Verfall, weil von allen Seiten die faule Weichlichkeit, die Wollust und der Pracht wachsen.21 Er wendet sich christlich moralisierend gegen eine der Hauptsünden: luxuria. Das Schwelgen hat zu, die Tugend abgenommen. 22 Diagnostiziert wird Herrschaft als brutal unterdrückende; Agis will Der armen Bürger Noth und Ungemach zerstreuen, Dem Reichen Einhalt thun, der alles unterdrückt, Was arm und elend ist. (V. 86 f) Das Motiv der Befreiung zieht quer durch das Stück; erinnert wird athenische Geschichte, Solon habe Den Pöbel von dem Joch der Mächtigen befreyen (V. 531)23 wollen. Was immer der historische Solon wirklich wollte: für die Semantik des Dramas ist zentral, was der Autor von ihm behauptet.
- Fazit
- Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit befasst sich mit der Entwicklung des Dramas im 18. Jahrhundert, insbesondere im Hinblick auf Friedrich Schiller und seine Interpretation des Dramas "Der versöhnte Menschenfeind". Ausgehend von der Analyse einzelner Dramen entwickelt die Arbeit eine Theorie des Dramas der Aufklärung.
- Die Rolle des Dramas in der Aufklärung
- Die Entwicklung des Trauerspiels vom Barock zur Aufklärung
- Die Bedeutung des bürgerlichen Dramas für Schiller
- Die Bedeutung von Freiheit und Selbstbestimmung im Drama
- Die Beziehung zwischen Geschichte und Poesie
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel beleuchtet die Entwicklung des Trauerspiels vom Barock zur Aufklärung. Es werden die zentralen Merkmale des barocken Trauerspiels, wie die doppelte Schematik von transmundaner Metaphysik und mundaner Ontologie, sowie die Reformbemühungen Gottscheds im 18. Jahrhundert diskutiert. Anhand der Dramen "Sterbender Cato" und "Agis, König von Sparta" wird der Widerspruch zwischen Gottscheds theoretischem Selbstverständnis und der semantischen Potentialität seiner Texte untersucht.
Das zweite Kapitel befasst sich mit der Versittlichung der Tragödie im 18. Jahrhundert. Es werden die Werke von J.E. Schlegel, G. Lillo, J.M.R. Lenz und Lessing analysiert, um die Entwicklung des bürgerlichen Trauerspiels als Ausdruck des bürgerlichen Klassenbewußtseins zu beleuchten. Themen wie Schuld vs. Schicksal, Selbst-vs. Fremdbestimmung und die Bedeutung der Privatsphäre werden in diesem Zusammenhang diskutiert.
Das dritte Kapitel untersucht das Drama "Julius von Tarent" von J.A. Leisewitz als Toposkatalog für Schillers Dramen. Es werden die zentralen Themen des Dramas, wie der patriarchalische Vater, das Recht der Erstgeburt, die Feindschaft der Brüder und die Affektstruktur der Gesellschaft, in Bezug auf Schillers Werke wie "Die Räuber", "Don Karlos" und "Kabale und Liebe" analysiert.
Das vierte Kapitel befasst sich mit dem Endzweck der Trauerspiele im 18. Jahrhundert. Es werden die unterschiedlichen Auffassungen von Schlegel, Gerstenberg, Lenz und Schiller zum Zweck des Dramas diskutiert. Die Bedeutung der Schaubühne als Form öffentlicher Verständigung und die Rolle Shakespeares als Befreier vom Regelzwang des Klassizismus werden ebenfalls beleuchtet.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen das Drama im 18. Jahrhundert, die Aufklärung, das Trauerspiel, Friedrich Schiller, "Der versöhnte Menschenfeind", Gottsched, "Sterbender Cato", "Agis, König von Sparta", Bürgerliches Trauerspiel, Freiheit, Selbstbestimmung, Geschichte und Poesie.
- Quote paper
- Prof. Dr. Erwin Leibfried (Author), 1985, Drama im 18. Jahrhundert, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/184845