Einleitung
Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen:
Seht die Wohnung Gottes unter den Menschen!
Offb 21,3
1.1 Im Anfang war ein Wort …
„Da wohnt der Gott“. Mit diesen Worten kommentierte ein Schüler den Besuch der Kirche St. Maria in den Benden in Düsseldorf-Wersten. Er probte dort mit seiner Klasse, einer Mittelstufe der Schule für Geistigbehinderte, ein Krippenspiel für den Schulgottesdienst.
Seine Worte spiegeln nicht nur seine religiöse Sozialisation – er war in diesem Jahr Kommunionkind –, sondern geben auch etwas von der Ahnung wieder, die er von der Bedeutung dieses Raumes hatte. Er stellt sich damit unbewusst in die Tradition eines Gedankens, der sich durch die Geschichte der menschlichen Religiosität zieht: den Gedanken räumlicher Gottesnähe.
Antike Kultstätten befanden sich bevorzugt an exponierten Naturschauplätzen wie einem Berg oder einer Quelle. Es handelte sich um Orte, an denen sich wie im ersten Fall Himmel und Erde berühren oder wie im zweiten Fall das Wirken göttlicher Kräfte sichtbar wurde.
Diese Stätten wurden baulich markiert und zu Heiligen Bezirken ausgestaltet, an denen die Erscheinung Gottes festgehalten werden sollte. Ein Bauwerk wird so zum Zeichen der Gegenwart Gottes (vgl. RICHTER 22001c). Auch die Bibel kennt das Motiv des räumlichen
Wohnens Gottes. Beispielhaft seien hier die Bundeslade Israels oder der Tempelbau des Königs Salomo genannt. Als gläubiger Jude besuchte auch Jesus den Tempel, hebt aber dessen Bedeutung auf, indem er auf sich selbst als Tempel, als Wohnstätte Gottes hinweist
(Jo 2,19f.). Die Gemeinde bzw. die Kirche, die nach seinem Tod sein Gedächtnis bewahrt, wird ebenso wie er mit „Gottes Tempel“ identifiziert (1 Kor 3,16).
Wie aber verläuft die Verbindungslinie von der Hausgemeinschaft der Urgemeinde zu dem 1959 eingeweihten modernen Kirchenbau in Düsseldorf? Ein kurzer Blick in die Geschichte des christlichen Kirchenbaus macht deutlich, welche unterschiedlichen Konzepte jeweils mit dem Wort Kirche (von gr. Kyriakon – das dem Herrn gehörende [Haus] ) bezeichnet
wurden. Denn: „Selbstverständlich beeinflussen die Veränderungen im Gottes-, Menschenund Weltbild zwangsläufig auch das Verständnis des kirchlichen Raumes.“ (RICHTER 22001a, 10).*
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*Selbstverständlich können diese Schlaglichter dem komplexen Thema nicht gerecht werden. Sie dienen lediglich der Illustration der unterschiedlichen theologischen Konzepte und dem Nachweis einer Entwicklung
Inhalt
1. Einleitung
1.1 Im Anfang war ein Wort
1.2 Röhrigs Basiskomponenten
1.3 Lehrerfunktionen
2. Grundlegung
2.1 Kirchenpädagogik
2.2 Richtlinien
2.3 Grundlagenplan
2.4 Schulprogramm
3. Die Lerngruppe und ihr Religionsunterricht
3.1 Lernvoraussetzungen
3.2 Vorbereitung der Kirchenerkundung im Unterricht
4. Die Kirche St. Maria in den Benden
4.1 Die Gemeinde
4.2 Der Kirchenbau und sein theologisches Konzept
5. „Wir erkunden eine Kirche“
5.1 Rahmenbedingungen
5.2 Methodisch-didaktische Überlegungen
5.3 Ein Vormittag in der Kirche – geplantes Vorgehen
6. Reflexion
6.1 Anmerkungen zur Durchführung
6.2 Highlights, Problemfelder und Perspektiven
7. Anhang
8. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht die Wohnung Gottes unter den Menschen!
Offb 21,3
1.1 Im Anfang war ein Wort …
„Da wohnt der Gott“. Mit diesen Worten kommentierte ein Schüler den Besuch der Kirche St. Maria in den Benden in Düsseldorf-Wersten. Er probte dort mit seiner Klasse, einer Mittelstufe der Schule für Geistigbehinderte, ein Krippenspiel für den Schulgottesdienst. Seine Worte spiegeln nicht nur seine religiöse Sozialisation – er war in diesem Jahr Kommunionkind –, sondern geben auch etwas von der Ahnung wieder, die er von der Bedeutung dieses Raumes hatte. Er stellt sich damit unbewusst in die Tradition eines Gedankens, der sich durch die Geschichte der menschlichen Religiosität zieht: den Gedanken räumlicher Gottesnähe.
Antike Kultstätten befanden sich bevorzugt an exponierten Naturschauplätzen wie einem Berg oder einer Quelle. Es handelte sich um Orte, an denen sich wie im ersten Fall Himmel und Erde berühren oder wie im zweiten Fall das Wirken göttlicher Kräfte sichtbar wurde. Diese Stätten wurden baulich markiert und zu Heiligen Bezirken ausgestaltet, an denen die Erscheinung Gottes festgehalten werden sollte. Ein Bauwerk wird so zum Zeichen der Gegenwart Gottes (vgl. Richter 22001c). Auch die Bibel kennt das Motiv des räumlichen Wohnens Gottes. Beispielhaft seien hier die Bundeslade Israels oder der Tempelbau des Königs Salomo genannt. Als gläubiger Jude besuchte auch Jesus den Tempel, hebt aber dessen Bedeutung auf, indem er auf sich selbst als Tempel, als Wohnstätte Gottes hinweist (Jo 2,19f.). Die Gemeinde bzw. die Kirche, die nach seinem Tod sein Gedächtnis bewahrt, wird ebenso wie er mit „Gottes Tempel“ identifiziert (1 Kor 3,16).
Wie aber verläuft die Verbindungslinie von der Hausgemeinschaft der Urgemeinde zu dem 1959 eingeweihten modernen Kirchenbau in Düsseldorf? Ein kurzer Blick in die Geschichte des christlichen Kirchenbaus macht deutlich, welche unterschiedlichen Konzepte jeweils mit dem Wort Kirche (von gr. Kyriakon – das dem Herrn gehörende [Haus] ) bezeichnet wurden. Denn: „Selbstverständlich beeinflussen die Veränderungen im Gottes-, Menschen- und Weltbild zwangsläufig auch das Verständnis des kirchlichen Raumes.“ (Richter 22001a, 10).*
Die Versammlungen der Urgemeinde fanden in den Häusern der Gläubigen selbst statt. Ganz nach dem Wort ihres Herrn (Mt 18,20) ist er dort gegenwärtig, wo sich „zwei oder drei“ in seinem Namen versammeln. Nach der Konstantinischen Wende werden repräsentative Bauten nach dem Vorbild kaiserlicher Basiliken errichtet, an denen die Überlegenheit des Christentums sichtbar werden soll. Der Raum mit seiner prächtigen Ausstattung nimmt bereits den Gedanken des Himmlischen Jerusalem auf, der in der Gotik zum bestimmenden Leitbild wird, und sieht besondere Orte für bestimmte Elemente des Gottesdienstes vor.
Die an Burgen erinnernden Bauten der romanischen Epoche versinnbildlichen die Geborgenheit eines schützenden Raumes. Der romanische Kirchenraum macht den zunehmenden Unterschied zwischen dem Kirchenvolk und dem Klerus deutlich, der allein am erhöhten Altar steht und das Messopfer darbringt. Die Gotik schließlich macht aus der Kirchenburg einen ganz und gar überirdischen Raum, eine Stadt des Lichts, das Sinnbild der ewigen Himmelsstadt. Die reiche Ausstattung mit Bildern (u.a. mit einer deutlichen Verschiebung vom Evangelium zu Heiligengeschichten) dient gleichzeit der Belehrung der Illiterates, des großen Teils der Menschen, der des Lesens nicht mächtig war. Die Verehrung der aufbewahrten Eucharistie setzt in dieser Epoche ein.
In der Zeit der Reformation wird die bis heute spürbare unterschiedliche Akzentsetzung in evangelischen und katholischen Kirchen grundgelegt. Die Hinwendung der Reformatoren zur Schrift (sola scriptura) fordert einen nüchternen Versammlungsraum, der sich auf Gebet, Lesung und Predigt konzentriert. Gleichwohl konstatiert Luther, dass es „die Schwachen, der Bilder Bedürftigen“ (Grethlein 1998, 26) gebe.
Als letzte für diese Arbeit relevante Wendung möchte ich abschließend auf die liturgische Bewegung im 20. Jahrhundert hinweisen, deren Anliegen es war, die gemeinsame Feier aller Gläubigen zur Maxime des Kirchenbaus zu machen. Diese Gedanken nahm schließlich das auch das II. Vaticanum in seine Dokumente auf, wie später noch zu zeigen sein wird. Mit der liturgischen Bewegung schließt sich der Kreis zur Feier der Urgemeinde.
Wie aber ist vor dem Hintergrund historischer Architektur und Theologie der Gedanke räumlicher Gottesnähe Kindern heute erklärbar? In einem Kinderkirchenführer heißt es: „In diesem großen Haus wohnt Gott. Hier will er uns besonders nahe sein.“ (Abeln 1997, 5) Oder: „In dem Tabernakel wohnt Jesus selbst.“ (ebda., 13). Dagegen stelle ich ein Zitat aus der Bibel: „Wohnt denn Gott wirklich auf der Erde? Siehe, selbst der Himmel und die Himmel der Himmel fassen dich nicht, wieviel weniger dieses Haus, das ich gebaut habe.“ (1 Kön 8,27)
Goecke-Seischab und Harz geben in ihrem Praxisbuch explizit Antwort auf die Frage „Wohnt Gott in der Kirche?“ (2001, 17f.). Sie gehen von dem Gedanken aus, dass Häuser zum Bewohnen da sind. (Ironischerweise hängt an der Außenwand von St. Maria in den Benden eine große Hausnummer.) Allerdings wohne Gott nicht selbst in der Kirche, es gebe dort vielmehr Dinge, „die in besonderer Weise an Gott und den christlichen Glauben erinnern, z.B. das Kreuz, Figuren und Bilder“. Eine Kirche sie eine Einladung an Gott zu denken. Da sie von Menschen erbaut sei, brauche man keine Scheu haben, sie zu besuchen und zu erkunden. Soeffner drückt diese kindgemäßen Gedanken auf der Ebene der Erwachsenen aus, wenn er sagt, dass sich in Kirchen „symbolisierte Geschichte(n) und Erfahrungsgeschichte(n) häuslich gemacht“ haben (1998, 49 ).
Als wesentlich für die Schüler der Mittelstufe 2 halte ich den Gedanken „Die Kirche ist das Haus Gottes, in dem sich die Menschen versammeln, um Gott zu loben, ihm zu danken und ihn zu bitten.“ (Abeln 1997, 4). Dabei soll der Raum mit seiner besonderen Einrichtung, die an Gott erinnern soll, helfen. Gerade für eine Klasse der Schule für Geistigbehinderte, die auf konkretes Anschauen, Fühlen und Erfahren angewiesen ist, gilt: Nur was einen Ort hat, kann besucht werden.
Kann nun der von einem Schüler beiläufig gesagte Satz „Da wohnt der Gott“ Ausgangspunkt einer Unterrichtsreihe sein, in der die Kirche als Gebäude thematisiert wird? Wie lässt sich dieses Vorhaben theoretisch legitimieren? Doch zuvor: Wer bestimmt überhaupt die thematische Ausrichtung des Religionsunterrichts an der Schule für Geistigbehinderte?
1.2 Röhrigs Basiskomponenten
Mit seiner Dissertation hat Röhrig einen der wenigen Beiträge zum „Religionsunterricht mit geistigbehinderten Schülern“ (Neukirchen 22001) vorgelegt. Er entwickelt hier – ausgehend von systemtheoretischen und phänomenologischen Grundlagen – Voraussetzungen für einen Religionsunterricht, in dem auch „schwer geistigbehinderte Schüler das Evangelium vernehmen können“ (230) – den so genannten subjektorientierten Religionsunterricht.
Anhand eines traditionellen didaktischen Dreiecks mit den drei Basiskomponenten Lehrer–Schüler–Inhalt (bzw. Bibel) stellt Röhrig die Frage nach deren Verhältnis und dem Ansatzpunkt des Religionsunterrichts. Er erteilt einer einseitigen Schülerorientierung oder einer bloßen Setzung der Inhalte ohne Bezug zu den beteiligten Schülern und Lehrern eine Absage. Vielmehr wird eine „gleichberechtigte Stellung zwischen den Subjekten (Schüler und Lehrer), aber auch zwischen dem Subjekt (Lehrer oder Schüler) und dem Unterrichtsinhalt“ (202) postuliert. Das Idealbild eines ausgeglichenen, ausgewogenen Verhältnisses zwischen den Basiskomponenten ist zu erreichen, indem ein „didaktisches Rotationsprinzip“ (ebda.) verfolgt wird. So könnte einmal eine konkrete Frage eines Schülers der Ausgangspunkt des Religionsunterrichts sein, zu einem anderen Zeitpunkt möglicherweise der gerade durch das Kirchenjahr festgelegte Inhalt (z.B. Ostern, Advent …) , ein weiteres Mal initiiert ein besonderes Anliegen des Lehrers die Unterrichtsplanung (z.B. dessen Vorliebe für Wundergeschichten). Wesentlich erscheint mir an diesem Modell die vorausgesetzte Bereitschaft der Beteiligten, Kurskorrekturen im Unterrichtsprozess anzuregen und zuzulassen, falls das Gleichgewicht der Komponenten nicht mehr gewährleistet ist. Laut Röhrig kann auf diese Weise ein Religionsunterricht stattfinden,“der Subjektivität und Inhaltlichkeit gleichermaßen beachtet“ (203).
Übertragen auf die Unterrichtsreihe, die in dieser Arbeit vorgestellt wird, lässt sich eine wichtige Beobachtung machen. Die Kirche St. Maria in den Benden hinterlässt als Ort des Schulgottesdienstes bei der Lerngruppe einen bleibenden Eindruck und bietet sich dadurch als Inhalt des Religionsunterricht an (Orientierung am Subjekt Inhalt). Die Schüler haben die besondere Atmosphäre des Raumes kennengelernt und haben in ihren Äußerungen nach dem Weihnachtsgottesdienst ein gewisses Interesse bekundet (Orientierung am Subjekt Schüler). Der Lehrer hat das Krippenspiel mit der Lerngruppe in der Kirche als etwas Besonderes erlebt und interessiert sich darüberhinaus sehr für Kirchenarchitektur (Orientierung am Subjekt Lehrer). Im konkreten Fall geht die Initiative also von allen drei Basiskomponenten gleichermaßen aus: Die Erkundung der Kirche im Rahmen des Religionsunterrichts erscheint demnach als ein sehr lohnenswertes Unternehmen.
Aufgabe dieser Arbeit ist es nun – legitimiert durch theoretische Konzepte und Richtlinien (Kapitel 2) – durch genaue Kenntnis des Bedingungsfeldes (Kapitel 3) und des Unterrichtsgegenstandes St. Maria in den Benden (Kapitel 4) ein stimmiges Unterrichtsangebot in Form einer Kirchenerkundung zu entwickeln (Kapitel 5). Die von Röhrig geforderte Bereitschaft zu Kurskorrekturen zum Wiederherstellen des Gleichgewichts setzt die Reaktionen der Schüler auf das Angebot und eine Reflexion voraus (Kapitel 6).
1.3 Lehrerfunktionen
Laut OVP § 58 und den seminarinternen Regelungen zur Hausarbeit sind im Rahmen dieser Arbeit mehrere der im Seminar-Reader beschriebenen Lehrerfunktionen explizit zu berücksichtigen. Das von mir gewählte Thema lässt dabei eine Vielzahl von Möglichkeiten zu. So könnte unter dem Blickwinkel Sonderpädagogisch Fördern gefragt werden: Wie kann man welche Aspekte des Themas für die konkrete Lerngruppe anbieten? Wie kann sinnvoll differenziert werden? Welche individuellen Hilfen müssen dabei zur Verfügung gestellt werden? Wie können Elemente aus der kirchenpädagogischen Fachliteratur, die in der Regel nicht-behinderte Menschen in den Blick nimmt, für die Lerngruppe modifiziert werden?
Der Komplex Kooperieren/Organisieren spielt hinsichtlich eines außerschulischen Lernorts wie der Kirche sicher auch eine große Rolle: Die Laufwege müssen für alle Schüler zu bewältigen sein. Es müssen Absprachen mit der Gemeinde hinsichtlich des Termins oder mit Kolleginnen bezüglich Unterrichtsverlegungen getroffen werden. Auch mehrere Lokaltermine, sozusagen als im und am Unterrichtsgegenstand selbst vorgenommene Sachanalyse, müssen organisiert und ausgewertet werden. Überlegungen dieser Art möchte ich allerdings nicht weiter ausführen, weil sie obligatorisch sind; sie haben vielmehr Dienstfunktion gegenüber den beiden Lehrerfunktionen, die ich besonders behandeln möchte, dem Erziehen und dem Unterrichten.
Erziehen Die Lehrerfunktion Erziehen könnte als aktive Handlung eines Lehrers an einem passiven Schüler missverstanden werden, der als Objekt dieser Handlung erzogen wird. Ich verstehe den Erziehungsprozess vielmehr als dialogisches, interaktionales Geschehen zwischen Schüler und Lehrer als jeweils eigenständigen Subjekten.
„Jeder Mensch ist als Mensch auf Erziehung angewiesen, erwirbt durch sie die Fähigkeiten, die er zum autonomen Leben als Erwachsener braucht.“ (Fornefeld 2000, 75). Vor nicht allzu langer Zeit galt diese Sichtweise nicht für Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung. Ihr Bildungsrecht und damit das Recht, eine Schule zu besuchen, musste erst mühsam erstritten werden. Heute gilt: „Jedes Kind ist nach Maßgabe seiner immer vorhandenen individuellen Möglichkeiten und Begrenzungen erziehungsbedürftig und erziehbar.“ (Krawitz, 2000, 70). Der Schüler, sei er auch noch so schwer behindert, ist Subjekt und eigenständiger Akteur seiner Erziehung. Lehrer sind in diesem Prozess, sofern er in der Schule stattfindet, die „kritischen und konstruktiven Begleiter“ (ebda., 71).
Erziehung als grundsätzlich intentionales Geschehen zielt im Kontext des Förderschwerpunktes Geistige Entwicklung ab auf die „eine möglichst selbstständige, selbstbestimmte und eigenverantwortliche Lebensgestaltung im Rahmen der individuellen Möglichkeiten und einer sinnerfüllten Lebensführung in sozialer Integration.“ (Richt-linienentwurf 2000). Diese präzisierte Formulierung des 1980 in den Richtlinien vorgegebenen Auftrags der SfGb, „Selbstverwirklichung in sozialer Integration“ beinhaltet für mich selbstverständlich auch Religion als Bildungs- und Erziehungsdimension.
Unterrichten Krawitz betont den „untrennbaren Zusammenhang von Unterricht und Erziehung. (…) Unterricht erzieht, und Erziehung erfolgt durch Unterricht“ (1999, 297). Nach dem oben skizzierten Verständnis von Erziehung, in dem der Schüler als Subjekt seines Erziehungsprozesses angesehen wird, realisiert der durch den Lehrer geplante Unterricht die Möglichkeit, dass der Schüler eben als dieses Subjekt agieren kann, indem er selbst über die Unterrichtsangebote entscheidet. Die Aufgabe des Lehrers, zumal des Sonderpädagogen in Bezug auf Unterricht ist es also, den Förderbereich bzw. den Sachinhalt zu analysieren, individuell stimmige und differenzierte Angebote zu planen, diese in geeigneten Handlungsschritten durchzuführen und diese Durchführung aufgrund der eigenen Wahrnehmung und der Reaktion der Schüler auf die Angebote zu reflektieren, um mit einer verbesserten Sichtweise erneut bei der Analyse anzusetzen. Dieser Kreislauf von Analyse, Planung, Durchführung und Reflexion spiegelt sich auch im Aufbau dieser Arbeit.
Eine gute Zusammenfassung dieser Sicht von Unterricht, die auch dem oben beschriebenen Gleichgewicht der Basiskomponenen nach Röhrig entspricht, gibt der Grundlagenplan für den katholischen Religionsunterricht an Schulen für Geistigbehinderte: „Der Unterricht muß offen für das sein, was die Schüler ›aus ihm machen‹.“ (1999, 95).
Da sich die beiden hier besonders beschriebenen Lehrerfunktionen Erziehen und Unterrichten sowohl im Aufbau der Arbeit als auch in meinem Selbstverständnis als Lehrer konsequent spiegeln und wiederfinden lassen, verzichte ich darauf, im weiteren Verlauf der Arbeit explizit auf sie zu verweisen.
2. Grundlegung
Kirchenräume haben etwas zu bieten, das es in keinem einzigen weltlich profanen Raum zu finden gibt, die unmittelbare Repräsentation der Möglichkeit des Glaubens.
E. Liebau (1998, 243)
Im folgenden werden die theoretischen Bezugsgrößen vorgestellt, die dieser Arbeit zugrundeliegen. Den größten Teil nimmt dabei die noch recht junge Disziplin der Kirchenpädagogik ein (2.1). Darüberhinaus werden zur Legitimation des Lernangebots Kirchenerkundung die Richtlinien für die SfGb des Landes NRW (2.2), der obligatorische Grundlagenplan für den katholischen Religionsunterricht an Schulen für Geistigbehinderte (2.3) sowie das Schulprogramm der SfGb Am Massenberger Kamp in Düsseldorf (2.4) herangezogen.
2.1 Kirchenpädagogik
Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Impulse (I/03) widmet sich dem Thema Kirche, das Katholische Schulreferat Düsseldorf bietet im selben Zeitraum eine Fortbildung „Mit Kindern eine Kirche entdecken“ an und das Domforum in Köln bringt eine fünfzig Seiten starke Broschüre mit Dom- und Kirchenführungen (u.a. nur für Kinder) allein für das 2. Halbjahr 2003 heraus. Diese willkürlich gewählten Beispiele geben einen Eindruck, wie stark die relativ junge Disziplin der Kirchenpädagogik Einzug in den Alltag gemeindlicher und schulischer Religionspädagogik gehalten hat.
Im folgenden sollen deshalb kurz Zielsetzung, Grundzüge und Adressaten der Kirchenpädagogik skizziert werden. Mittlerweile gibt es eine beachtliche Vielzahl von kirchenpädagogischen Publikationen, von grundlegenden Aufsatzsammlungen (z.B. Degen/Hansen 1998; Klie 1998) über praxisorientierte Ratgeber für Erwachsene (Goecke-Seischab/Ohlemacher 1998; Goecke-Seischab/Harz 2001) bis hin zu explizit an Kinder gerichtete Kirchenführer (z.B. Abeln 1997; Bihler 1997; Herholz 2001). Es erscheint mir sinnvoll, den die Grundzüge der Disziplin anhand von 8 Thesen zu gliedern, die der Bundesverband Kirchenpädagogik e.V. 2002 auf seiner Mitgliederversammlung aufgestellt hat und die ich im folgenden als Überschriften übernehme (Görnandt 2003).
1. Kirchenpädagogik bringt Mensch und Kirchenraum in Beziehung.
Das Ziel kirchenpädagogischer Bemühungen ist „die persönliche Begegnung der Teilnehmenden mit einem Kirchenraum.“ (Kürschner 1998, 149). Dieser hohe Anspruch geht weit über eine baukundliche Touristen-Information hinaus. Der Begriff Beziehung beinhaltet dabei wichtige Aspekte wie den Einladungscharakter des Kirchenraums oder das dem Raum angemessene Verhalten des Besuchers. Kirchenpädagogik geht davon aus, dass ihr Gegenstand nur an ihrem ursprünglichen, dem „ersten Ort“ (Degen 1998, 5) sinnvoll zu erleben ist.
2. Kirchenpädagogik bedeutet raum- und erfahrungsbezogenes Arbeiten.
Ein programmatischer Artikel trägt den Titel „Zugänge ermöglichen über Bewegung“ (Hansen 1998). Räume sind ohne Bewegung nicht als solche wahrnehmbar. Sinnesleistungen sind ohne Motorik nicht möglich. Die Kirchenräume, die „Ort, Gegenstand und Medium der Kirchenpädagogik“ (Görnandt 2003) sind, sollen mit allen Sinnen erfahren werden.
3. Kirchenpädagogik eröffnet Zugänge zu religiösen Erfahrungen.
Jede Kirche kann selbstverständlich auch als ein „Gesamtkunstwerk“ (Goecke-Seischab/Ohlemacher 69) betrachtet werden. Sie ist aber eben immer mehr als nur eine museale Sammlung mehr oder weniger alter Kunstgegenstände oder ein archtitektonisch besonderes Gebäude. Kirchen sind wie Stadien oder Museen „auratische Räume“ (Liebau 1998, 238), Orte, die eine besondere Ausstrahlung auf Menschen haben. Kirchen sind aber weit mehr als nur das: Als „Begegnungsraum des Menschen mit Gott“ (Richter 22001a, 11), als Stein gewordene Zeichen, die über die Welt des Menschen hinausweisen, ermöglichen sie in besonderer Weise religiöse Erfahrungen. Kirchenpädagogik begleitet und unterstützt Menschen dabei.
4. Kirchenpädagogik arbeitet in methodischer Vielfalt.
„Nicht der nüchterne Vortrag oder eine unpersönliche Führung motivieren, sondern das ›Selber‹-Sehen, -Denken, -Sprechen, das Erzählen, Begehen, Erkunden, Entdecken, Nachfragen bzw. das ›gemeinsame‹ Recherchieren in der Gruppe, das Malen, Zeichnen, Aufschreiben, Rätseln, das Sammeln, Ordnen, Gestalten und Referieren der Ergebnisse.“ (Goecke-Seischab 22001, 74)
Kirchenpädagogik reagiert mit einem breiten Spektrum an Methoden, das besonders körper-, handlungs- und erlebnisorientierte Ansätze miteinschließt, auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten einer Gruppe. Dabei schließt sie thematische Schwerpunkte und die lokalen Rahmenbedingungen in ihre Überlegungen mit ein.
5. Kirchenpädagogik braucht Zeit.
Oft findet man in der kirchenpädagogischen Arbeit die Forderung nach Verlangsamung, „um Wahrnehmungsprozessen Raum zu geben und für Achtsamkeitserfahrungen Zeit zu lassen. (…) Für Schulklassen haben sich mehrere Stunden bewährt.“ (Görnandt 2003).
6. Kirchenpädagogik wirkt nach außen.
Den Schwerpunkt – neben der Erwachsenenbildung und Kirchenführungen für Touristen – bildet die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Die Kirche ist ein idealer außerschulischer Lernort, der sich zudem für einen fächerübergreifenden Unterricht (vor allem der geisteswissenschaftlichen Diziplinen) an einem authentischen Ort empfiehlt.
7. Kirchenpädagogik wirkt nach innen.
Die Innenwirkung bezieht sich auf den Prozess, Menschen in der Auseinandersetzung mit Kirchenräumen zu „einer persönlichen Verwurzelung und Standortbestimmung“ innerhalb von Gemeinden zu verhelfen (Görnandt 2003). Damit wirkt sie selbstverständlich auch innerpersonal.
8. Kirchenpädagogik ist eine langfristige Investition in die kommende Generation.
Kinder und Jugendliche wachsen heute in einer multikulturellen und -religiösen, gleichwohl immer stärker säkularisierten Gesellschaft auf. Die notwendige Vermittlung wesentlicher Inhalte und Gebräuche des Christentums übernimmt zu einem Teil der schulische Religionsunterricht. Dieser wird unter anderem gerade dadurch legitimiert, Heranwachsenden das christliche Vermächtnis ihrer Gesellschaft näherzubringen. Wenn man Kirchengebäude in diesem Horizont als „Texte vergangenen Lebens und geronnene Formen von Glauben und Gottesdienst oft unterschiedlicher Zeiten“ versteht, und Degen dazu feststellt, dass sie „für Erwachsene, Jugendliche und Kinder (…) zumeist zur unverständlichen Sprache geworden“ seien (1998, 7), kommt Kirchenpädagogik die Funktion einer Übersetzerin zu. Volp dagegen betont Einfachheit, Verständlichkeit und Einladungscharakter der Kirchen. Auch er geht davon aus, dass sie „lesbare Texte – symbolische Statthalter des Lebens“ (1998, 258) sind und hält sie für „das wertvollste Glaubenskapital nächst der Sprache“ (ebda). Der Auffassung Degens hält er entgegen: Es gibt „keine Analphabeten gegenüber einem gestalteten Ort, den wir ›Raum‹ nennen.“ (259). Meiner Ansicht nach müssen beide Aspekte berücksichtigt werden: Kirchenpädagogik muss christliche Inhalte „verständlich und zugänglich“ (Görnandt 2003) machen, also Übersetzerin und Begleiterin gleichermaßen sein.
[...]
* Selbstverständlich können diese Schlaglichter dem komplexen Thema nicht gerecht werden. Sie dienen lediglich der Illustration der unterschiedlichen theologischen Konzepte und dem Nachweis einer Entwicklung auf diesem Gebiet. Zum theologischen Konzept des Kirchenbaus vor und nach dem II. Vatikanischen Konzil folgen ausführlichere Gedanken in Kapitel 4.2.
- Arbeit zitieren
- Martin Rödiger (Autor:in), 2003, "Da wohnt der Gott" - Eine Mittelstufe der Schule für Geistigbehinderte erkundet im Rahmen des Religionsunterrichts die Kirche St. Maria in den Benden, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/18408