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Hausarbeit, 2004
28 Seiten, Note: 2,0
Einleitung
1. Zum Begriff Frauenmystik
2. Zur Geschichte der Frauenbewegung: Die Beginen
3. Die deutschen Mystikerinnen des Mittelalters
3. 1. Hildegard von Bingen
3. 2. Elisabeth von Schönau
3. 3. Mechthild von Magdeburg
4. Sprachliche Mittel in der Sprache der Mystik
5. Textanalyse
Schlussfolgerungen
Literaturverzeichnis
Die Geschichte der mittelalterlichen Visionsliteratur beginnt im 6. Jahrhundert mit Papst Gregor dem Grossen, der im vierten Buch seiner „Dialogi“ eine ganze Reihe von Visionen, die der mündlichen Tradition entstammen, zusammengestellt hat. Mit diesen Berichten, die das Weiterleben der Seelen nach dem Tod beweisen sollten, verfolgte Gregor eine ganz klar erzieherische Absicht, die auch Wirkung hatte: Das Buch wurde viel gelesen, und die darin enthaltenen Visionen hatten in der Folge auch Vorbildcharakter für die späteren Aufzeichner von Visionen. Zudem beeinflussten sie teilweise auch direkt das visionäre Erleben der Charismatiker und Charismatikerinnen, welche die „Dialogi“ kannten.
Im letzten Drittel des 7. Jahrhundert entstand die erste Einzelvision, die Vision des Barontus. Sie trägt bereits fast alle Züge, die ein einzeln überlieferten Visionstext in der Regel enthält: die Überschrift, den Prolog mit Angaben über die Begründung der Aufzeichnung und Bemerkungen zur Person des Sehers, den Bericht über die Umstände, die zur Ekstase führten, dann natürlich die Vision selbst und schließlich den Epilog.
In der karolingischen Epoche entstehen eine ganze Reihe von Jenseitsvisionen, darunter viele mit politischem Inhalt und entsprechender Funktion. Die bekannteste und im Mittelalter verbreitete unter ihnen ist die Schauung der anderen Welt des Mönches Wetti von Reichenau.
Unbestreitbar ihren Höhepunkt erreicht die Gattung der Jenseitsvisionen allerdings erst im 12. Jahrhundert. Viel mehr Laien als früher beginnen sich jetzt mit religiösen Fragen zu beschäftigen, und die nach wie vor für die endgültige Formulierung der Visionen zuständigen schreibkundigen Kleriker schenken ihnen entsprechend mehr Aufmerksamkeit. In all diesen Visionen finden sich trotz aller individuellen Unterschiede immer wieder dieselben Motive, was zum Teil mit bewusster Motivübernahme erklären lässt.
Vom Hochmittelalter an werden Einzelschauungen seltener, und es kommt immer häufiger vor, dass eine Seherin bzw. ein Seher zwar kürzere, dafür aber zahlreichere Schauungen erlebt. Diese kürzeren Visionen, die nun seit dem 13. Jahrhundert vor allem von Frauen empfangen werden, sind häufig in einer Vita aufgezeichnet oder in Visionsbüchern zusammengefasst. Zu diesen Frauen gehören zwei Nonnen, Hildegrad von Bingen und Elisabeth von Schönau. Da ihre Visionen in lateinischer Sprache erscheinen, nehmen sie einen indirekten Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Sprache. Ihre Ideen, ihre Bilder und ihre Kritik beeinflussen andere Menschen, Geistliche und Laien, vor allem Frauen, denn unter Frauen, die das Visionswesen vom 13. Jahrhundert an zu prägen beginnen, befinden sich auffällig viele Beginen. Eine unter vielen ist Mechthild von Magdeburg, die erste deutschsprachige Mystikerin überhaupt. In ihren Visionen stehen nicht mehr die Jenseitslandschaften im Zentrum, sondern die Begegnungen mit Gott selbst. Die Begegnungen mit Christi in der Liebe bestimmen von nun an allgemein die praktische Mystik der Jahrhunderte zwischen 1200 und 1500.
Das Thema meiner Arbeit ist der Einfluss der Frauenmystik auf die Entwicklung der deutschen Sprache. Im ersten Teil meiner Arbeit werde ich kurz auf den Begriff Frauenmystik eingehen und einen geschichtlichen Überblick über die Frauenbewegung geben. Danach werde ich auf die Lebensläufe der bekanntesten Vertreterinnen der Visionsliteratur und des Beginentums eingehen: Hildegard von Bingen, Elisabeth von Schönau und Mechthild von Magdeburg. Der zweite Teil meiner Arbeit ist dem Visionswerk Das fließende Licht der Gottheit von Mechthild von Magdeburg und der Analyse einiger Textstellen gewidmet.
Frauen haben die Mystik nicht erfunden. In allen Religionen – nicht nur im Christentum – hat es mystische Bewegungen gegeben. Die Mystik kann als Gegenbewegung zur Verweltlichung der Kirche und des religiösen Systems bezeichnet werden. Den Mystikern und Mystikerinnen selbst ging es darum, einen persönlichen, neuen Zugang zu Glaubenswahrheiten und zu Gott zu finden und zu erfahren. Sie gaben sich nicht mit äußerlichen Frömmigkeitsübungen zufrieden, ihr Streben galt der inneren Erfahrung. Obwohl sie ursprünglich von religiösen Ideen geleitet waren, wurden Mystiker oft zu Wegbereitern eines nicht nur religiösen Individualismus. Sie wirkten mit bei der Entdeckung des Selbstbewusstseins, indem sie die Würde des einzelnen Menschen erkundeten und zu bewahren suchten.1
Das Wort „Mystik“ stammt von dem griechischen „myein“ und bedeutet „die Augen schließen“. So ließen sich die Mystiker vom Prunk und Macht nicht blenden, sie verschlossen davor die Augen.2
Es gab mehrere Arten mystischer Erfahrungen. Eine entscheidende Rolle spielte die „Wegemystik“ des Dionysios Areopagita, der im fünften oder sechsten Jahrhundert im Römischen Reich lebte. Diese „Wegemystik“ besagt, dass das individuelle Selbst nicht in sich verschlossen bleiben, sondern über die Stufen von „Reinigung“ und „Erleuchtung“ zur „Vereinigung“ mit dem Göttlichen (unio mystica) streben soll.3
Die zweite Form der Mystik, die „Minnemystik“, wurde von Bernhard von Clairvaux, einem Zisterziensermönch des zwölften Jahrhunderts, geschaffen. „Minnemystik“ definierte die mystische Erfahrung als Liebesvereinigung der Seele mit Christus. Das religiöse Erleben wurde als geistige Verlobung und Vermählung dargestellt.4
Die dritte Form mystischer Religiosität, eine Leidens- und Kreuzesmystik, wurde von Franz von Assisi im dreizehnten Jahrhundert entdeckt. Diese Form von Mystik hatte die größte Wirkung überhaupt. Sie ergriff Männer und Frauen aus allen Schichten der Bevölkerung, schuf eine Predigt-, Brief- und Traktatliteratur, die für die breite Masse gedacht war und zugleich jeden Menschen persönlich ansprach und sie bediente sich neben dem gelehrten Latein auch der Volkssprache. Vor allem für die Frauen war es vom Vorteil, weil nicht viele von ihnen die lateinische Sprache beherrschten.5
Frauen waren nicht nur passive Zuhörerinnen, sondern haben eigene mystische Denkformen entwickelt. Viele Frauen richteten sich nach bestimmten Mustern der Wege-, Minne-, Kreuzes- und Wesensmystik, doch gelang es ihnen dabei ein Durchbruch zu Erfahrungen, die es so bei mystischen Männern nicht gegeben hatte. Demnach also ist die Frauenmystik keine bloße Kopie der Männermystik, sondern eine eigenständige Erfahrung. Zudem ist die Frauenmystik eng mit der Frauenbewegung verbunden, die seit dem Ende des zwölften Jahrhunderts überall in Europa entstanden war. Die Mystikerinnen des Mittelalters gingen ihre eigenen Wege. Diesen Frauen ging es nicht nur um religiöse Dinge, sondern auch um die Entdeckung und Durchsetzung eines neuen weiblichen Selbstbewusstseins. Sie schufen ein neues Welt- und Menschenbild, in welchem die Frauen nicht unterlegen, diskriminiert und abgeschoben sind und werden, sondern die den Männern gleichgestellt werden.6
Wenn ich von der Frauenmystik spreche, so fallen mir dabei die Begriffe Frauenbewegung und die Beginen ein.
Der Ursprung und die Frühzeit dieser Frauenbewegung liegen im Dunkeln. Unorganisiert und ungebunden und anscheinend auch spontan entstand etwa im 12. Jahrhundert fast in allen Städten Nordwesteuropas eine Bewegung, welche ausschließlich von Frauen getragen wurde. Es sind keine Namen von Stifter- oder Gründerpersönlichkeiten überliefert worden. Alle schriftlichen Dokumente entstammen einer spätern Zeit und wurden von Männern verfasst, die es nicht lassen konnten, ihre Unterstützung der Frauenbewegung hervorzuheben. Daher soll man diesen Zeugnissen mit Kritik begegnen. Nicht einmal der Name für diese Frauenbewegung ist eindeutig geklärt. In Frankreich nannte man diese Frauen „Papelarden“(falsche Priesterinnen), in Italien „Bizoken“(Mitglieder papstfeindlicher Sekten), in der Lombardei „Humiliaten“(„Demütige“), in Spanien „Beatae“(„Selige“), in Deutschland „Coquenunne“( scheinheilige Nonne). Viele dieser Bezeichnungen galten offensichtlich als Schimpf- und Schmähnamen. Bekannt wurden diese Frauen schließlich unter dem Namen „Beginen“. Dieses Wort leitet sich von der Ketzerbezeichnung „Albigenser“ ab. Diese Ketzerbewegung wurde von der Kirche mit allen Mitteln ausgerottet, daher war es auch für die Frauen gefährlich, wenn sie mit diesem Namen bezeichnet wurden.7
Im zwölften Jahrhundert wurde die Frauenbewegung unter den Verdacht gefährlicher Ketzerei gestellt. Erst von der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts an galt der Beginenname als wertfreie Bezeichnung, doch der Ketzerverdacht wurde auch später immer wieder erhoben.8
Die Beginen führten ein Leben am Rande der Gesellschaft. Sie weigerten sich, zu heiraten oder sich einer Klostergemeinschaft anzuschließen, was zur damaligen Zeit gegen die Ordnungsvorstellungen war. Caesarius von Heisterbach, ein Zeuge dieser Frauenbewegung, beschreibt ihre merkwürdige Sonderstellung folgendermaßen: „Wir wissen, dass solche Frauen … in weltlicher Weise unter Weltlichen leben, vielen in Klöstern Eingeschlossenen sind sie dennoch an Liebeswerken überlegen: unter Weltleuten Geistliche, unter Prunksüchtigen enthaltsam, führen sie inmitten des Volkes ein einsiedlerisch -abgeschlossenes Leben.“9 Der Franziskaner Gilbert von Tournai schrieb: „Unter uns leben Frauen, von denen wir nicht wissen, ob wir sie als Weltleute oder als Nonnen bezeichnen sollen, teils nämlich bedienen sie sich der weltlichen, teils der klösterlichen Lebensweise.“10
Dabei hatten diese Frauen ein tiefes religiöses Anliegen, wenn sie der prunkvollen und reichen Machtkirche die Ideale der christlichen Urgemeinde entgegensetzten. Ihre Leitbilder waren Armut, Einfachheit, Buße, Jungfräulichkeit oder Keuschheit. Doch anders als die Nonnen legten diese Frauen kein förmliches, lebenslanges Gelübde ab. Auch hielten sie sich an keine entsprechende Lebensregel, wie es in den Klöstern den Fall war. Dadurch entzogen sie sich der Kontrolle durch die kirchlichen Autoritäten. Einige von diesen Frauen hatten keine festen Wohnsitze, sondern zogen von Stadt zur Stadt. Andere blieben weiterhin in ihren Familien, lebten in einem zellenartig eingerichteten Zimmer und verließen das Haus nur, um ihrer Arbeit nachzugehen. Die Beginen lebten von ihrer eigenen Hände Arbeit. Sie versorgten in Spitälern oder Armenhäusern Kranke, Gebrechliche und Alte oder schlugen sich mit Nähen, Spinnen und Weben durch. Einige der Frauen gingen sogar einem regelrechten Handwerksberuf nach. Viele der Frauen lebten als Einsiedlerinnen in der Nähe der Klöster. Doch auch sie legten kein Gelübde ab. Es war ihnen jederzeit möglich, ihr Beginendasein aufzugeben, zu ehelichen und ein normales Bürgerleben zu führen.11
Die Beginenbewegung erlebte einen ungeheuren Aufschwung. In den belgischen Provinzen, in den Niederlanden und im Rheingebiet gab es kaum eine Stadt, die nicht ihre Beginen aufzuweisen hatte; bis in das spätere Preußen, bis nach Österreich und in die Schweiz lassen sich Beginen nachweisen.12 Die Ursachen für diesen Aufschwung waren viele und unterschiedlich. Zum einen lag es daran, dass es im Hochmittelalter wesentlich mehr Frauen gab als Männer, sodass nicht alle Frauen heiraten konnten. Viele heiratsfähige Männer ließen sich für Kreuzzüge anwerben, was wiederum zum Männermangel führte. Hinzu kamen tief greifende Veränderungen im sozialen Gefüge der mittelalterlichen Gesellschaft. Besonders in den Städten bildeten sich neue Klassen, eine Schicht von mittellosen Bürgern entstand, unter denen besonders alleinstehende Frauen leicht ins gesellschaftliche Abseits gedrängt wurden. So blieb es den betroffenen Frauen selbst überlassen, durch Zusammenschluss mit anderen neue Formen solidarischen Zusammenlebens zu versuchen. Die Beginensammlungen waren also gewiss eine Möglichkeit, Selbstachtung zu bewahren und ein Minimum an gesicherter Versorgung zu erlangen. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Not der alleinstehenden Frauen war aber nicht die einzige Ursache, denn unter den Beginen befanden sich viele Frauen aus dem wohlhabenden Adel. Diese Frauen suchten ihre neuen religiösen Bedürfnisse zu befriedigen. Die Beginenbewegung war ein Aufbruch der städtischen Laien, die einfach nicht mehr akzeptieren wollten, dass allein das Klosterleben die höchste Form religiösen Lebens darstellen sollte. Die Lehre der Kirche hatte dafür sicherlich kein Verständnis. Denn nach der traditionellen mittelalterlichen Auffassung konnte nur das Kloster mit seinen strengen Forderungen des Gehorsams, der persönlichen Armut und der lebenslangen Keuschheit ein religiös vollkommenes Leben garantieren. Unter Beginen aber befanden sich viele verheiratete, verwitwete, adlige und bürgerliche, reiche und mittellose Frauen, die außerhalb der Klostermauern ein religiöses Leben führen wollten. Sie alle in die Klöster aufzunehmen, war unmöglich. Weil die Plätze in den Klöstern sehr begrenzt waren, wurden nur adelige Frauen, die eine angemessene Mitgift mitbrachten, aufgenommen. Außerdem waren die Lehre, die Organisation und die Praxis der Kirche in ihrer Substanz frauenfeindlich und wurden von den meisten Beginen abgelehnt. 13
Obwohl die Beginen keinen direkten Konflikt mit der Kirche suchten, spielte es für ihre Kritiker keine Rolle. Wer wie die Beginen ein weltliches Leben auf „unweltliche“ Weise leben wollte, entzog sich jeglicher Kontrolle. In die mittelalterliche Lebensordnung passten die teils weltlich, teils religiös lebenden Beginen nicht hinein.14
Auch in Deutschland gehörten die Beginen zum gewohnten Erscheinungsbild zahlreicher mittelalterlicher Städte. Sie lassen sich im hessischen, norddeutschen und im mitteldeutschen Raum nachweisen. Die bedeutendsten Beginagen fanden sich allerdings in Köln und Umgebung. Zum ersten Mal werden die Beginen dort urkundlich im Jahre 1223 erwähnt. Die Beginen kümmerten sich um die Armen– und Krankenpflege, übernahmen die Pilgerbetreuung, waren für die Totenpflege zuständig, kümmerten sich um gefallene Mädchen und Findelkinder, eroberten sich einen wichtigen Platz in den Industriezweigen der Weberei, Näherei und Spinnerei, stellten Seife her, brauten und verkauften Bier, unterhielten Mühlen und beschäftigten sich mit Kerzendreherei. Kein Wunder, dass sie den Neid und den Zorn der Handwerker, der Männer also, erweckten, da diese die Konkurrenz der Frauen fürchteten. Deswegen wurden mehrere Gesetze erlassen, die die Beginen in ihrer Freiheit stark einschränkten. So verbat eine Mainzer Synode von 1233 das Herumziehen von Frauen, forderte Erwerbsarbeit und vor allem die Unterordnung unter die zuständigen Stadtpfarrer. Eine Synode in Fritzlar von 1244 legte obendrein fest, dass nur unbescholtenen Frauen über vierzig Jahren der Beginenstatus erlaubt sei; jüngere Frauen hätten zu oft das Keuschheitsgelübde verletzt.15
Hildegard von Bingen und Elisabeth von Schönau waren die Vorboten der mystischen Frauenbewegung. Deswegen komme ich in diesem Teil meiner Arbeit zuerst auf sie zu sprechen.
Hildegard von Bingen wurde im Jahr 1098 bei Alzey als Tochter des Adeligen Hildebert von Bermersheim und dessen Gattin Mechthild geboren.16 Drei Jahre alt soll Hildegard gewesen sein, als sie ein großes Licht sah, vor dem ihre Seele erzitterte, aber wegen ihres Alters sprach sie aber darüber noch nicht. Als sie später begann, ihre Offenbarungen an die Umwelt weiterzugeben, stieß sie auf Staunen und Verwunderung. Das Unverständnis ihrer Umwelt machte sie zurückhaltend und schweigsam.17 Mit acht Jahren wurde Hildegard dem benediktinischen Doppelkloster Disibodenberg übergeben und kam dort in die Obhut der strengen, extrem asketischen Äbtissin und Magistra Jutta aus dem Hause der Grafen von Sponheim. 1113/14 legte sie das Ordensgelübde nach der Benediktregel ab und wurde nach Juttas Tod selbst Magistra des Nonnenkonvents.18 Unter Hildegards Leitung spitzten sich aber die Konflikte mit dem Männerkloster so stark zu, dass die beiden Konvente sich trennen mussten. Hildegard konnte die Umsiedlung des Frauenkonvents auf den Rupertsberg über Bingen am Rhein durchsetzen.19 Ihre Visionen empfand sie zunächst als Heimsuchung und erzählte davon nur wenigen vertrauten Personen. Eine Wende vollzog sich erst 1141, als Hildegard bereits zweiundvierzig Jahre alt war. In einer erneuten Vision erteilte ihr die göttliche Stimme den Auftrag, das, was sie sieht und hört, aufzuzeichnen und zu verkünden. Als Hildegard jedoch zögerte, dem göttlichen Auftrag nachzukommen, wurde sie von einer schweren Krankheit befallen, und genas erst wieder, als sie mit der Aufzeichnung ihrer Visionen begonnen hatte.20 Hildegard hatte ihre großen Visionsschriften nicht allein verfasst, sondern dabei verschiedene Mitarbeiter gehabt. Ihre Vertrauten waren Volmar, ein Mönch vom Disibodenberg, und Richardis, eine Nonne aus dem Rupertsberger Konvent. Hildegard hielt ihre Visionen zunächst auf Wachstafeln fest. Diese Aufzeichnungen wurden dann von ihren Mitarbeitern auf Pergament übertragen. Später wurden die Aufzeichnungen korrigiert und es erfolgte die endgültige Reinschrift.21 1141 arbeitete Hildegard an ihrem ersten großen Visionswerk „Scivias“ („Wisse die Wege“). Zwischen 1158 und 1163 entstand ihr zweites Visionswerk „Liber vitae meritorum“ („Buch der Lebensverdienste“). In dem Jahrzehnt nach 1163 entstand Hildegards drittes Visionswerk „De operatione Die“ („Über das Wirken Gottes“). Daneben schrieb sie natur- und heilkundliche Schriften. Gegen Ende ihres Lebens unternahm Hildegard vier große Predigtreisen. 1179 starb sie in ihrem Kloster auf dem Rupertsberg.22
Hildegards Visionen waren im Mittelalter einzigartig und ungewöhnlich, sowohl durch ihre Kühnheit als auch durch ihre Originalität. Hildegard verstand sich als Prophetin, die gesandt wurde, um ihre Nächsten zu Buße und Umkehr aufzurufen in einer Zeit, in der die Situation der Kirche als krisenhaft erlebt wurde. Die Gläubigen vergaßen Gott, ihre Herzen waren hart wie Stein, der Klerus wurde seiner Aufgabe, Gottes Wort zu verkünden, nicht mehr gerecht. Als Frau wagte sie es, Kritik an Kirche und Klerus, an Männern also, auszuüben. Hildegard bewertete ihre Gegenwart als negativ, sie schien ihr von einer weiblichen Schwäche gekennzeichnet und wurde deshalb von ihr als weibliche oder weibische Zeit bezeichnet. Sie meinte, dass die Kirche weichlich sei und ihr die männliche Kraft fehle. Es soll aber nicht der Eindruck erweckt werden, Hildegard würde das Weibliche als negativ und schlecht bezeichnen. Vielmehr hat sie das Konzept von der weibischen Zeit entwickelt, um Klerus und Priester zu kritisieren. Es sind also Männer, die spirituell unfruchtbar sind und sich der wahren Lehre in den Weg stellen und in deren Handeln das negative Weibliche zum Ausdruck kommt. Für Hildegard hatte jedes der beiden Geschlechter sowohl einen negativen als auch einen positiven Symbolwert. Sie verurteilte die negativen Aspekte der weiblichen Schwäche genauso wie die negativen Aspekte der männlichen Stärke. Das Ideal war für sie eine Annäherung der beiden Extreme männlichen und weiblichen Verhaltens.23 Aber Hildegard ging noch weiter. Sie meinte, Gott würde die Schwachen erwählen, um die Starken niederzuwerfen. Die Starken waren für sie der männliche Klerus. Diese Männer haben zwar die Aufgabe, Gottes Wort zu verkünden, würden aber ihren Pflichten nicht nachkommen, denn sie seien weder gottesfürchtig noch demütig, sondern würden ihren eigenen Willen zur Richtschnur ihres Handelns machen. Die Schwache sei sie selbst, die weder durch ihre Bildung noch durch ihr Geschlecht dazu geeignet scheint, um die Starken niederzuwerfen, die aber dennoch von Gott für diese Aufgabe bestimmt sei. 24 Doch Hildegard bezeichnete sich nicht nur als schwach, sondern auch als ungelehrt und ungebildet und stellte somit die Glaubwürdigkeit ihrer Visionen außer Frage. Sie spielte die Rolle eines leeren Gefäßes, in das die göttliche Weisheit eingegossen wurde. Sie fügte nichts zu, sie veränderte nichts, sie war Gottes Werkzeug, durch sie sprach Gott. Jeder Gottesfürchtige sollte ihr Glauben schenken und wer ihre Schriften oder die Tatsache ihrer Erwählung als Gottes Werkzeug in Frage stellen würde, den würde eine göttliche Strafe treffen. 25
Doch Hildegard kritisierte nicht nur die Kirche und den Klerus, sondern auch die gängige Schultheologie. Das Besondere und Einzigartige an Hildegards Visionen war, dass sie der Kirche, Adam, Jesus und selbst Gott weibliche Züge zuschrieb. Gott und Mensch sind bei ihr nicht mehr voneinander getrennt, sondern Gott, das heißt sein mystischer Körper, geht „schwanger“ mit dem Menschen. Somit bekommt das patriarchalische Bild des Vatergottes weibliche Züge. Aber auch Gottes Bild als reine, unveränderliche, unbewegte und ideelle Substanz wird zerstört, denn wenn der sündige, irdische Mensch in Gottes Körper hineinkommt, gerät auch Irdisches und Schmutziges in Gott hinein. In einer anderen Vision sieht sie den „schwangeren“ Adam, wie er Eva „gebiert“.26 Entgegen der zeitgenössischen Theologie, die die Schöpfung Adams als vollkommen betrachtete, war für Hildegard die Schöpfung der Eva einzigartig und heraushebenswert. Sie setzt Evas Schöpfung aus dem Fleisch Adams der Geburt Christi aus dem Leib der Maria gleich. Nur Eva und Christus sind auf diese Weise geschaffen und somit auch einzigartig. Sie schreckte auch nicht davor zurück, die Frau Eva mit dem Mann Christus und den Mann Adam mit der Frau Maria zu vergleichen. Damit wird für sie Christus nicht zum neuen Adam, sondern zur neuen Eva. 27 Auch Evas Schuld bei der Sündenfallgeschichte interpretiert Hildegard etwas anders. Die Frau wurde aus dem Fleische des Mannes geschaffen, für Hildegard das „leichtere“ Material, worauf ihre Schwäche und Leichtigkeit zurückgehen, während die Erde, das Material, aus dem der Mann erschaffen wurde, als das stärkere Schöpfungsmaterial gilt. In Eva sieht Hildegard den Ursprung des gesamten Menschengeschlechts, die Urmutter, also auch die „Mutter“ der Jungfrau Maria und Christi. 28 Und sie ging noch weiter, sie ersetzte den Gegensatz Eva-Maria, indem sie die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Frauengestalten hervorhob und ihnen ergänzende Funktionen zuschrieb. Somit bestimmte sie das Verhältnis zwischen Maria und den Töchtern Evas, damit sind alle Frauen gemeint, neu. Denn nicht nur Maria, sondern jede Frau soll erhöht werden, weil Christus von einer Frau geboren wurde. 29
Doch Hildegard von Bingen war nicht nur Prophetin und Wissenschaftlerin, sondern auch Predigerin. Ihre Reisen, die sie weit über ihre nähere Umgebung hinaus bis nach Süddeutschland unternahm, sind bemerkenswert. Ungeachtet des kirchlichen Lehr- und Predigtverbots für Frauen predigte Hildegard nicht nur dem einfachen Volk, sondern auch den Gebildeten und dem Klerus, wobei sie sich auf ihren göttlichen Auftrag berief. Außerdem unterhielt sie einen umfangreichen Briefwechsel. Sie wendete sich mit ihren Briefen an Nonnen, Äbte, Äbtissinnen, den höheren Klerus, an weltliche Personen, Kaiser, Könige und sogar an die vier Päpste ihrer Zeit. Bemerkenswert ist es vor allem deswegen, da ihre Predigten und ihr Briefwechsel extrem kirchenkritisch waren.30
[...]
1 Vgl. Rolf Beyer, Die andere Offenbarung, Mystikerinnen des Mittelalters. Fourier Verlag Wiesbaden 1996, S. 8 f.
2 Vgl. Beyer, a.a.O., S. 9
3 Vgl. Beyer, a.a.O., S. 9
4 Vgl. Beyer, a.a.O., S. 9 f.
5 Vgl. Beyer, a.a.O., S. 10 f.
6 Vgl. Beyer, a.a.O., S. 11 ff.
7 Vgl. Beyer, a.a.O., S. 102 ff.
8 Vgl. Beyer, a.a.O., S. 103
9 Ebd., S. 103
10 Ebd., S. 103
11 Vgl. Beyer, a.a.O., S. 103 f.
12 Vgl. Beyer, a.a.O., S. 104 f.
13 Vgl. Beyer, a.a.O., S. 105 ff.
14 Vgl. Beyer, a.a.O., S. 107
15 Vgl. Beyer, a.a.O., S. 157 ff.
16 Vgl. Friedrich Prinz, Das wahre Leben der Heiligen, Zwölf historische Porträts von Kaiserin Helena bis Franz von Assisi. Verlag C. H. Beck, München 2003, S. 224
17 Vgl. Claudia Eliass, Die Frau ist die Quelle der Weisheit, Weibliches Selbstverständnis in der Frauenmystik des 12. und 13. Jahrhunderts. Centaurus- Verlagsgesellschaft, Pfaffenweiler 1995, S. 66
18 Vgl. Friedrich Prinz, a.a.O., S. 224
19 Vgl. Friedrich Prinz, a.a.O., S. 225
20 Vgl. Claudia Eliass, a.a.O., S. 67 ff.
21 Vgl. Claudia Eliass, a.a.O., S. 70 f.
22 Vgl. Margot Schmidt, Dieter R. Bauer (Hrg.), „Eine Höhe, über die nichts geht“, Spezielle Glaubenserfahrungen in der Frauenmystik?. In: Mystik in Geschichte und Gegenwart, Texte und Untersuchungen, Abteilung I, Christliche Mystik, Band 4. Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, S. 3
23 Vgl. Claudia Eliass, a.a.O., S. 103 ff.
24 Vgl. Claudia Eliass, a.a.O., S. 107
25 Vgl. Claudia Eliass, a.a.O., S. 108 ff.
26 Vgl. Beyer, a.a.O., S. 35 ff.
27 Vgl. Claudia Eliass, a.a.O., S. 114 f.
28 Vgl. Claudia Eliass, a.a.O., S. 115 ff.
29 Vgl. Claudia Eliass, a.a.O., S. 121 ff.
30 Vgl. Claudia Eliass, a.a.O., S. 170 f.