In den 90er Jahren beschäftigten sich Daniel Goldhagen und Christopher Browning beide mit dem Polizeibataillon 101. Doch sie kamen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. In meiner Arbeit vergleiche ich ihre Ergebnisse und beleuchte ihre Beteiligung an der "Goldhagen Debatte".
Vorwort
1992 erschien Christopher Brownings Buch „Ganz normale Männer – Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen“.
Browning setzt sich in dem Buch mit dem Polizeibataillon 101 auseinander, das am Holocaust in Russland und Polen beteiligt war. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf der Zeit in Polen. Nach einer Vorstellung des Bataillons und seiner Angehörigen schildert der Autor die Erschießungen, Deportationen und „Aufspüraktionen“ der jüdischen Bevölkerung Polens, die die Polizisten durchgeführt haben. Zwar töteten die Polizisten auch nichtjüdische Polen und Partisanen verschiedener Nationalitäten; der absolute Großteil der Opfer waren jedoch polnische Juden. Im Anschluss an die Schilderungen stellt Browning verschiedene Theorien vor, wie es möglich sein konnte, das „ganz normale Männer“ zu Massenmördern wurden.
Vier Jahre später beschäftigte sich Daniel Jonah Goldhagen mit dem gleichen Thema. Zwar schrieb er außerdem über die „Todesmärsche“ und jüdische Zwangsarbeit, doch das Polizeibataillon und seine Beteiligung am Holocaust in Polen ist ein Schwerpunkt seines Buches „Hitlers willige Vollstrecker – Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust“.
Während Antisemitismus als Motivation der Täter für den Judenmord bei Browning nur eine untergeordnete Rolle spielt, ist er bei Goldhagen in einer „eliminatorischen“ und „dämonischen“ Ausprägung das entscheidende Tatmotiv. Dieses behandelt Goldhagen in seinem Buch ausführlich. Er geht auch, ohne Brownings Namen zu nennen, auf dessen Theorien zu den Tatmotiven der Polizisten ein und erklärt diese als unzureichend.
Der deutsche Titel von Goldhagens Buch lautet: „Hitlers willige Vollstrecker“ - ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust“. Der Untertitel weist also bereits eine Ähnlichkeit mit Brownings Buchtitel: „Ganz normale Männer“ auf. Im Originaltitel ist die Ähnlichkeit noch offensichtlicher: Goldhagens Buch heißt „Hitler's willing executioners- ordinary Germans and the Holocaust“, während Brownings Buch im Original den Namen „Ordinary men: Reserve Police Bataillon 101 and the final solution in Poland“ trägt. Aus „ordinary men“ machte Goldhagen also „ordinary Germans“.
Während Brownings Untersuchung in der breiten Öffentlichkeit wenig Aufmerksamkeit erregte, löste Goldhagens Buch in Deutschland eine große Debatte unter Journalisten und Historikern aus, noch bevor es erschien. Von Seiten der Historiker erntete Goldhagen hierbei in den meisten Fällen negative Kritik.
Ausgelöst hatte die große Aufmerksamkeit die Wochenzeitschrift „Die Zeit“. Im April 1996, bereits vier Monate vor Erscheinen der deutschen Version von „Hitlers willige Vollstrecker“ druckte die „Zeit“ vorab einige Seiten des Textes. In den kommenden Monaten äußerte sich jede Woche ein anderer Historiker mit Kritik an Goldhagen, darunter namhafte Vertreter der Zunft, wie Norbert Frei, Hans Ulrich Wehler und Hans Mommsen. Den Auftakt machte am 12. April, parallel zum Vorabdruck, Volker Ullrich. Eine Woche später folgte dann Christopher Browning. Auch in anderen Zeitschriften und Tageszeitungen meldeten sich Journalisten und Historiker zu Wort. Rudolf Augstein verunglimpfte Goldhagen im Spiegel als einen „Scharfrichter“.[1] Guido Knopp lud Goldhagen zu einer Fernsehdebatte mit Historikern, Zeitzeugen und einem Wehrmachtsgeneral, Goldhagen fuhr mit Bodyguards vor. Die Diskussion, die Knopp, passend zu seiner kurz darauf im ZDF ausgestrahlten Reihe „Hitlers Helfer“, einfach mal „Hitlers willige Helfer“ taufte, endete in einer Diskussion darüber, wie viele Deutsche vom Holocaust gewusst haben, und war damit gänzlich vom eigentlichem Thema abgekommen.
Peter Gauweiler regte sich in bester rechtspopulistischer Manier darüber auf, dass Goldhagen nun mit seinem Buch in Deutschland sehr viel Geld verdiene.[2] Norman Finkelstein stieß ins gleiche Horn und schrieb, dass Goldhagens wahre Intention die Verteidigung israelischer Siedlungspolitik sei.[3]
Auf die zahlreichen „sideshows“ dieser Art möchte ich in meiner Hausarbeit nicht eingehen. Auch seriöse Kritik von angesehenen Historikern wie Raul Hilberg oder Norbert Frei werden in meiner Arbeit nur eine Nebenrolle spielen, denn primär möchte ich mich auf Brownings und Goldhagens Bücher und ihre Aussagen konzentrieren und die elementaren Unterschiede herausarbeiten. Zum Abschluss werde ich Beiträge aus der Debatte in der „Zeit“ untersuchen, meine Aufmerksamkeit hierbei aber in erster Linie auf die Beiträge von Goldhagen und Browning richten.
Da beiden Autoren die gleichen Quellen zur Verfügung standen, ist es sehr interessant zu sehen, wie unterschiedlich sie diese interpretierten, wer welche Quellen nutzte und welche nicht, und insbesondere natürlich welche verschiedenen Schlüsse die beiden zogen. War es ein wahnhafter Antisemitismus der die Polizisten dazu trieb, Juden mit Begeisterung und obendrein „brutaler als nötig“ zu töten? Oder ist die Realität weit komplexer und kann nur ein Gemisch aus verschiedenen Erklärungsansätzen helfen, die Frage nach den Motiven der Täter zu beantworten?
In meiner Arbeit möchte ich mich auf die Suche nach Antworten auf diese Fragen begeben.
Die Quellenlage und das Zeitzeugen-Problem
Sowohl Browning als auch Goldhagen stützen sich in ihren Büchern auf die Aussagen der ehemaligen Angehörigen des Polizeibataillons bei Gerichtsverhandlungen aus den Jahren 1962 bis 1972.[4]
Beide Autoren waren in Ludwigsburg bei der Strafverfolgungsbehörde, um die Aussagen der Polizisten zu studieren. Die Aussagen aus den sechziger und siebziger Jahren betreffen Taten aus dem Zeitraum von 1941-1943. Zudem handelt es sich häufig um die Aussagen angeklagter Täter sowie um Aussagen von Zeugen, die über ehemalige „Kameraden“ sprechen.
Derartige Quellen müssen sehr kritisch gesehen werden: Menschen verfügen über unterschiedlich gute Reflexionsfähigkeit, außerdem sind einige Menschen in der Lage, sich besser zu artikulieren als andere.[5] Die objektive Erinnerung gibt es nicht: Gefühle spielen eine Rolle, spätere Erfahrungen und Einsichten mischen sich interpretierend ein – besonders dann, wenn eine Person in den sechziger Jahren über die Zeit des Nationalsozialismus, des zweiten Weltkriegs und des Holocausts spricht, über eine Zeit also, in der gänzlich andere Vorstellungen von Moral und Menschlichkeit vorherrschten als zur Zeit der Aussage.
Speziell bei Tätern des Holocausts sollte man natürlich bedenken, dass einige Zeitzeugen mehr verbergen als erzählen wollen.[6] Das gilt für Täter, die z.B. in Fernsehsendungen vom Holocaust berichten, für solche, die vor Gericht stehen, gilt es selbstverständlich noch mehr. Die Männer wollten sich natürlich nicht selbst belasten und in den allermeisten Fällen auch ihre ehemaligen Kollegen nicht. Da bei den Verhandlungen nach nationalsozialistischem Recht beurteilt wurde, konnten einige Taten allerdings schon benannt werden.[7] Viele Taten waren offiziell aber auch mit diesem Strafrecht nicht vereinbar. Heiner Lichtenstein hatte 1968 als Journalist für den WDR die Prozesse gegen die Angehörigen einer anderen Polizeieinheit, dem Bataillon 309, in Wuppertal beobachtet. In seinem Buch „Himmlers Grüne Helfer“, welches 1990 und somit zwei Jahre vor Browning und sechs Jahre vor Goldhagen erschien, schreibt er: „[W]as sie [die Angeklagten] dem Schwurgericht an Lügen zugemutet haben, spottet jeder Beschreibung.“[8]
Laut Ulrike Jureit gleichen Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden „Erfahrungssynthesen“, denen ein langwieriger Interpretationsprozess vorangegangen ist und die von zahlreichen Überlagerungen geprägt sind.[9]
Gerade wenn es um die Erinnerungen an ein so dramatischen Ereignis wie den Holocaust geht, ist besondere Vorsicht geboten. Während Opfer durch ihre schrecklichen Erlebnisse Traumata erlitten haben können, werden Zeugen und ganz besonders Täter teilweise verdrängen wollen, was sie gesehen oder getan haben. Der Psychoanalytiker Dori Laub spricht beim Holocaust daher von einem „Ereignis ohne Zeugen.“[10]
Beide Autoren benennen diese Problematik in ihren Veröffentlichungen. Ein bedeutender Unterschied ist jedoch der, dass Browning dies im Vorwort tut, während Goldhagen das erste Mal auf Seite 309 in einem kurzen Satz darauf zu sprechen kommt und etwas ausführlicher erst im Kapitel „Bemerkungen zur Methode“ ab Seite 545.
Browning erklärt, dass Vernehmungsprotokolle von 210 Beteiligten vorlagen. Bei einer Bataillonsstärke von 500 Mann könne man hier von einer repräsentativen Auswertung sprechen.[11] „Außerdem erscheinen rund 125 Täteraussagen so weit überzeugend, dass sie eine detaillierte Darstellung und Analyse der inneren Dynamik dieser Mordtruppe erlauben.“[12] Er benennt auch die Gefahren der Verdrängung, des Vergessens, des Lügens, und der Angst vor Verurteilung.[13]
Browning ist aber auch der Ansicht, dass die Täter in diesem Prozess mit einer „Offenheit und Freizügigkeit aussagten, wie sie in anderen Akten nicht zu finden seien.“[14] Goldhagen benennt die gleichen problematischen Punkte, wie Browning. Er ist darüber hinaus jedoch der Ansicht, dass alle „apolegetischen“ Aussagen zu ignorieren sein, sofern sie nicht durch andere Quellen bestätigt werden.[15]
Das Polizeibataillon 101
Der Gegenstand der Untersuchungen, das Polizeibataillon 101, bestand zum Großteil aus Reservepolizisten aus dem Hamburger Raum. Polizeibataillone waren ursprünglich nicht für den Einsatz im Krieg vorgesehen.[16] Das Durchschnittsalter der Angehörigen lag bei 39 Jahren und war somit deutlich höher als bei Kompanien der Wehrmacht oder der SS.[17] Die Polizisten verfügten in den seltensten Fällen über militärische Erfahrung, da sie als Ordnungspolizisten vom Militärdienst freigestellt worden waren.[18] Lediglich einige der ältesten Bataillonsangehörigen brachten militärische Erfahrung aus dem Ersten Weltkrieg mit.[19] Diese Kriegserfahrung einiger Polizisten erwähnt Goldhagen nicht. Er schreibt: „Da diese Männer zuvor noch keiner anderen militärischen oder polizeilichen Institution angehört hatten, waren sie wohl kaum besonders kriegerisch.“[20] Auf die militärische Erfahrung kleiner Teile des Bataillons geht er auch an späterer Stelle nicht ein.
Eine Frage, die sich beide Autoren stellen und die beide verneinen, ist die, ob die Polizisten besonders „geeignet“ dazu waren, zu Massenmördern zu werden. Die geringe militärische Erfahrung spricht dagegen. Auch im Punkt der geographischen Herkunft der Polizisten sind sich beide Autoren einig, dass diese eher auf wenig Affinität zum Nationalsozialismus hindeute. „Die meisten von ihnen kamen aus Hamburg, das im Ruf steht, zu den am wenigsten nationalsozialistisch ausgerichteten deutschen Großstädten gehört zu haben.“[21]
Browning und Goldhagen meinen beide, dass die Polizisten einen „Querschnitt der Bevölkerung“ darstellten, auch wenn Angehörige der unteren Mittelschicht überdurchschnittlich stark vertreten waren (61,9 % im Bataillon, 42,6 % in der Bevölkerung) und die Arbeiterschaft unterrepräsentiert war (35,1 % im Bataillon, 54,6 % in der Bevölkerung).[22]
Goldhagen schreibt, dass 32,5 % der Polizisten Mitglieder der NSDAP waren. Bei den Mannschaftsdienstgraden lag die Zahl bei 25 %.[23]
Browning schreibt von 502 Bataillonsangehörigen und Goldhagen von 550.[24] Da beide Autoren die gleichen Quellen verwendeten, irritieren die unterschiedlichen Zahlen, für die Untersuchung insgesamt sind sie aber nicht von großer Relevanz.
Major Trapp und das Massaker von Jozefow
Während man bis hierhin also noch von weitgehender Übereinstimmung bei Browning und Goldhagen sprechen kann, ist es erstaunlich, wie unterschiedlich sich die Darstellung des gleichen Ereignisses trotz gleicher Quellenlage beider Autoren liest. Gemeint ist das Massaker in der Stadt Jozefow. Am 11. Juli 1942 erhielt das Bataillon von ihrem Major Trapp den ersten Mordauftrag in Polen. Die „arbeitsfähigen“ Juden der Stadt Jozefow sollten in ein Lager deportiert werden, Alte, Kranke, Frauen, Kinder und alle, die Widerstand leisteten, sollten erschossen werden.[25]
Der Major stellte hierbei den Polizisten frei, nicht an den Erschießungen teilzunehmen.[26]
Trapp schien sichtlich mitgenommen von dem Auftrag. Er behagte ihm gar nicht und berührte ihn emotional offenbar sehr. Browning schreibt: „Trapp war bleich und nervös, hatte Tränen in den Augen und kämpfte beim Reden sichtlich darum, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Das Bataillon stehe vor einer furchtbar unangenehmen Aufgabe, erklärte er mit tränenerstickter Stimme.“[27] Er ergänzte, dass es den Polizisten vielleicht leichter fiele, den Auftrag auszuführen, wenn sie an die Bomben denken, die in der Heimat auf Frauen und Kinder niedergingen. Dann machte er sein Angebot: Wer sich der Aufgabe nicht gewachsen fühle, könne beiseite treten.[28] Von diesem Angebot machte zuerst ein einziger Polizist Gebrauch. Hierfür wurde er von einem Hauptmann beschimpft. Trapp unterbrach den Hauptmann jedoch und nahm den Polizisten in Schutz. Nun traten ca. zehn weitere Polizisten vor. Dabei blieb es.[29] Auf den kommenden Seiten geht Browning immer wieder ausführlich auf Trapps offensichtliche Probleme mit dem Auftrag ein. Er schreibt, dass Trapp sich von den Erschießungen fernhielt, da er den Anblick nicht ertragen konnte, dass er bei mehreren Gelegenheiten auch vor Untergebenen bitterlich weinte und sogar vor seinem Fahrer seine Verzweiflung zum Ausdruck brachte.[30]
[...]
[1] vgl. Augstein, 1996, S.29
[2] vgl. Gauweiler, 1996, S.2
[3] vgl. Finkelstein, 1997, S. 60 f.
[4] vgl. Browning, 1992, S.13
[5] vgl. Ruttmann, 1988, S.54
[6] vgl. Grabe, 1988, S.223
[7] vgl. Browning, 1992, S.192
[8] Lichtenstein, 1990, S.12
[9] vgl. Keilbach, 2008, S.195
[10] vgl. Keilbach, 2008, S.155
[11] vgl. Browning, 1992, S.13
[12] Browning, 1992, S.13
[13] vgl. Browning, 1992, S.14
[14] Browning, 1992, S.13
[15] Goldhagen, 1996, S.547
[16] Browning, 1992, S.26
[17] vgl. Browning, 1992, S. 69
[18] vgl. Browning, 1992, S.25
[19] vgl. Browning, 1992, S.66
[20] Goldhagen, 1996, S.246
[21] Browning, 1992, S.70
[22] vgl. Goldhagen 1996, S. 247 u. Browning , 1992, S.70
[23] vgl. Browning, 1992, S.69 u. Goldhagen, 1996, S.248
[24] vgl. Goldhagen, 1996, S.247 u. Browning, 1992, S.66
[25] vgl. Browning, 1992, S. 86
[26] vgl. Browning, 1992, S.22
[27] Browning, 1992, S.22
[28] vgl. Browning, 1992, S.22
[29] vgl. Browning, 1992, S.88
[30] vgl browning, 1992, S 88-90