Der Begriff der Identität ist heute im alltäglichen Sprachgebrauch eingebunden und wird quasi inflationär benutzt, wenngleich seine genaue Bedeutung oft undifferenziert bleibt. In verschiedensten Kontexten ist die Rede von Personen, Unternehmen oder politischen Parteien, die sich in einer Identitätskrise befinden und jeder von uns hat sein eigenes Bild davon, was das im Speziellen bedeuten möge. Doch was ist eigentlich Identität und wie wird sie (heute) gebildet? Welchen Herausforderungen ist das einzelne Individuum dabei ausgesetzt? Wann bricht eine Identität zusammen? Hintergrund dieser Arbeit soll es sein, aufzuzeigen wie Identität konstruiert wird, welche Faktoren diesen Konstruktionsprozess bedrohen können und wie sich eine gestörte Identitätsentwicklung äußern kann. Am Beispiel der 'Dissoziativen Identitätsstörung' (DIS) – vielen wahrscheinlich eher noch unter der veralteten Bezeichnung 'Multiple Persönlichkeitsstörung' bekannt – möchte ich verdeutlichen, wie die individuelle Identitätsarbeit durch traumatisierende Ereignisse gestört werden kann. Dabei soll auf Symptome dieser Erkrankung, auf das Erleben der Störung durch die Betroffenen und auf jene Faktoren eingegangen werden, die einen Menschen auch nach der Verwicklung in traumatisierende Kontexte vor der Erkrankung an DIS schützen können. Im abschließenden Bezug zur Sozialen Arbeit möchte ich darauf eingehen, warum der Erwerb von Grundkenntnissen über Identität sowie über Abläufe und Auswirkungen psychischer Traumatisierung für verschiedene Wirkungsfelder dieser Profession künftig eine immer bedeutsamere Rolle spielen wird.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Was ist Identitat und wie wird sie gebildet?
1.1. Was ist Identitat? - Versuch einer Eingrenzung
1.2. Identitatstheorie nach George Herbert Mead
1.3. Identitatstheorie nach Erik Homburger Erikson
1.4. Identitatstheorie nach Heiner Keupp
2. Storung einer gesunden Identitatsentwicklung durch Traumatisierung
2.1. Begriffseingrenzung und traumatisierende Kontexte
2.2. Symptomatik und Auswirkungen auf das Leben
3. DissoziativeIdentitatsstorung
3.1. Geschichte und Pravalenz der Dissoziativen Identitatsstorung (DIS)
3.2. Symptomatik und Ursachen
3.3. Erleben der Betroffenen und Komorbiditat
3.4. Resilienz-, Vulnerabilitats-, Schutz- und Risikofaktoren
4. Zusammenfassung und Fazit zum Verstandnis von Identitat und DIS in der Sozialen Arbeit
4.1. Zusammenfassung
4.2. Fazit mit Ausblick auf die Soziale Arbeit
Literatur- und Quellenverzeichnis
Einleitung
"Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinanderhangen, daBjeder von ihnenjeden Augenblick flattert,wie er will; daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den anderen."
Michel de Montaigne (1533-1592), franzosischer Politiker und Philosoph
Der Begriff der Identitat ist heute im alltaglichen Sprachgebrauch eingebunden und wird quasi inflationar benutzt, wenngleich seine genaue Bedeutung oft undifferenziert bleibt. In verschiedensten Kontexten ist die Rede von Personen, Unternehmen oder politischen Parteien, die sich in einer Identitatskrise befinden und jeder von uns hat sein eigenes Bild davon, was das im Speziellen bedeuten moge. Doch was ist eigentlich Identitat und wie wird sie (heute) gebildet? Welchen Herausforderungen ist das einzelne Individuum dabei ausgesetzt? Wann bricht eine Identitat zusammen? Hintergrund dieser Arbeit soll es sein, aufzuzeigen wie Identitat konstruiert wird, welche Faktoren diesen Konstruktionsprozess bedrohen konnen und wie sich eine gestorte Identitatsentwicklung auBern kann. Am Beispiel der 'Dissoziativen Identitatsstorung' (DIS) - vielen wahrscheinlich eher noch unter der veralteten Bezeichnung 'Multiple Personlichkeitsstorung' bekannt - mochte ich verdeutlichen, wie die individuelle Identitatsarbeit durch traumatisierende Ereignisse gestort werden kann. Dabei soll auf Symptome dieser Erkrankung, auf das Erleben der Storung durch die Betroffenen und auf jene Faktoren eingegangen werden, die einen Menschen auch nach der Verwicklung in traumatisierende Kontexte vor der Erkrankung an DIS schutzen konnen.
Im abschlieBenden Bezug zur Sozialen Arbeit mochte ich darauf eingehen, warum der Erwerb von Grundkenntnissen uber Identitat sowie uber Ablaufe und Auswirkungen psychischer Traumatisierung fur verschiedene Wirkungsfelder dieser Profession kunftig eine immer bedeutsamere Rolle spielen wird.
1. Was ist Identitat und wie wird sie gebildet?
1.1. Was ist Identitat? - Versuch einer Eingrenzung
Der Begriff der Identitat ist paradox. Er beschreibt einerseits eine Gleichheit, anderseits aber auch eine Einzigartig oder Unverwechselbarkeit. Bereits die Stoiker der griechischen Antike verwendeten den Begriff in seiner Bedeutung des logisch- mathematischen Zusammenhangs a=a. Auf ihrer Erkenntnis basiert die lateinische Formel principium identitatis indiscernibilium (Identitat des Ununterscheidbaren), die besagt, dass es keine qualitativ absolut identischen aber real verschiedenen Dinge gibt. Rene Descartes (1596-1650) beschrieb die menschliche Seele als die zentrale Instanz, die die eigentumliche Personlichkeit des Menschen ausmacht. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) verneinte unisono die Existenz zweier vollkommen gleicher Dinge unter der Begrundung, dass die Unterscheidung zweier Individuen in einem solchen Fall unmoglich sei. Bis heute wurde der Begriff durch zahlreiche bedeutsame Denker aufgegriffen, umrissen und variiert, unter anderem von Immanuel Kant, Johann G. Fichte, Georg W. F. Hegel oder Sigmund Freud. Daran lasst sich erkennen, dass die Frage nach dem Wesen, der Identitat, des Menschen die Gelehrten verschiedenster wissenschaftlicher Disziplinen beschaftigte und das bis heute tut.
Bezogen auf den in dieser Abhandlung relevanten Bereich der Humanwissenschaften lasst sich Identitat als eine Art unverwechselbare Personlichkeit, als die Eigentumlichkeit des individuellen Wesens eines Menschen, beschreiben. Die ursprungliche logisch-mathematische Bedeutung des Begriffes im Sinne der Deckungsgleichheit zweier Dinge wird hier als strukturelle Einheitlichkeit interpretiert, nach der sich der jeweilige Mensch in allen Merkmalszusammenhangen immer als der Gleiche wahrnimmt. Identitat beschreibt also im Detail eine Kombination oder ein Set von Merkmalen, das es ermoglicht, ein Individuum von anderen zu unterscheiden, es zu identifizieren. Neben Merkmalen der Identifizierung beinhaltet der Begriff aber auch bestimmte gesellschaftliche Funktionen und Rollen einer Person sowie die in Auseinandersetzung mit ihren zeitlebens gemachten personlichen Erfahrungen verinnerlichten Bedeutungen ihrer eigenen Geschichte, ihrer Biografie. Trotz der Komplexitat des Begriffes ist man sich heute weitgehend einig daruber, dass Identitat ein unstatisches und lebenslang anzupassendes Ergebnis kommunikativer Prozesse ist, das vorwiegend durch die in Interaktion erschlossenen Erfahrungen sowie Lern- und Reflexionsprozessen konstruiert wird.
Der US-amerikanische Philosoph und Psychologe George Herbert Mead (1863-1931) gilt heute als einer der bedeutendsten Identitatsforscher des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Er bezog sich zunachst vor allem auf Ausfuhrungen David Emile Durkheims, der deklarierte, dass jedem Menschen ein individuelles und ein soziales Wesen innewohne und daher anzunehmen sei, dass Individualitat als Produkt der Wesensformung durch Sozialisation und damit uber den Kontakt mit Anderen entstunde. Mead adaptierte den Begriff des individuellen Wesens zu dem unbewussten und nicht bewusstmachbaren Identitatsanteil 'I' (oder: impulsives Ich), jenen des sozialen Wesens zu 'Me' (oder: reflektiertes Ich), einer eigenen Wiederspiegelung der Haltung Anderer. Er verfolgte die Frage nach dem Zusammenspiel dieser beiden Wesenskerne unter Berucksichtigung der jeweils vollzogenen Sozialisation des Individuums, wobei er sich besonders fur die Ergrundung der Voraussetzungen und der Wirkungsweise sozialen Handelns interessierte.
Grundverstandnis von Meads Theorie ist, dass Identitat nicht angeboren, sondern das sich standig (ver)formende Resultat eines Interaktionsprozesses zwischen dem Individuum und der es umgebenden Gruppe ist. Eine Ausgangsposition der Identitatskonstruktion ist, dass man sich selbst nicht objektiv wahrnehmen kann und die Identitatsentwicklung somit vorwiegend von auBen bestimmt ist.
„Identitat entwickelt sich; sie ist bei der Geburt anfanglich nicht vorhanden, entsteht aber innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tatigkeitsprozesses, das heiBt im jeweiligen Individuum als Ergebnis seiner Beziehungen zu diesem Prozess als Ganzem und zu anderen Individuen innerhalb dieses Prozesses." (vgl. Mead 1998, S.177) Er ging davon aus, dass der Mensch anfangs eine sehr geringe Identitatsausbildung aufweist, da er zunachst auf den Kontakt zu einem sehr begrenzten Bezugspersonenkreis beschrankt ist (vor allem die Mutter). Mit zunehmender Ausweitung des Kontaktes zu einem groBeren und qualitativ differenzierteren Personenkreis erlangt das Kind uber Kommunikation die Fahigkeit, uber seine eigene Bedurfnis- und Erfahrungswahrnehmung hinauszuwachsen und seine eigene Person aus Sicht der anderen wahrzunehmen. Die zu dieser Entwicklung notige Kommunikation vollzieht sich nach Mead uber drei Medien: Sprache (inkl. Mimik und Gestik), nachahmendes (Rollen-)Spiel und Wettkampf. Fur besonders bedeutsam hielt er das uber das Medium Sprache transportierte Symbolsystem. Seine Uberlegungen zur symbolisch in Interaktionsprozessen vermittelten Bedeutungsubertragung von sozialen Objekten, Beziehungen und Situationen fasste Herbert Blumer, ein Schuler Meads, spater zur Theorie des Symbolischen Interaktionismus zusammen.
Mead sah die Fahigkeit zum Umgang mit dem Symbolsystem Sprache als Grundvoraussetzung fur den Vollzug jeglicher planvoller Handlungen und Interaktionen, da erst sie die Mitteilung und Entfaltung menschlicher Bedurfnisse ermogliche. Er unterschied dabei in zwei Formen: in Gesten, die er als angeborene und instinktive Kommunikationsformen nach einem einfachen Reiz-Reaktions-Prinzip definierte, und in Symbole, die der Mensch erst erlerne und deren Bedeutung zur erfolgreichen Kommunikation sowohl dem Sprecher als auch dem Horer bekannt sein musse. Er ging davon aus, dass wir unsere geauGerte Sprache gleichzeitig selbst wahrnehmen und in uns die] gleiche Reaktion auslosen, die wir auch im Empfanger auslosen (wollen). Koordinierte Handlungen sind dem Individuum nach Mead nur moglich, wenn es im zuvorgehenden Schritt eine Perspektivenubernahme (Empathie) vollziehen kann. Die uber diesen Schritt gewonnenen Sichtweisen (des Anderen) und Erfahrungen werden sodann in das Erfahrungrepertoire des Individuums und damit in seine eigene Personlichkeit integriert.
Neben jener der Sprache beschrieb Mead vor allem die besondere Bedeutung des nachahmenden Spiels bzw. Rollenspiels ('play') und des Wettspiels oder Wettkampfs ('game') fur die Identitatsentwicklung. Er kam zu dieser Einschatzung, da das Kind das mit dem Spracherwerb einhergehende Prinzip der Sozialisation der Sprache im nachahmenden Spiel auf den Kontext der Rollenubernahme adaptiere. Das bedeutet Folgendes: Der Saugling reagiert zunachst nur auf Gesten und Gebarden. Mit Beginn des Spracherwerbs entwickelt er jedoch - wie bereits oben genannt - die Fahigkeit zur Empathie. Mit der erfolgreichen Bedeutungsdekodierung gehorter Worte kann das Kind von nun an dem Sender (und zukunftigen Adressaten) seine Bedurfnisse in der vom Sender verstandlichen Sprache ubermitteln. Beide verfugen sodann uber ein System geteilter und damit sozialer Bedeutungen. Im nachahmenden Spiel identifiziert sich das Kind nun mit bestimmten Rollen und spielt diese nach (z. B. Vater-Mutter-Kind-Spiel). Es nimmt bislang jedoch jeweils nur eine Rolle ein, allenfalls kann es andere Rollen mit einem Mitspieler koordinieren. Der nachste Entwicklungsschritt ist der des so genannten Wettspiels. Mead beschrieb es als Kontext, in dem das Kind seine eigene Haltung mit der empathisch erfahrenen Haltung seiner Mitspieler zu koordinieren lernt, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Hintergrund dieses Verhaltens ist das Bestreben, soziale Sanktionen - wie etwa den Ausschluss aus der Gruppe - zu vermeiden und stattdessen soziale Anerkennung zu gewinnen. Wie bereits am Beispiel der gemeinsamen Bedeutungsdekodierung von Sprachsymbolen beschrieben, erfolgt nun auch hier eine Aufnahme der Haltung oder Perspektive einer Gruppe in das dem Kind eigene Repertoire. Es erwartet diese Perspektive kunftig von der Gruppe und macht sie daher zu einem Teil seines eigenen Selbst. Dieses Konstrukt der verinnerlichten Annahme der gesellschaftlichen Perspektive bezeichnet Mead als generalisierter Anderer und verortet es im Wesensteil des Me, dem reflektierten Ich- Anteil. Ab diesem Entwicklungsstand wird dem Kind uber Selbstreflexion in verschiedenen sozialen Situationen der Konflikt zwischen dem egozentrischen I (ego) und dem sozialen Me (alter) bewusst. Es wird eine koordinierende Vermittler-Instanz geschaffen, das Selbst ('Self'), im Modell Meads der Sitz von Personlichkeit und Identitat! Im Folgenden verdichten sich Haltungen von Gruppen oder der Gesellschaft zu Normen, Werten und Erwartungen. Die mit der Zunahme sozialer Kontakte einhergehende bestandige Konfrontation mit verschiedenen Perspektiven anderer Individuen provoziert das Selbst von nun an zeitlebens zu einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit und einer Neubewertung von Situationen und ihren Bedeutungen, da es auf eine moglichst gute Anpassung an die Umwelt abzielt.
"Der Einzelne erfahrt sich - nicht direkt, sondern nur indirekt - aus der besonderen Sicht anderer Mitglieder der gleichen gesellschaftlichen Gruppe oder aus der verallgemeinerten Sicht der gesellschaftlichen Gruppe als Ganzer, zu der er gehort. Denn er bringt die eigene Erfahrung als eine Identitat oder Personlichkeit nicht direkt oder unmittelbar ins Spiel, nicht indem er fur sich selbst zum Subjekt wird, sondern nur insoweit, als er zuerst zu einem Objekt fur sich selber wird, genauso wie andere Individuen fur ihn oder in seiner Erfahrung Objekte sind; er wird fur sich selbst nur zum Objekt, indem er die Haltung anderer Individuen gegenuber sich selbst innerhalb einer gesellschaftlichen Umwelt oder eines Erfahrungs- und Verhaltenskontextes einnimmt, in den er ebenso wie die anderen eingeschaltet ist." (vgl. Mead, 1973, S. 180)
Der Mensch entwickelt seine Identitat demnach, weil er einer Gruppe angehort und deren Institutionen, also ihre soziale Wirklichkeit mit ihren Rechten und Pflichten, durch Perspektivenubernahme in sein Wesen und damit in sein Verhaltensrepertoire einbindet. Das hat nach Mead den Hintergrund, den Zusammenhalt der Gruppe nach innen wie auGen zu starken. Zudem versteht Mead Identitat als ein Konglumerat aus Teilidentitaten, deren Teilidentitaten ausschnitthaft und in Abhangigkeit von Interaktionspartner und -situation offenbar werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Teil-ID 1 Teil-ID 2
Abb. 1.2.a Model! der Identitatsentstehung nach Mead
Nach Mead ist die Identitat demnach dann erfolgreich entwickelt, wenn das Individuum fahig ist, neue Perspektiven kontinuierlich in der Art und Weise durch reflexive Prozesse zu bearbeiten, dass das Resultat einerseits eine bestmogliche Anpassung an die jeweilige soziale Umwelt ist, daruber hinaus jedoch dennoch ein stabiles Selbstbild entstanden ist oder entstehen kann.
- Arbeit zitieren
- Patrick Hentschke (Autor:in), 2010, Dissoziative Identitätsstörung, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/159698