Essstörungen sind in unserer Gesellschaft ein zunehmendes Problem. Diese Verhaltensstörungen betreffen die Nahrungsaufnahme und gehen, wenn sich dieses Verhalten zu einer Sucht entwickelt, mit ernsthaften und auch langfristigen gesundheitlichen Schäden einher. Das zentrale Thema hierbei ist der zwanghafte Gedanke an Essen. Auch die emotionale Ebene wird dadurch stark belastet, da sich das ganze Leben der Betroffenen nur noch um den Gedanken essen oder nicht essen dreht. Zu den bekanntesten Essstörungen gehören Anorexia nervosa (Magersucht), Bulimia nervosa (Ess-Brech-Sucht), die Ess-Sucht und die Fressattacken (Binge Eating). Letztere können zu erheblichem Übergewicht, also zu Diagnose Adipositas, führen. Essstörungen, wie Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und weitere Unterformen sind ein sehr aktuelles Problem in unserer westlichen Überflussgesellschaft. Während Ess-Sucht oder die Fressattacken in der Gesellschaft nicht geschlechtsspezifisch unterteilt werden, ordnet die breite Öffentlichkeit Anorexia nervosa sowie Bulimia nervosa oftmals nur jungen Mädchen und Frauen zu. Auch die Wissenschaft hat sich lange Zeit nur mit der Problematik der Essstörungen aus weiblicher Sicht beschäftigt. Dieses Problem spiegelt sich auch in der geringen Anzahl der Untersuchungen hinsichtlich der Essstörungen bei Männern wieder. Die Publikationen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, zeigen deutlich, dass essgestörte Männer im Vergleich zu betroffenen Frauen nur einen sehr kleinen Anteil der Erkrankten ausmachen. Vielleicht liegt hier der Grund für das allgemein geringe Bewusstsein für das Problem essgestörter Männer. Diese Unwissenheit und die Tatsache, dass während dieser Zeit ein ehemaliger Mitschüler an den Spätfolgen der Anorexie gestorben war, veranlasste mich, meine Arbeit auf das „starke Geschlecht“ zu fokussieren.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretische Grundlagen
2.1 Historische Einführung
2.2 Diagnostik und klinische Erscheinungsformen der Anorexia nervosa
2.3 Epidemiologie von Anorexia nervosa
2.4 Verlauf der Anorexia nervosa und einige Therapieansätze
2.5 Katamnese- und Verlaufsstudien
3. Essstörungen bei Männern
3.1 Allgemeine Überlegungen
3.1.1 Spezifische Symptomatik
3.1.2 Komorbidität
3.1.3 Mortalität
3.2 Sozialisation und männliche Sozialisationskonzepte
3.2.1 Theorie der Sozialisation - Konzepte zur Männlichkeit nach Connell und Meuser
3.2.2 Männliche Sozialisation - Frühkindliche und familiäre Betrachtungsweisen nach Böhnisch und Winter
3.2.3 Sozialisatorische Einflüsse durch Institutionen
3.2.4 Sozialisation des erwachsenen Mannes
3.3 Die Ätiologie gestörten Essverhaltens beim männlichen Geschlecht
3.3.1 Biologische Faktoren
3.3.2 Soziokulturelle Aspekte der Essstörung
3.3.3 Psychologische Faktoren der Essstörungen
3.4 Das Erscheinungsbild von Essstörungen bei Männern
3.4.1 Das Alter bei Beginn der Anorexia nervosa
3.4.2 Sexuelle Orientierung essgestörter Männer
3.4.3 Gewicht, Körperschema und Diäten
3.4.4 Berufliche Tätigkeiten und sportliche Betätigung als Risikofaktor für Essstörungen
3.5 Kulturtheorie und Adonis-Komplex
3.5.1 Kulturtheoretischer Einblick
3.5.2 Neuer Mann - neuer Körper
3.5.3 Die wachsende Unzufriedenheit der Männer mit ihrem Äußeren
3.5.4 Der Adonis-Komplex
3.5.4.1 Beispielerkrankung für den Adonis-Komplex - Muskeldysmorphie
3.5.4.2 Männer mit Adonis-Komplex und Essstörungen
4. Fazit
5. Anhang
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Essstörungen sind in unserer Gesellschaft ein zunehmendes Problem. Diese Verhal- tensstörungen betreffen die Nahrungsaufnahme und gehen, wenn sich dieses Verhal- ten zu einer Sucht entwickelt, mit ernsthaften und auch langfristigen gesundheitli- chen Schäden einher. Das zentrale Thema hierbei ist der zwanghafte Gedanke an Essen. Auch die emotionale Ebene wird dadurch stark belastet, da sich das ganze Leben der Betroffenen nur noch um den Gedanken essen oder nicht essen dreht. Zu den bekanntesten Essstörungen gehören Anorexia nervosa (Magersucht), Bulimia nervosa (Ess-Brech-Sucht), die Ess-Sucht und die Fressattacken (Binge Eating). Letztere können zu erheblichem Übergewicht, also zu Diagnose Adipositas, führen. Essstörungen, wie Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und weitere Unterformen sind ein sehr aktuelles Problem in unserer westlichen Überflussgesellschaft. Während Ess-Sucht oder die Fressattacken in der Gesellschaft nicht geschlechtsspezifisch un- terteilt werden, ordnet die breite Öffentlichkeit Anorexia nervosa sowie Bulimia nervosa oftmals nur jungen Mädchen und Frauen zu. Auch die Wissenschaft hat sich lange Zeit nur mit der Problematik der Essstörungen aus weiblicher Sicht beschäftigt. Dieses Problem spiegelt sich auch in der geringen Anzahl der Untersuchungen hin- sichtlich der Essstörungen bei Männern wieder. Die Publikationen, die sich mit die- sem Thema beschäftigen, zeigen deutlich, dass essgestörte Männer im Vergleich zu betroffenen Frauen nur einen sehr kleinen Anteil der Erkrankten ausmachen. Viel- leicht liegt hier der Grund für das allgemein geringe Bewusstsein für das Problem essgestörter Männer.
Durch ein 10-wöchiges Praktikum auf einer psychosomatischen Station an der Uni- klinik Heidelberg hatte ich die Möglichkeit, Patienten mit ihren unterschiedlichen Krankheitsbildern kennen zu lernen. Hierbei traf ich auch auf viele Patientinnen mit der Diagnose Anorexia nervosa bzw. auch Bulimia nervosa. Da mich vor allem diese Krankheiten mit all ihren unterschiedlichen Facetten sehr interessierten, entschloss ich mich dazu, dieses Thema in meiner Magisterarbeit weiter zu verfolgen und mach- te mich auf die Suche nach geeigneter Literatur. Während dieser Literaturrecherchen fand ich fast ausschließlich Publikationen und Webseiten, welche sich mit essgestör- ten Frauen und jungen Mädchen beschäftigten und nur ansatzweise erwähnten, dass es auch Männer mit Essstörungen gibt. Dies und die Tatsache, dass während dieser Zeit ein ehemaliger Mitschüler an den Spätfolgen der Anorexie gestorben war, ver- anlasste mich, meine Arbeit auf das „starke Geschlecht“ zu fokussieren.
Weiterhin interessiere ich mich für den Umstand, dass sich nach einigen Experten- meinungen die Anzahl der erkrankten Männer erhöhe. Dies ist einer der Aspekte, welchen ich im Verlaufe meiner Magisterarbeit wieder aufgreifen werde. Unter dem zweiten Punkt meiner Arbeit werde ich auf die Definition von Anorexia nervosa, die Diagnosekriterien, den Verlauf, die Therapiemöglichkeiten und auf un- terschiedliche medizinische Gesichtspunkte eingehen. Der dritte Punkt meiner Arbeit wird den Hauptteil einleiten. Hierbei sollen als erstes allgemeine Gesichtspunkte der Anorexia nervosa bei Männern beleuchtet werden. Die Frage nach der Sozialisation von Jungen und Männern und die damit verbundenen Probleme durch die sich ver- ändernde Gleichberechtigung sollen hierbei eine wichtige Rolle spielen. Am Ende meiner Ausführungen über Anorexia nervosa bei Männern soll ein Einblick in den so genannten Adonis-Komplex stehen. Hierbei werden die Rolle der Medien und die sich ändernde Gesellschaft hinsichtlich des Blickes auf die beiden Geschlechter deut- lich gemacht. Der letzte Punkt in meiner Arbeit wird das Fazit sein. Hierbei sollen die Ergebnisse, welche sich in der Arbeit herauskristallisiert haben, nochmals ge- nannt und interpretiert werden. So soll abschließend versucht werden, die Frage zu klären, welche Rolle die Sozialisation der Jungen, die Medien sowie die Entwicklung der Gleichberechtigung bei der Herausbildung der Anorexia nervosa bei Männern spielen.
2. Theoretische Grundlagen
2.1 Historische Einführung
Hippokrates und einige seiner Zeitgenossen glaubten, dass das Fasten den Körper von Krankheiten heilen, die Seele von Giften reinigen und auch innere Unsicherhei- ten und Probleme lösen könne. Neben solch motiviertem Fasten wurde und wird das Verweigern des Essens auch als Druckmittel für die Verwirklichung politischer Zwecke verwendet. (vgl. Reich; 2003; S.1) Auch die mittelalterlichen Praktiken des Fastens, welche überwiegend religiösen Ursprung hatten, kann man nicht mit den heutigen Krankheitsbildern von Anorexie oder Bulimie vergleichen. Sicher stößt man hierbei auf gleiche Symptome, aber nur hinsichtlich der Folgen des Fastens für den Körper. Im Jahre 1873 wurde von dem französischen Professor für klinische Medizin Charles Lasègue vor dem Hintergrund von acht Fällen die erste Charakteris- tik der Magersucht als Krankheitsbild gegeben. Im Gegensatz zum bereits bekannten Fasten werden bei dieser Beschreibung die Unterschiede recht deutlich. Den Er- krankten beherrschen die Angst vor einer Gewichtszunahme und die Verleugnung der eigenen Krankheit. Ebenso kennzeichnend für Anorexia nervosa ist die Überakti- vität der Betroffenen, um Gewicht abzubauen und kein Fett anzusetzen. Bereits um die Jahrhundertwende von 19. zum 20. Jahrhundert bestand bei den meisten damali- gen Experten die „Übereinstimmung, dass es sich bei der Anorexia nervosa um eine psychische Erkrankung handelt.“1 Es gab aber auch viele Fehldiagnosen, welche Symptome der Anorexia nervosa beschrieben, aber die Betroffenen auf Drüsener- krankungen oder ähnliches behandelt wurden. Dadurch wurde der psychische Aspekt weit in den Hintergrund gedrängt und die behandelnden Experten stützten sich viel- mehr auf somatische Betrachtungsweisen. (vgl. Bader; 2006; S. 12)
Im Jahre 1969 wurden durch den Engländer Peter Dally die ersten diagnostischen Kriterien der Anorexie benannt und die rein somatische Betrachtungsweise dieser Krankheit korrigiert. (vgl. Franke; 2001; S. 356)
Hinsichtlich männlicher Betroffener wurden Essstörungen bis in die 70er Jahre we- nig beachtet, obwohl ein literarisch dokumentierter Fall im 17. Jahrhundert auf eine so genannte Pubertätsmagersucht hinweist. Dokumentiert wurde dieser Fall im Jahre 1689 von dem englischen Arzt Richard Morton. Eine weitere Fallbeschreibung stammt aus dem 18. Jahrhundert, welche sich auf einen jungen Mann bezieht, der 78 Tage lang gefastet hatte und dann verstarb. (vgl. Krenn; 2003; S. 13) Ein Grund für die geringe Beachtung der Krankheit bei Männern war die Annahme, dass die Nahrungsverweigerung nur ein Symptom für psychotische Erkrankungen sei. Überlegungen, zum Beispiel die nach Andersen (1990), welche aussagen, dass die Nahrungsverweigerung aus Angst vor einer oralen Schwängerung erfolge, wurden zu Beginn und Mitte des 20. Jahrhunderts als eine zentrale E]rklärung für Anorexia ner- vosa aufgeführt. Viele Autoren und Wissenschaftler sehen außerdem das Ausbleiben der Regelblutung als ein zentrales Symptom für eine Erkrankung an Anorexia nervo- sa. (vgl. Krenn; 2003; S. 14) Da sich diese Erklärungen ausschließlich auf Frauen und junge Mädchen beschränken, wurde die Möglichkeit, ein Mann könne an Anore- xia nervosa erkranken, so gut wie ausgeschlossen. Dies ist wahrscheinlich auch der Grund für die seltenen Forschungen und das mangelnde Wissen über an Anorexia nervosa erkrankten männlichen Patienten. (vgl. Krenn; 2003; S. 13) Nachdem die Krankheit bis 1873 als „Apepsia hysterica“ bekannt war, bekam sie 1874 durch William Gull den Namen „Anorexia nervosa“. (vgl. Fichter; 1985) Damit sollte deutlich gemacht werden, dass Essstörungen nicht nur bei Frauen auftreten, wie der Begriff „Hysterie“ vermuten lassen könnte (griechisch „hystera“ bedeutet Gebärmutter), sondern auch bei Männer eine Gefahr darstellen können. (vgl. Krenn; 2003; S. 14)
2.2 Diagnostik und klinische Erscheinungsformen der Anorexia nervosa
Nach Bruch werden Essgestörte als Menschen beschrieben, „für die das Essen die missbräuchliche Funktion hat, Probleme, die ansonsten unlösbar erscheinen, auf diese Art zu bewältigen.“2
Die Definition des Begriffs „Anorexie“ bedeutet wörtlich übersetzt „Appetitlosig- keit“. Diese Übersetzung kann irreleitend sein, da die betroffenen Männer und Frau- en nicht an einer Appetitlosigkeit leiden. Der Begriff „nervosa“ deutet aber an, dass bei dieser Krankheit eine „differentialdiagnostische Abgrenzung zu somatischen, psychosomatischen und psychischen Erkrankungen mit ähnlichen Symptomclustern (z.B. Erkrankungen des Magen-/Darm-Trakts, Tumorerkrankungen, Depressionen etc.)“3 besteht.
Die unterschiedlichen Ausprägungen von Essstörungen werden aktuell im DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association) aufgelistet. Neben Anorexia nervosa, Bulimia nervosa werden außerdem nicht näher bezeichnete Essstörungen („Eating disorders not otherwise specified“) sowie die Binge Eating Störung (deutsche Fassung des DSM-IV: „Essstörung mit Fressanfällen“) dargelegt. (vgl. Reich; 2003; S.5)
Bevor eine Diagnostik einer Essstörung überhaupt stattfindet, nimmt man bei den Betroffenen häufig ein gestörtes Essverhalten wahr. Hierbei werden ein Missbrauch des Essens, eine gestörte Wahrnehmung und eine übersteigerte kritische Einstellung zum eigenen Körper deutlich. Das Essen bei einem gestörten Essverhalten zeichnet sich durch Angst des Betroffenen, an Gewicht zuzunehmen, aus. Weiterhin ist es außenorientiert, wird als Mittel zur Stressbewältigung verwendet und ist oftmals stark stimmungsabhängig. Merkmale einer gestörten Körperwahrnehmung sind unter anderem eine ständige und kritische Kontrolle bzw. Beobachtung des eigenen Kör- pers, Übertreibung oder Vernachlässigung der Körperpflege und eine starke Unzu- friedenheit und intensivere Beschäftigung mit einzelnen Körperpartien. (vgl. Reich; 2003; S.5-6) Die an Anorexia nervosa erkrankten Patienten sind von der Angst be- sessen, an Gewicht zuzunehmen, und halten daher ihr Körpergewicht unter der Norm, welche der Body Mass Index (BMI) anzeigt. Laut ICD-10 der WHO (International Classification of Mental and Behavioral Disorders) beginnt die Anorexie bei einem BMI-Wert von 17,5 oder weniger. Diese Gewichtsbestimmung durch einen Experten ist eine der ersten diagnostischen Untersuchungen, welche zur Erkennung von Ano- rexia nervosa führt. (vgl. Bader; 2006; S. 24-15) Diese extreme Kontrolle des eige- nen Körpergewichts wird oftmals nur durch Erbrechen, Abführmittel- oder Appetits- züglermissbrauch erreicht. Die Körperwahrnehmung der Betroffenen ist meist so wahnhaft gestört, dass sie ihr Gewicht und ihren Körper nicht mehr realistisch wahr- nehmen können. (vgl. Reich; 2003; S. 8) Experten diskutieren immer häufiger dar- über, ob sich diese gestörte Körperwahrnehmung erst durch die Anorexia nervosa entwickelt oder ob dieses Defizit schon vor Ausbruch der Krankheit besteht. Wichtig ist aber, dass man bei Therapien gerade auf diese Körperwahrnehmung eingeht, da sich hieraus eine Prognose zum zukünftigen Krankheitsverlauf ergibt. (vgl. Bader; 2006; S. 15)
Die Anorexia nervosa (F 50.0) wird in der ICD-10 wie folgt diagnostiziert:
1. Körpergewicht mindestens 15% unter dem erwarteten oder Quetelets-Index (BMI) von 17,5 oder weniger
2. Gewichtsverlust selbst herbeigeführt durch:
a. Vermeidung von hochkalorischen Speisen und eine oder mehrerer der fol- genden Möglichkeiten:
b. selbstinduziertes Erbrechen
c. selbstinduziertes Abführen
d. übertriebene körperliche Aktivitäten
e. Gebrauch von Appetitzüglern und/oder Diuretika
3. Körperschema-Störung als eine tief verwurzelte überwertige Idee; sehr niedrige Gewichtsschwelle
4. Endokrine Störung (Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse): Amenorrhoe (bei Männern: Libido- und Potenzverlust) Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte verzögert oder gehemmt
(Reich, G.: Familientherapie der Essstörungen; 2003; S. 8)
Da sich oftmals nicht alle oben aufgeführten Kriterien in einer Diagnose vereinen, spricht man nach der ICD-10 auch von einer atypischen Anorexia nervosa (F 50.1). Diese Diagnose wird bei Untergewichtigen gestellt, welche nicht mit 15% unter dem Idealgewicht liegen. Außerdem wird eine gestörte Körperwahrnehmung und, bei Frauen, eine sekundäre Amenorrhoe vorausgesetzt. Wie oben schon genannt, wird Anorexia nervosa auch im DSM-IV nach ähnlichen Kriterien erläutert. Dort wird neben den sich überschneidenden Kriterien im ICD-10 auch die Verleugnung der Krankheit durch die Betroffenen mit in die Definition aufgenommen. (vgl. Reich; 2003; S. 8-9)
Im DSM-IV (Kodierung 307.1) werden die Diagnosekriterien der Anorexia nervosa wie folgt beschrieben:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Krenn, H.: Eßstörungen bei Männern Charakteristika des Verlaufs von Anorexia nervosa und Bulimia nervosa bei Männern und Vergleich mit einer weiblichen Stichprobe; 2003; S. 16)
Wie man an den genannten Kriterien erkennen kann, wird eigentlich nicht zwischen erkrankten Frauen und Männern unterschieden. Man geht davon aus, dass sich die Symptomatik dieser Krankheit auf beide Geschlechter gleich auswirkt. Aber wie man in den ICD-10 Kriterien sehen kann, wird ein Äquivalent zu dem Kriterium der Amenorrhoe gesucht. Hierbei werden der Libidoverlust, eine sexuelle Funktionsein- schränkung oder die Abnahme der Plasma-Testosteron-Werte um mindestens eine Standardabweichung als Kriterien für eine Anorexia nervosa bei Männern angesehen. (vgl. Krenn; 2003; S. 16)
Inzwischen werden in der Definition von Anorexia nervosa zwei Subtypen unter- schieden. Auf der einen Seite spricht man vom restriktiven Typ der Magersucht. Hierbei kommt es zu einer starken Gewichtsreduzierung und Gewichtskontrolle durch die Betroffenen, indem sie ihre Nahrungsaufnahme stark reduzieren und im weiteren Verlauf der Krankheit auch komplett auf jegliche Nahrung mit Fett und Kohlenhydraten verzichten. Den anderen Subtyp der Anorexia nervosa nennt man den bulimischen Typ oder auch Purging Typ. Die Betroffenen möchten, vergleichbar mit dem restriktiven Typ, ihr Gewicht reduzieren, werden aber immer wieder von Heißhungerattacken gequält. Um die so aufgenommenen „schlechten“ Fette und Kohlenhydrate wieder loszuwerden, führen die Patienten absichtlich Erbrechen her- bei und gleichzeitig soll durch übermäßigen Sport ein Ausgleich geschaffen werden. Nicht selten werden Mischformen der beiden Subtypen gefunden oder auch Fälle erkennbar, in denen die Betroffenen zwischen den beiden Typen immer wieder wechseln. (vgl. Bader; 2006; S.15)
Die bleibenden Schäden einer Anorexia nervosa sind nicht zu unterschätzen. Durch ein langjähriges Untergewicht kann es zu Osteoporoseerkrankungen kommen. Dies hängt, wie die Wissenschaft herausgefunden hat, mit dem Östradiolspiegel zusam- men. Da die Produktion der Geschlechtshormone bei betroffenen Frauen einge- schränkt ist, kommt es weiterhin zu Schädigungen im Knochenbau. Die Wirbelsäule ist dabei besonders betroffen. Oftmals müssen betroffene Erkrankte ständig ein Stützkorsett tragen, damit sie überhaupt ein annähernd normales Leben führen kön- nen.
Für Männer gilt die Reduktion der Sexualhormone als genauso wahrscheinlich wie für Frauen. Bei Männern, die an Anorexia nervosa erkranken, kann diese Krankheit „zum Verlust der Libido und der Potenz führen.“4 Weitere Begleiterscheinungen der Anorexia nervosa sind langsamer Herzrhythmus, niedrige Körpertemperatur und blasse trockene Haut. Außerdem kommt es zu Störungen der vegetativen Funktionen des Körpers, also Funktionen, welche man nicht willentlich steuern kann. Hierbei handelt es sich oftmals um eine verzögerte Entleerung des Magens, welche zusätz- lich die Darmtätigkeit beeinträchtigt. Die Folgen dieser Begleiterscheinung von Ano- rexia nervosa und die Tatsache, dass Betroffene nur sehr wenig Nahrung zu sich nehmen, führt zu einer Verstopfung, welche die Patienten meist mit Abführmitteln bekämpfen. Weitere Komplikationen kann es durch die geringe Wasseraufnahme der Betroffenen geben. Durch den Flüssigkeitsmangel im Körper der Erkrankten kann es zu einem Flüssigkeitsdefizit im Gehirn kommen. Hierbei wird die Gehirngröße reduziert, was wiederum zu emotionalen und kognitiven Einschränkungen führen kann. Durch eine Behandlung der Anorexia nervosa und einen guten Genesungsprozess ist die Wahrscheinlichkeit eines Rückgangs dieser Begleitsymptome allerdings sehr hoch. (vgl. Bader; 2006; S. 17f)
2.3 Epidemiologie von Anorexia nervosa
Untersuchungen hinsichtlich der epidemiologischen Verteilung von Anorexia nervo- sa haben gezeigt, dass diese wie auch andere Essstörungen vor allem in den westli- chen Industrieländern auftreten. Der Grund hierzu ist möglicherweise der Überfluss an Nahrungsmitteln und die damit verbundene überdimensionale Auswahl an, nicht immer unbedingt gesunden, Nahrungsmitteln. Oftmals haben Verbraucher einfach die Übersicht verloren. In Entwicklungsländern dagegen findet man Anorexia nervo- sa und andere Essstörungen nur selten. (vgl. Habermas; 1994; S. 23)
Wie schon in der Einleitung erwähnt, ist diese Krankheit überwiegend bei jungen Frauen und Mädchen verbreitet. Statistische Untersuchungen haben ergeben, dass der Anteil erkrankter Frauen bei 95 Prozent liege. Das Durchschnittsalter bei Beginn der Krankheit liegt bei Frauen ungefähr bei 17 Jahren. Nach Vergleichen mit Daten aus anderen Industrieländern kann man sagen, dass heute circa 0,5-1 Prozent der 14-18 jährigen Mädchen an Anorexie erkranken. Franke erläutert weiterhin, dass die Krankheit oftmals Mädchen der höheren städtischen Mittelschicht betrifft. (vgl. Fran- ke; 2001; S. 358)
Vor allem in der Sportwelt gibt es viele Spitzensportler, welche von Essstörungen betroffen sind. Hier kann man den Skispringer Sven Hannawald nennen. Er ist wohl einer der prominentesten Kranken, auch wenn er seine Krankheit nie öffentlich ge- macht hat. Aber auch Sportler in anderen Sportarten sind gefährdet. Ein Beispiel ist der Ruderer Bahne Rabe. Bei einer Größe von 2,03 Metern wog er am Ende seines Lebens nur noch 60 Kilogramm. (vgl. http://www.uli- sauer.de/laufen/stories/faz_bahne_rabe.htm)
Der Rennfahrer David Coulthard gesteht in seiner Biographie, an Bulimia nervosa gelitten zu haben. Er berichtet, dass es für ihn die einzige Möglichkeit war, sein Ge- wicht zu halten. Um den Traum, ein Rennfahrer zu werden, verwirklichen zu können, magerte er bei einer Größe von 1,83 Metern auf 57 Kilogramm ab. (vgl. http://www.focus.de/sport/formel1/david-coulthard_aid_70390.html) Auch bei Sportarten wie Turnen oder Ballett ist die Gefahr, an Essstörungen zu erkranken, groß. Aber auch bei anderen Berufsgruppen, wie z.B. bei Fotomodellen, sind Essstörungen keine Seltenheit.
Die Gesamtzahl aller Fälle einer Erkrankung oder Störung in der Bevölkerung defi- niert man als Prävalenz. Daten hinsichtlich der Prävalenz von Männern sind sehr schwer zu finden. Nach Herpertz schwanken die Daten bezüglich erkrankter Männer je nach Studie und Kriterien der Diagnose zwischen 5 und 10 Prozent aller an Essstö- rungen Erkrankter. (vgl. Herpertz; 2000; S. 475) Anhand einer Studie von Taraldsen, Eriksen und Götestam (1996) in Norwegen wurde herausgefunden, dass die Lebens- zeit-Prävalenz, welche angibt, wie viele Personen in der Bevölkerung jemals an einer bestimmten Krankheit oder Störung gelitten haben, für von Anorexia nervosa betrof- fene Männer 0 Prozent, im Gegensatz zu Frauen mit 5,2 Prozent, beträgt. Es ist aber wahrscheinlich, dass diese Lebenszeit-Prävalenz von 0 Prozent durch methodische Mängel entstanden ist. Auf der einen Seite wurden lediglich Selbsteinschätzungser- fahrungen mit einbezogen. Auf der anderen Seite wurde der in Punkt 2.2 genannte restrikive Typ der Anorexia nervosa nicht berücksichtigt. Laut Taraldsen et. al. (1996) wurde nur eine Rücklaufquote der Fragebögen von 64,3 Prozent ermittelt. (vgl. Krenn; 2003; S. 19) Aber auch andere Studien legen nahe, dass die Verbreitungshäu- figkeit bei Anorexia nervosa hinsichtlich der erkrankten Männer geringer ist als bei den erkrankten Frauen. Dass viele Forscher Männer bei ihren Studien ausschließen, liegt wohl auch daran, dass, wie schon erwähnt, als Kriterium das Vorliegen einer Amenorrhoe, d.h. eines Ausbleibens der Menstruation für mindestens drei aufeinan- der folgende Zyklen, als Notwendigkeit einer Diagnose aufgefasst wird. (vgl. Krenn; 2003; 19-20)
Während einer Studie zur Prävalenz von Essstörungen in der Normalbevölkerung von Woodside, Garfinkel, Lin, Goering, Kaplan, Goldbloom und Kennedy (2001) wurden nicht nur die kompletten Ausprägungen von Anorexia nervosa und Bulimia nervosa berücksichtigt, sondern auch subsydromale Ausprägungen betrachtet. Es fanden sich 62 Männer und 212 Frauen, welche die Kriterien für die Diagnose einer Anorexia nervosa oder einer Bulimia nervosa nach DSM-III-R voll oder teilweise erfüllten. Weiterhin musste das Gewichtskriterium, welches in Punkt 2.2 DSM-IV bereits erwähnt wurde, erfüllt sein, eines der anderen Kriterien konnte dafür fehlen. Als Ergebnis stellte sich eine Prävalenz von 0,16 Prozent für eine volle Anorexia nervosa und 0,76 Prozent für eine Teilsymptomatik der Anorexia nervosa dar. Das Verhältnis der Geschlechter lag bei 1:4,2 (Männer zu Frauen) für volle Symptome und 1:1,5 (Männer zu Frauen) für Teilsymptome. Die Männer zeigten also signifi- kant geringere Essstörungen auf als Frauen. (vgl. Krenn; 2003; S. 20)
2.4 Verlauf der Anorexia nervosa und einige Therapieansätze
Bei der Behandlung von Essstörungen hat es sich nicht bewährt, ausschließlich auf die medikamentöse Vergabe von Psychopharmaka zu setzen. Diese Art der Behand- lung sollte nur als eine Ergänzung zur den wichtigeren psychotherapeutischen Ver- fahren gesehen werden. Die unterschiedlichen Psychopharmaka helfen den Patienten zwar bei der Gewichtszunahme und der Überwindung psychosomatischer Symptome, aber die tiefsitzenden psychischen Gründe der Krankheit werden dadurch nicht be- rührt. Damit es überhaupt zu einer erfolgreichen Behandlung kommen kann, muss der Wille des Betroffenen sehr stark sein, wieder gesund zu werden. Eine weitere wichtige Bedingung ist, dass sich der Patient im Klaren darüber ist, dass er eine Ess- störung hat, welche unbedingt behandelt werden muss. Nur allein Folgeerkrankungen der Anorexia nervosa und anderer Essstörungen, wie z.B. Depressionen oder Angst- zustände, behandeln zu lassen, ist kein Ansatz für eine notwendige Behandlung der eigentlichen Essstörung. Solange diese Einsicht nicht erfolgt, ist eine erfolgreiche Therapie nicht möglich. Da es sehr schwierig ist, den Patienten zu erreichen, welcher in seiner gestörten Körperwahrnehmung gefangen ist, kann es zu einem chronischen Verlauf der Anorexia nervosa kommen. (vgl. Bader; 2006; S.18)
Je nach Art der Erkrankung und individuellen Entscheidungen werden unterschiedli- che Behandlungsformen angeboten. Stationäre, teilstationäre oder auch ambulante Behandlungsmöglichkeiten stehen den Betroffenen zur Verfügung. Ein gutes Bei- spiel für eine therapeutisch betreute Wohngruppe ist die gemeinnützige Einrichtung ANAD e.V. in München. Hier wurde mir auf Anfrage auch die Doktorarbeit von Frau Dr. Heidelinde Krenn, 2003, mit dem Titel „Eßstörungen bei Männern Charak- teristika des Verlaufs von Anorexia nervosa und Bulimia nervosa bei Männern und Vergleich mit einer weiblichen Stichprobe“, als Literatur empfohlen. Leider war es mir nicht möglich, ein Interview mit einem Bewohner der Einrichtung ANAD zu führen. Gegründet wurde ANAD e.V. 1984 in München. Neben der Beratungsstelle für essgestörten Männer, Angehörige und Lehrer befinden sich hier auch 44 Thera- pieplätze in Wohngruppen, welche von Betroffenen in Anspruch genommen werden können. In einzelnen Wohnungen wohnen Frauen von 14-35 Jahren und Männer zwischen 18-35 zusammen. Ein Team von Ärzten, Psychotherapeuten und Sozialpä- dagogen arbeitet sehr intensiv mit den an Essstörungen erkrankten Patienten. Vorteil dieser Einrichtung ist, neben einem kontinuierlichen Austausch der Patienten unter- einander und mit den Therapeuten auch der, dass sie weiterhin die Schule besuchen oder ihren Beruf weiter ausführen können, sofern sie sich dazu in der Lage fühlen. (vgl. http://www.anad.de/de/111/therapeutische wohngruppe_fuer_maenner.html)
Durch diese Art der Einrichtung können die Betroffenen ihren Alltag selbst bestim- men und haben bei auftretenden Problemen immer eine kompetente Ansprechperson. Natürlich ist ANAD e.V. nicht die einzige Einrichtung, in der Erkrankte Hilfe suchen und finden können, aber oftmals wird als Voraussetzung ein stationärer Aufenthalt in einer Klinik verlangt. Dies soll „die Wiederherstellung eines nicht lebensgefährden- den Gewichts unter medizinischer Betreuung“5 sicher stellen, um dann eine Psycho- therapie einzuleiten. Häufig setzen die Einrichtungen auch auf eine Gruppentherapie, welche „zur Stabilisierung des ‚normalen’ Essverhaltens durch gruppendynamische Prozesse beitragen soll.“6 Verschiedene therapeutische Schritte findet man in der Literatur, z.B. bei Franke, welche je nach persönlicher Indikation der Patienten, als Behandlungsplan infrage kommen können. Diese unten aufgeführten therapeutischen Bausteine können auch sinngemäß bei Bulimia nervosa angewendet werden. (vgl. Franke; 2001; S. 383)
Als erster Punkt werden Einzelgespräche mit TherapeutInnen genannt. Hierbei soll eine Beziehung, welche sich durch Vertrauen auszeichnet, aufgebaut werden, denn nur in solch einer Beziehung kann der Patient offen zu sich selbst, aber auch zu seiner Umgebung werden. Wenn dies gelungen ist, können sich die beiden Gesprächspartner auf die Suche nach den Gründen der Essstörungen begeben und nach Lösungsansätzen forschen. (vgl. Franke; 2001; S. 383)
Die Gesprächsgruppen werden als zweiter Baustein genannt. Wie oben schon er- wähnt, ist der gruppendynamische Prozess eine gute Voraussetzung für eine Gene- sung, da sich die Patienten nicht nur untereinander austauschen und sich gegenseitig Hilfestellungen geben können, sondern auch noch eine kompetente Ansprechperson besitzen, welche die Sitzungen leitet. Die Patienten sind oft davon überzeugt, in ih- rem Leid allein zu sein. In den Gruppensitzungen erkennen sie, dass sie nicht wirk- lich so alleine sind, wie sie sich fühlen. Außerdem dient dieser Prozess auch der Verbesserung der eigenen sozialen Kompetenz. Da sich viele Patienten zurückziehen und sehr mit sich selbst beschäftigt sind, können sie in der Gruppe lernen, ihre Ge- fühle zu erkennen und auszudrücken, ohne in Scham zu versinken. Dieser Prozess ist aber langwierig und nicht mit wenigen Sitzungen abgeschlossen. Vor allem der Aus- druck eigener Gefühle ist ein schwieriges Thema für Betroffene. Auch familiäre Ge- sichtspunkte werden angesprochen und können kritisch betrachtet und diskutiert werden. (vgl. Franke; 2001; S. 383)
Da Essgestörte oftmals ihre Unsicherheiten und Ängste durch ein selbstsicheres Auf- treten verdecken wollen, ist es nach Ansicht von Cuntz, Hillert und Franke wichtig, ein Selbstsicherheits- und Sozialtraining durchzuführen. Viele Betroffene identifizie- ren sich sehr stark mit dem gesellschaftlichen Ideal und dem Schlankheitssinn, wie er in der Gesellschaft als ideal angesehen wird. Dies deutet auf beträchtliche Selbst- zweifel und Unsicherheiten, welchen mit dem Auf- und Ausbau sozialer Kompeten- zen entgegengewirkt werden kann. (vgl. Cuntz, Hillert; 2003; S. 98) Ferner sollen die Patienten zum Beispiel durch Rollenspiele lernen sich auszudrücken, ohne sich von Angst überwältigen zu lassen, oder eigene Wünsche durchzusetzen, ohne andere zu verletzen. (vgl. Franke; 2001; 383)
Wie in Absatz 2.2 schon erwähnt, ist die Körperwahrnehmung ein zentraler Punkt während der Behandlung von Anorexia nervosa-Patienten. Cuntz, Hillert beschrei- ben die Körperwahrnehmung von Erkrankten als negativ besetzt. Weiterhin sind Essgestörte oftmals nicht in der Lage, Emotionen oder ihrem Gefühl zu ihrer körper- lichen Konstitution Ausdruck zu verleihen beziehungsweise zu reflektieren. (vgl. Cuntz, Hillert; 2003; S. 93) Durch die unterschiedlichen körperorientierten Therapie- formen sollen sich den Patienten die unterschiedlichen Nuancen des Körpererlebens, welche die Betroffenen nicht mehr erkennen können, wieder neu eröffnen. (Cuntz, Hillert; 2003; S. 93) Aus eigener Erfahrung empfinde ich das Autogene Training als eine gute Übung, um Ruhe, Kälte, Wärme oder auch Leichtigkeit und Schwere am eigenen Körper zu erkennen und zu lernen damit umzugehen. Das Autogene Trai- ning ist eine Art der Entspannungstechnik, welche den nächsten notwendigen Baustein einleitet. Das Entspannungstraining scheint für viele Experten eine Notwendigkeit für ein Ge- lingen der Therapie zu sein. Für Anorexia nervosa-Patienten ist das Nicht-Essen oft- mals die einzige Möglichkeit, auf die gefühlten Anspannungen zu reagieren. Das Erlernen von Entspannungstechniken ist daher sehr wichtig. Nach Cuntz und Hillert ist eine dauerhafte Normalisierung des Essverhaltens nur möglich, wenn alternative Möglichkeiten gefunden werden, um die entstehende Anspannung zu bewältigen. (vgl. Cuntz, Hillert; 2003; S. 99ff) Die Entspannungstrainings sollten aber sehr „vor- sichtig erfolgen, da Entspannung bedeuten kann, Kontrolle abzugeben“7 Ein sechster therapeutischer Baustein, welcher zu nennen ist, ist die Ernährungsberatung und das Ernährungsprogramm. Da sich Essgestörte sehr mit Kalorienzählen und Fettreduzie- rung beschäftigen, ist es wichtig ihnen aufzuzeigen, dass ihr Bild aus ernährungswis- senschaftlicher Sicht falsch ist. Sie sind der Meinung, dass sie ihr Essverhalten durch Diäten und Streichen aller „Dickmacher“ von ihrem Ernährungsplan kontrollieren können. (vgl. Cuntz, Hillert; 2003; S.91) Daher ist es für die Erkrankten überlebens- wichtig zu erkennen, dass eine ausgewogene und regelmäßige Aufnahme von Nah- rung ein wichtiger Bestandteil des Lebens ist. Auch ist es die Aufgabe von Ernäh- rungsberatern, die Patienten über die Grundlagen der Ernährung aufzuklären. (vgl. Cuntz, Hillert; 2003; S.91)
Der letzte Punkt, welchen ich hier erwähnen möchte, ist die Familientherapie. Es ist unbestritten, dass die Familie von Essgestörten eine große Rolle bei dem Auftreten der Krankheit, aber auch bei der Bewältigung spielt. Durch diesen großen Einfluss der Familie ist es wichtig, diese auch in die Betreuung mit einzubeziehen, damit eine Therapie gelingen kann. Neben einer Aufklärung über die Krankheit sollte, falls vor- handen, auch das gestörte Familiensystem in die Therapie mit einbezogen werden. Oftmals belastet die Familie eine Art von Schuld- und Schamgefühl. Ein großes Ziel ist es deshalb, diese Gefühle abzubauen und bestehende Kommunikationsdefizite aufzudecken. Somit können auch Familienmitglieder lernen, mit der Krankheit um- zugehen, und erkennen, dass Schuldzuweisungen nicht der richtige Weg sind, mit der bestehenden Situation umzugehen und dem Betroffenen zu helfen. (vgl. Bader; 2006; S. 21) Wichtig ist aber, dass diese Vorschläge von Therapien und Formen der Be- handlung von an Anorexia nervosa erkrankten Patienten nicht zwangsläufig eine Heilung garantieren. Der Betroffene muss sich aktiv an den Therapiemethoden beteiligen und den Willen aufbringen, die Krankheit zu besiegen. (vgl. Gerlinghoff, Backmund; 1999; S. 105)
2.5 Katamnese- und Verlaufsstudien
Seit den 50er Jahren sind viele Katamnese- oder Verlaufsstudien über den allgemei- nen Verlauf von Anorexia nervosa veröffentlicht worden. Das Problem hierbei ist, dass diese vielfältigen Studien nicht miteinander vergleichbar sind, da sie oftmals unterschiedliche methodische Betrachtungsweisen verfolgen. Trotz allem sind viele Verlaufsstudien und gerade die Langzeitstudien sehr wichtig für die Praxis, um ein besseres Verständnis gegenüber Anorexia nervosa zu erlangen und auf mögliche Spätfolgen hinzuweisen. Auch die Wirksamkeit unterschiedlicher Therapiemöglich- keiten kann durch diese Studien untersucht werden. (vgl. Bader; 2006; S. 22)
Ein großes Problem erscheint mir, dass Studien oftmals nach der Entlassung der Be- troffenen stattfinden. Daher kann man die Forschungsergebnisse nicht verallgemei- nern, sondern möglicherweise nur Rückschlüsse hinsichtlich der durchgeführten The- rapien und deren Behandlungserfolg ziehen. Weiterhin muss bedacht werden, dass „unterschiedliche nichtstandardisierte diagnostische Kriterien, unterschiedliche Messzeitpunkte (Katamneseintervalle), retrospektives Arbeiten oder Unterschiedli- che Out-come-Kriterien (Behandlungsergebnisse) weitere mögliche Probleme“ sind, „die eine Vergleichbarkeit von Katamnesestudien erschweren (vgl. Zipfel, Löwe, Reas, Deter, Herzog; 2000; S. 42).“8 Nach Franke sieht man diese Unterschiede al- leine schon bei den Untersuchungen hinsichtlich der Mortalitätsrate, welche zwi- schen 0 und 21 Prozent bei 108 Studien lag. (vgl. Franke; 2001; S. 388)
Cuntz und Hillert kommen nach einer Zusammenfassung der verschiedenen Studien zu folgenden Ergebnissen. Langfristig gesehen erreichen circa 59 Prozent der einsti- gen Patientinnen ein normales Körpergewicht. Durch das Erreichen dieses wichtigen Zieles kommt es auch zur Verringerung eventuell möglicher Spätfolgen, welche in Punkt 2.2 erläutert wurden. Weiterhin stellten Cuntz und Hillert fest, dass 49 Prozent der untersuchten (ehemaligen) Betroffenen ein unauffälliges Essverhalten aufweisen und sogar 43 Prozent als geheilt beziehungsweise gesund angesehen werden. Wäh- rend bei 20 Prozent der Untersuchten die Unveränderbarkeit einer chronischen Er- krankung festzustellen sei, so wurde bei 36 Prozent eine Verbesserung des Essver- haltens festgestellt, so die Ergebnisse von Cuntz und Hillert. 5 Prozent der an Anore- xia nervosa Erkrankten versterben während des Verlaufs der Krankheit. Bei diesen Mittelwerten muss aber laut Cuntz und Hillert beachtet werden, dass es beträchtliche Abweichungen gibt, da sich die Prognose der Patienten bei schwereren und längeren Behandlungsverläufen verschlechtert. Auch der Hinweis, dass nach vielen Jahren immer noch die Möglichkeit eines Rückfalls in kranke Essverhalten besteht, darf nicht unbeachtet bleiben. (vgl. Cuntz, Hillert; 2003; S. 61f) Weiterhin versuchten Cuntz und Hillert einige individuelle Faktoren heraus zu stellen, welche möglicher- weise hilfreich für einen positiven Verlauf der Krankheit seien könnten. Dies sind nach Ansicht beider Autoren zum Beispiel der Beginn der Krankheit in der frühen Adoleszenz, eine möglichst konfliktarme Beziehung zu den Eltern, eine kurze Zeit zwischen dem Beginn der Erkrankung und der Therapie, ein gehobener Sozialstatus und ein höheres Bildungsniveau. (vgl. Cuntz, Hillert; 2003; S. 62f)
Bezüglich der Forschungen zu Essstörungen bei Männern ergeben sich viele metho- dische Mängel beziehungsweise Probleme, da viele Verlaufsstudien durch die schon angesprochene niedrige Prävalenz von essgestörten Männern und die geringe Zahl der Betroffenen, die professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, oft nicht repräsentativ sein können, da der Probandenkreis zu klein ist. (vgl. Krenn; 2003; S. 23) Ferner werden Fälle von betroffenen männlichen Erkrankten nicht ausreichend bezüglich der verschiedenen Subtypen, nach DSM-IV, unterschieden und oftmals fällt auch die Unterscheidung zwischen stationär aufgenommenen und ambulanten Patienten in den Auswertungen weg. Differenziert man nach diesen Kategorien, wären die auf- tauchenden Teil-Stichproben zu klein, was wiederum die Reliabilität der Ergebnisse in Frage stellen würde. Weiterhin darf man nicht außer Acht lassen, dass die üblichen Instrumente in Erforschung von Essstörungen meist für weibliche Probanden konzi- piert sind. Daher ist es denkbar, dass es Aspekte für die Forschung über essgestörte Männer gibt, welche durch diese Instrumente gar nicht oder nur teilweise erfasst werden können. (vgl. Krenn; 2003; S. 24)
3. Essstörungen bei Männern
3.1 Allgemeine Überlegungen
Im Verlauf meiner Arbeit wurde schon oft erwähnt, dass Essstörungen als frauenspe- zifische Krankheiten gelten. Dies wird auch durch die unterschiedlichen, schon er- wähnten Studien deutlich. Vor allem hinsichtlich der Krankheitsbilder von Anorexia nervosa und Bulimia nervosa treten die geschlechtlichen Unterschiede in den Vor- dergrund. Nach Fichter entfallen auf einen männlichen Anorektiker zwölf weibliche Erkrankte. (vgl. Fichter; 1985; S. 162f) „Die Prävalenzrate für männliche Mager- süchtige beträgt 0,08, d.h. acht auf 10.000 Jungen bzw. Männer im Alter von 10-25 Jahren.“9
Viele Autoren, welche sich mit dem Thema der Anorexia nervosa und Bulimia ner- vosa beschäftigen, sind der Ansicht, dass die Anzahl der erkrankten Männer sowie die Anzahl der erkrankten Frauen in Zukunft ansteigen werden. Leider kann dies, vor allem hinsichtlich männlicher Erkrankter, noch nicht durch Studien und Daten belegt werden. Auch die Forschungen bezüglich der spezifischen Symptomatik, Verlauf und auch ätiologische Faktoren für Anorexia nervosa bei Männern gestalten sich noch sehr dürftig. Fichter versucht in seiner Literatur Gründe zu erörtern, welche die geschlechterspezifische Ausprägung im Hinblick auf die Prävalenz von Essstörungen möglicherweise erklären könnten. Als einen Grund nennt er die Veränderungen wäh- rend der, im Bezug auf Jungen, früher eintretenden Pubertät. Hierbei entwickeln sich Mädchen sichtbar, z.B. mehr Hüftumfang oder eine wachsende Brust, aber auch in nicht sichtbarer Hinsicht, wie z.B. das Einsetzen der Periode. Das Letztere ist wohl das bedeutendste Zeichen für ein heranwachsendes Mädchen, da dies auch die be- ginnende Geschlechtsreife einläutet. Durch diese Entwicklung kann es bei manchen Mädchen zu Unsicherheiten bezüglich ihres Körpergefühls und ihrer Körperwahr- nehmung kommen. Sie wünschen sich vielleicht das Leben vor ihrer körperlichen Entwicklung zur Frau zurück.
Durch exzessives Diäthalten und Fasten können sichtbare pubertäre Entwicklungen aufgehalten werden, aber auch die Amenorrhoe, das bei magersüchtigen Mädchen feststellbare Ausbleiben der Regelblutung tritt ein. Dieses Körperbild soll nun auf- recht erhalten werden. Bei Jungen gibt es zum Beispiel dieses explizite Indiz für eine Anorexia nervosa nicht. Bei heranwachsenden Jungen tritt diese Entwicklungsphase nach Fichter erst später auf, was dazu führt, dass im Vergleich zu Mädchen eine ge- festigtere Ich-Struktur besteht. Daher, so Fichter, ist dies ein Schutz vor Pubertäts- magersucht, welche häufig bei Mädchen auftritt. (vgl. Fichter; 1985; S. 165)
Ein weiterer wichtiger Punkt der Überlegungen, warum Essstörungen auftreten, ist die Sozialisation beider Geschlechter. Da sich die Geschlechterrollen in unserer Ge- sellschaft stark gewandelt haben, sollte auch die Sozialisation einen Schritt in diese Entwicklungsrichtung gehen. Oftmals scheint es aber noch so, dass Mädchen und Jungen noch immer nach veralteten Erziehungszielen erzogen werden. So soll ein Mädchen folgsam und angepasst leben und sich nicht aggressiven Trieben hingeben. Diese Sozialisation ist eine mögliche Erklärung für die Häufungen an Essstörungen bei Mädchen. Jungen dagegen sollen stark sein, die Konfrontation suchen und sich in der Gesellschaft durchsetzen. Da sich, wie oben schon erwähnt, langsam aber sicher die Gleichberechtigung in allen Lebenssituationen durchsetzt, haben heutige Männer möglicherweise ein Problem, sich in die entwickelnde Männerrolle einzubinden. (vgl. Stahr, Barb-Priebe, Schulz; 1995; S. 49) Auf diesen Punkt soll im Verlauf meiner Arbeit noch genauer eingegangen werden.
Auch der soziokulturelle Aspekt darf bei der Betrachtung der Essstörungen nicht unbeachtet gelassen werden. Hierauf wird in Punkt 3.3.2 näher eingegangen. Ich möchte ihn in diesem Abschnitt nur kurz anreißen. Am besten erkannt hat es meiner Meinung nach Michael Bader, welcher sagt: „Nirgendwo gibt es heutzutage solche Diskrepanzen, wie in der westlichen Kultur zwischen gesellschaftlich propagiertem Schönheitsideal, das mittlerweile nur noch einem Schlankheitsideal entspricht, und tatsächlichem durchschnittlichem Gewicht der Bevölkerung.“10 Nicht nur das Schön- heitsideal der Frauen hat sich in der Vergangenheit zum Schlankheitswahn entwi- ckelt, sondern auch das Ideal der Männer hat sich stark verändert. Männer werden gerne als relativ schlank, aber ziemlich muskulös gesehen. Auf diesen Punkt wird die Arbeit später auch noch eingehen und hierbei wird der „Adonis-Komplex“ eine sehr interessante Rolle spielen. Durch diese Veränderungen erscheint es wahrscheinlich, dass die Krankheitsbilder von Essstörungen, vor allem Anorexia nervosa usw. auch beim männlichen Geschlecht an Häufigkeit zunehmen werden.
3.1.1 Spezifische Symptomatik
Wichtig für die Untersuchungen und Forschungen hinsichtlich der Essstörungen von Männern ist es, essstörungsspezifische Symptomatik bei Betroffenen zu finden, wel- che eine Abgrenzung zu der Symptomatik bei betroffenen Frauen verdeutlichen kann. Da die Krankheitsbilder der unterschiedlichen Essstörungen, wie in den vergangenen Abschnitten schon oft erwähnt, sehr selten bei Männern auftreten, ist die Forschungs- lage hinsichtlich der Symptomatik und des Verlaufs nicht sehr ergiebig.
Autoren und Forscher, welche sich mit dieser Thematik beschäftigen, stimmen wei- testgehend darin überein, dass die Symptomatik der Anorexia nervosa für Männer und Frauen sehr ähnlich ist (Beumont, Beardwood, Russel; 1972 / Burns, Crisp; 1985 / Crisp, Burns, Bhat, 1986 / Robinson, Holden; 1986 / Margo; 1987 / Sharp, Clark, Dunan, Blackwood, Sjapiro; 1994 / Olivardia, Pope, Mangweth und Hudson; 1995 / Carlat et al.; 1997 / Braun et al.; 1999 / Woodside et al.; 2001); (vgl. Krenn; 2003; S. 25). Ferner wurde in vereinzelten Studien festgestellt, dass die Hyperaktivität, wel- che für das Krankheitsbild der Anorexia nervosa charakteristisch ist, bei Männern häufiger auftritt, als bei betroffenen Frauen (Burns, Crisp; 1985 / Sterling, Segal; 1985 / Fichter et al.; 1985); (vgl. Krenn; 2003; S. 25). Dagegen konnten Fichter und Daser (1987), Sharp et al. (1994) und Braun et al. (1999) feststellen, dass der Sub- stanzmissbrauch von unterschiedlichen Appetitzüglern und Laxantien bei Männern in geringerer Anzahl auftritt. Bei anderen Essstörungen, wie zum Beispiel Bulimia nervosa, konnten ähnliche und weitere Unterschiede zwischen den betroffenen Ge- schlechtern beobachtet werden. Trotz starken Gewichtsschwankungen (Mitchell, Goff, 1985; Schneider, Agras, 1987) sind selbstinduziertes Erbrechen, Diätverhalten, Missbrauch von Laxantien, Appetitzüglern oder Einläufen für an Bulimia nervosa erkrankte Männer eine seltenere Methode im Vergleich zu Frauen (Schneider, Agras, (1987); Garfinkel et al., (1995)). Allgemein macht es in den unterschiedlichen For- schungen den Anschein, als ob für anorektische, aber auch für bulimische Männer eine so strenge Gewichtskontrolle und auch ein strenges Diätverhalten nicht so wichtig erscheinen. (vgl. Krenn; 2003; S. 25)
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1 Selvini Palazzoli, M.: Magersucht: von der Behandlung einzelner zur Familientherapie. Deutsche Übersetzung aus dem Amerikanischen; 1982; S. 22
2 Bruch, H.: Essstörungen. Zur Psychologie und Therapie von Übergewicht und Magersucht; 1992; S. 13
3 Krenn, H.: Eßstörungen bei Männern Charakteristika des Verlaufs von Anorexia nervosa und Bulimia nervosa bei Männern und Vergleich mit einer weiblichen Stichprobe; 2003; S. 15
4 Bader, M.: Essstörungen bei jungen Männern, Gleiche Auswirkungen - ähnliche Ursachen; 2006; S. 17
5 Bader, M.: Essstörungen bei jungen Männern, Gleiche Auswirkungen - ähnliche Ursachen; 2006; S. 19
6 Bader, M.: Essstörungen bei jungen Männern, Gleiche Auswirkungen - ähnliche Ursachen; 2006; S. 19
7 Franke, A.: Essstörungen.; 2001; S. 384
8 Bader, M.: Essstörungen bei jungen Männern, Gleiche Auswirkungen - ähnliche Ursachen; 2006; S. 22
9 Stahr, I.; Barb-Priebe, I.; Schulz, E.: Essstörungen und die Suche nach Identität. Ursachen, Entwicklungen und Behandlungsmöglichkeiten; 1995; S. 48
10 Bader, M.: Essstörungen bei jungen Männern, Gleiche Auswirkungen - ähnliche Ursachen; 2006; S. 62