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Hausarbeit, 2009
20 Seiten, Note: 1,3
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Konstruktivismus- Eine Annäherung
2.1 Entstehung konstruktivistischen Denkens und seine Kerngedanken
2.2 Zentrale Begriffe des Konstruktivismus
3 Konstruktivistische Lehr-Lern-Arrangements
3.1 Allgemeine Anforderungen an die Pädagogik
3.2 Konstruktivismus in der beruflichen Bildung
4 Konstruktivismus- Eine kleine Leistungsbilanz
5 Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Abbildung 1: Drei Beobachterperspektiven
Abbildung 2: Perturbation- Krise- Reframing
Abbildung 3: Ansatzpunkte für Perspektivenwechsel
Abbildung 4: Vermittlungsdidaktik vs. Ermöglichungdidaktik
Abbildung 5: Unterrichtsverlauf des explorativen Schulversuchs
Die Ausrichtung von Lehr-Lern-Arrangements nach konstruktivistischen Gesichtspunkten findet immer mehr Gehör in aktuellen Diskussionen. In dieser Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern sich konstruktivistische Denkansätze sich in der Bildungsarbeit verwirklichen lassen und welche Herausforderungen daraus für die berufliche Bildung entstehen.
Über eine Reihe von Zitaten, die die Kerngedanken des Konstruktivismus widerspiegeln, soll eine Annäherung an das Thema erfolgen. Da in der Pädagogik besonders erkenntnistheoretische Aspekte des Konstruktivismus von Bedeutung sind, soll sich diese Arbeit hauptsächlich mit dem Konstruktivismus als Erkenntnistheorie beschäftigen. Im Verlauf sollen Anforderungen an die Pädagogik im Allgemeinen und an die berufliche Bildung und mögliche Konzepte formuliert werden. Abschließend sollen anhand eines Beispiels aus der Praxis Probleme bei der Umsetzung konstruktivistischer Lehr-Lern-Arrangements demonstriert und Möglichkeiten zur Lösung dieser aufgezeigt werden.
Die Idee des Konstruktivismus erfuhr erst gegen Ende des 20. Jahrhundert eine erhöhte Aufmerksamkeit in wissenschaftlichen Diskussionen, jedoch lassen sich erste Ansätze konstruktivistischen Denkens bis in die Antike verfolgen.
Nach Protagoras von Abdera gibt es:
„keine allgemein gültigen, objektiven Wahrheiten. Die Wahrheit hängt nicht vom Gegenstand ab; es werden nicht objektive Sachverhalte in unseren Geist hereingenommen, von jeden Geist in gleicher Weise; sondern es spricht sich immer nur als Subjekt aus. Man kann die Dinge so und so anschauen. ‚Wie alles einzelne mir erscheint, so ist es für mich, wie dir, so ist es für dich’. Damit wird der Mensch maßgebend für alles, was Wert, Norm, Gesetz, Idee und Ideal sein soll: ‚Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, und der nicht-seienden, daß sie nicht sind’.“ (Hirschberger 1980, Bd.1, S.54; mit Bezug auf Protagoras’ Fragment 1.)
Auch Sokrates’ Satz „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ 1 birgt in sich eine Aussage zum Konstruktivismus.
Wie in der Antike lassen sich auch im Mittelalter Spuren des Konstruktivismus erkennen. So sagten Querdenker dieser Zeit wie z.B. Leonardo da Vinci: „Fliehe die Lehren jener Forscher, deren Beweisgründe nicht bestätigt werden durch die Erfahrung.“ Galileo Galilei schrieb: „Man kann einen Menschen nichts lehren, man kann ihm nur helfen, es in sich selbst zu entdecken.“ Ein weiteres Indiz konstruktivistischer Denkansätze stellen Shakespeares Zitat „Wer nur in den Fußstapfen anderer wandelt, hinterlässt keine eigenen Spuren“ und Goethes Aussage „ Schönheit liegt im Auge des Betrachters“ (In: Siebert 2008, S. 87) dar.
Im 19. Jahrhundert, einer Zeit des Neu-, und Umdenkens, äußerte sich der Philosoph Friedrich Nietzsche wie folgt:
„An die Realisten.-[… ] ihr nennt euch Realisten und deutet an, so wie euch die Welt erscheine, so sei sie wirklich beschaffen: vor euch allein stehe die Wirklichkeit entschleiert, […]. Da jener Berg! Da jene Wolke! Was ist denn daran ‚wirklich’? Zieht einmal das Phantasma und die ganze menschliche Zutat davon ab, ihr Nüchternen! Ja, wenn ihr das könntet! Wenn ihr eure Herkunft, Vergangenheit, Vorschule vergessen könnet- eure gesamte Menschheit und Tierheit! Es gibt für uns keine ‚Wirklichkeit’, und auch für euch nicht“. (Nietzsche 2001 In: Lindemann 2006, S.17)
Auch wenn diese Persönlichkeiten in der Regel gewiss nicht als Konstruktivisten bezeichnet werden können und sie ihre Worte so nie in einem konstruktivistischen Zusammenhang erwähnt haben, so werden in ihren Aussagen doch unterschiedliche Ansatzpunkte deutlich, und es lässt sich so eine Annährung zum Thema Konstruktivismus herstellen. Protagoras und Goethe beschreiben, dass die Wirklichkeit nur durch das Subjekt selbst erfahren wird, Sokrates Aussage verdeutlicht, das Lernen und dadurch erlangtes Wissen kein in sich abgeschlossener Prozess ist, sondern sich ein Leben lang vollzieht, dass das Subjekt sozusagen nie alles weiß, und auch vorhandenes Wissen immer wieder ausbaufähig, oder gar durch neue Erkenntnisse, nichtig ist. Dies wird z.B. auch in da Vincis Aussage deutlich. Nietzsches Zitat lässt erkennen, dass es in der Theorie des Konstruktivismus keine allgemein gültigen Wahrheiten gibt, die als Realität angenommen werden können.
Die Grundannahme konstruktivistischer Theorien besteht also darin, dass die Wahrnehmung keine Gegebenheiten einer von uns unabhängigen Realität abbildet, wie sie ‚an sich’ sind, sondern dass lediglich Modelle entworfen werden, deren Objektivität und Wahrheit nicht überprüfbar ist. Weiter ist festzustellen, dass der Konstruktivismus keine einheitliche Schule oder Denkrichtung, sondern als Diskurs zu verstehen ist. Es ist davon auszugehen, dass das Subjekt sein gesamtes Erleben aufgrund interner Kriterien konstruiert. Zentraler Ausgangspunkt ist die Erkenntnistheorie, auch Kognitionstheorie oder Theorie des Verstehens genannt. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Menschen Erkenntnisse bzw. Wissen erlangen. (Vgl. Lindemann 2006, S.13ff) Der Konstruktivismus ist eine Theorie unter vielen Erklärungsmodellen für das Phänomen des Erkennens. Es geht nicht um eine allgemeingültige Erklärung der Prozesse der Wahrnehmung, des Erkennens und der Interaktion, sondern vielmehr um den Versuch, eine gangbare Alternative zu den üblichen Erkenntnismodellen aufzuzeigen, ohne diese begründet auszuschließen. (vgl. Lindemann 2006, S. 35)
Konstruktivistische Denkansätze lassen sich in den verschiedensten Bereichen der Wissenschaft erkennen. Vor allem in Philosophie, Psychologie, Soziologie, aber auch in der Biologie und Kybernetik lassen sich konstruktivistische Bezüge erkennen. (vgl. Lindemann 2006, S.13) Welche Bedeutung der Konstruktivismus für die Pädagogik hat, soll im Folgenden aufgezeigt werden. Zuvor bedarf es jedoch in diesem Zusammenhang der Erläuterung einiger zentraler Begrifflichkeiten.
Der Konstruktivismus als Erkenntnistheorie stellt in erster Linie eine Beobachtungstheorie dar. Eine Grundvoraussetzung oder gar Leitkategorie konstruktivistischen Denkens ist somit die Beobachtung oder das beobachten . (vgl. Siebert 2008 S.17)
„Beobachten ist Erkennen. Erkennen ist Handeln. Wirklichkeit ist nicht das Objekt, das wir beobachten, sondern beobachtend erzeugen wir eine Wirklichkeit eigener Art. Wirklichkeit ist nicht die Voraussetzung, sondern das Ergebnis unserer Beobachtung. Beobachten ist kein Abbilden, sondern ein konstruktives Erleben von Welt.“ (Siebert 2008, S. 17)
Die individuellen Beobachtungen des Subjekts sind der Schlüssel zur Konstruktion von Wirklichkeit. Diese Beobachtung beruht jedoch auf einem eigenen Referenzsystem, das die persönlichen Wünsche, Werte, Interessen und Intentionen des Subjekts mit einschließt. (vgl. Siebert 2008, S. 18)
Der Konstruktivismus gibt dem Beobachter Selbstvertrauen und Mut für die eigene konstruktive Erkenntnistätigkeit. Diese Tätigkeit lässt sich in drei Beobachterperspektiven, drei Denk- und Handlungsmuster unterscheiden. Die erste Perspektive wird durch den Begriff Konstruktion bezeichnet. Sie steht unter der Maxime „Wir sind die Erfinder unserer Wirklichkeit“. Durch Selbsterfahrung, ausprobieren und experimentieren überführt das Subjekt Beobachtungen in eigene Konstruktionen ideeller oder materieller Art, welche die Bedeutung für die individuellen Interessen-, Motivations- und Gefühlslagen thematisiert. (vgl. Reich 2005, S. 119)
Die zweite Perspektive wird mit Hilfe des Denk- und Handlungsmuster der Rekonstruktion beschrieben. Ihr Grundmotto lässt sich mit den Worten „Wir sind die Entdecker unserer Wirklichkeit“ zusammenfassen. Das bedeutet Erfindungen anderer nachzuentdecken, und beschreibt die Tatsache, dass die meisten der neu konstruierten Erfindungen dadurch relativiert werden, dass es sie schon gibt. (vgl. Reich 2005, S.119) Wichtig ist für den Prozess der Rekonstruktion, dass das Subjekt in diesem zu verstehen lernt, was die damaligen oder jetzigen Beobachter dazu veranlasst haben könnte, ihre Beobachtungen so und nicht anders festzulegen. Rekonstruieren bedeutet nicht nur Fakten zu lernen, sondern die Motive zu hinterfragen. Das soll helfen die Fakten zu verstehen und zu behalten. (vgl. Reich 2005, S. 120)
Die dritte Beobachterperspektive, die Dekonstruktion , geht noch einen Schritt weiter. Sie lässt sich unter das Grundmotto „ Es könnte auch anders sein! Wir sind die Enttarner unserer Wirklichkeit!“ stellen. Hier lässt sich ein Bezug auf das in Kapitel 2.1 erwähnte Zitat von Shakespeare herstellen. Beim Nachentdecken der Erfindungen Anderer reicht es nicht, nur deren Blickwinkel zu verstehen. Als Enttarnender muss das Subjekt kritisch sein und die Blickwinkel verschieben, woraus sich neue konstruktive Schlussfolgerungen gestalten lassen. (vgl. Reich 2005, S. 121) Alle drei Perspektiven sind als eine Art ‚Dreiklang‘ oder ‚Kreislauf‘ zu verstehen. (vgl. Reich 2005, S. 118, S. 121), wie es Abb. 1 verdeutlichen soll.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Drei Beobachterperspektiven 2
Es lässt sich also zusammenfassen, dass die Grundvoraussetzung des Konstruktivismus in der Beobachtung liegt. Erst die Fähigkeit der Reflexion lässt das Beobachten differenzieren. Beobachten im Sinne des Konstruktivismus bedeutet, die Welt mit eigenen Augen zu betrachten, Vorhandenes anzunehmen aber auch in Frage zu stellen, und so aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, eine neue ‚Realität‘ zu konstruieren. Diese Konstruktionen sind jedoch nur nützlich oder lebensdienlich, wenn sie viabel , d.h. tauglich und konsensfähig sind. (vgl. Voß 2005, S. 40) Die Erkenntnis aufgrund von Beobachtung hat nicht den Zweck, die Realität abzubilden, sondern gangbare (viable) Wege zu schaffen, die effektives Handeln innerhalb dieser Wahrnehmung ermöglichen. (vgl. Lindemann 2006, S. 34) Das Handeln eines jeden Subjekts ist abhängig von der Viabiltät seiner Konstruktion der Wirklichkeit.
Beobachtungen müssen anschlussfähig sein und gleichsam in die Denk- und Wahrnehmungsmuster des Subjekts passen. Gleichzeitig muss das Beobachtungsystem aber auch offen für Irritationen, in diesem Zusammenhang Perturbationen genannt, sein. In dieser Perturbierbarkeit liegt die Chance zur Kompetenzerweiterung und Identitätsentwicklung für das Subjekt. (vgl. Siebert 2008, S.20) „Perturbationen entstehen durch Differenzerfahrungen, durch die Wahrnehmung von Unterschieden und (neuer) Unterscheidungen.“ (Voß 2005, S. 34) Weiter ist zu beachten, dass die Perturbation eine Interaktion zwischen dem Subjekt und der Umwelt ist:
„Bei den Interaktionen zwischen Lebewesen und Umgebung innerhalb dieser strukturellen Kongruenz determinieren die Perturbation der Umgebung nicht, was dem Lebewesen geschieht, es ist vielmehr die Struktur des Lebewesens, die determiniert, zu welchem Wandel es infolge der Perturbation ich ihm kommt.“ (Maturana/ Varela 1987, S.106)
Das kritische und reflexive Subjekt wird durch diese ‚Störungen‘ in einen Zustand der Krise gestürzt. Das geschieht nicht nur durch äußere Einwirkungen, sondern auch mit der kritischen Betrachtung dieser Einflüsse.
„Unter den Krisen im menschlichen Leben heben sich nun diejenigen heraus, die der Mensch nicht nur im passiven Sinn erleidet und nicht nur als eine von außen über ihn kommende Anfechtung versteht, sondern die er von sich aus bewusst herbeiführt, in denen er sich ausdrücklich ‚kritisch‘ zu sich selbst verhält.“ (Bollnow 1966, S. 13)
Eine Krise ist in diesem Fall aber nicht als ‚Zusammenbruch‘ oder ‚Unfall‘ zu sehen, vielmehr bietet eine Krise die Schaltstelle für neue Entwicklungen. (vgl. Arnold/ Siebert 1995, S. 116) „Der Mensch verwirklicht seine eigentliche Existenz nur in der Krise und nur durch die Krise. Die kritischen Augenblicke sind die einzig zählenden Augenblicke des menschlichen Lebens. Existieren heißt in der Krise stehen.“ (Bollnow 1966, S. 12)
Logische Konsequenz einer Krise ist die Umgestaltung oder Rekonstruktion, so dass die durch die Krise gestörte Viabilität wieder hergestellt wird. Dieser Prozess wird durch den englischen Begriff Reframing beschrieben. Es wird ein neuer ‚Rahmen‘, ein neues Bezugssystem, für die Wertungen des Subjekts und dessen Interpretationen benötigt. (vgl. Arnold/ Siebert 1995, S. 117) „Man wechselt den Rahmen, in dem ein Mensch Ereignisse wahrnimmt, um die Bedeutung zu verändern. Wenn sich die Bedeutung verändert, verändern sich auch die Reaktionen und Verhaltensweisen.“ (Bandler/ Grinder 1988, S. 13)
Abb. 2 veranschaulicht den Zusammenhang von Perturbation, Krise und Reframing.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Perturbation- Krise- Reframing
[...]
1 Verfälschende Verkürzung eines Zitats aus Platons Apologie. Die geläufige Übersetzung trifft nicht den Sinn der Aussage. Wörtlich übersetzt heißt der Spruch „Ich weiß als Nicht-Wissender“ bzw. „Ich weiß, dass ich nicht weiß“. Das ergänzende „-s“ an „nicht“ ist ein Übersetzungsfehler.
2 nach Reich 2005, S.118.