Die Dienstleistungsberufe im Gesundheitswesen üben eine schadensträchtige Tätigkeit aus. Die medizinische und pflegerische Betreuung von Patienten birgt erhebliche Haftungsrisiken. Das Haftungsrecht ist somit ein wichtiges Teilgebiet des Pflegerechts.
In Pflegehaftungsprozessen kommt den beweisrechtlichen Regelungen eine entscheidende Rolle zu. Die Zivilgerichte formen Pflege- und Arzthaftung durch beweisrechtliche Mittel. Die Pflegehaftung ist analog zum Arztrecht dabei geradezu eine Domäne der zivilrechtlich atypischen Sonderregelung der Beweislastumkehr. Die Frage der Beweislastverteilung bei den Prozessparteien ist entscheidend für den Ausgang von Zivilgerichtsverfahren. Diese geschieht selbstverständlich nicht willkürlich, sondern folgt bestimmten Regeln.
Die Beantwortung der Frage, welche Logik hinter der richterlichen Beweislastverteilung steckt und auf welchen Rechtsgedanken und Grundsätzen diese in der Pflegehaftung beruht, ist ein zentrales Anliegen dieser Arbeit. Mit welchen Begründungen nehmen Gerichte eine Abkehr von der rechtsüblichen Verfahrenspraxis vor, wo wird dies angewendet und was bewirkt es? Der Handhabung und den Folgen der Beweislastumkehr in typischen Haftungssituationen durch die alltägliche Pflegetätigkeit möchte diese Arbeit nachgehen. Dabei soll der Schwerpunkt weniger auf rechtstheoretischen Überlegungen liegen, sondern auf der Praxis der Rechtsprechung, dargestellt an Fallbeispielen und in Beziehung gesetzt zu den Berührungspunkten des Pflegehaftungsrechts mit der Stellung der Krankenpflege im Gefüge der Berufe des Gesundheitswesens.
Die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze der Haftung bei Heilbehandlung stammen aus der Arzthaftung und werden in weiten Bereichen auch auf die Pflegeberufe angewendet.
Die Betrachtung des Haftungsrechts und der Beweislastverteilung auf die Parteien im Zivilprozess berührt auch die Frage, wie weit der Pflege eine eigenständige Verantwortung für ihr Tun zugeschrieben werden kann. Deshalb soll im Zusammenhang mit beweisrechtlichen Folgen auch das Problem eines „arztfreien Raums“ erörtert werden, dass sich besonders im kompliziert arbeitsteiligen Aufgabenfeld der Krankenhausversorgung stellt.
Mit der vorliegenden Arbeit möchte der Verfasser auch der Frage nachgehen, wie sich durch Beweislastumkehr das Haftungsrisiko in der Pflege verschärft und wie dies zu bewerten ist.
INHALTSVERZEICHNIS
1. Einleitung: Die Haftung im Pflegerecht
1.1 Die ökonomische Dimension der Haftung aus Heilbehandlung
1.2 Beweislast im Pflegehaftungsrecht – Zielsetzung der Arbeit
1.3 Inhaltliche Abgrenzung und Vorgehensweise
2. Grundsätze der Haftung bei Heilbehandlung
2.1 Grundlagen des Zivilrechts
2.2 Haftung aus Vertrag (§ 611 BGB)
2.2.1 Vertragliche Trägerhaftung nach § 280 BGB
2.2.2 Trägerhaftung für eigenes Verschulden (§ 276 BGB)
2.2.3 Trägerhaftung für fremdes Verschulden (§ 278 BGB)
2.3 Organhaftung
2.4 Deliktische Haftung
2.4.1 Deliktische Haftung des Trägers für eigenes Handeln
2.4.2 Deliktische Haftung des Trägers für fremdes Handeln
2.4.3 Deliktische Haftung des Arbeitnehmers
2.5 Schadensersatz und Schmerzensgeld
2.6 Arbeitsrechtliche Haftung – Der Rückgriff des Arbeitgebers beim Pflegepersonal
3. Zivilprozessrecht
3.1 Abgrenzung materielles Recht und formelles Recht
3.2 Maximen des Zivilprozesses
3.2.1 Verhandlungsmaxime
3.2.2 Dispositionsmaxime
3.2.3 Anspruch auf rechtliches Gehör
3.2.4 Grundsatz der Mündlichkeit und Öffentlichkeit
3.2.5 Weitere Verfahrensgrundsätze
3.3 Richterrecht
3.4 Das Verfahren vor dem Zivilgericht
3.4.1 Die Klageerhebung
3.4.2 Die Haftungsprüfung vor dem Zivilgericht
3.4.2.1 Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit
3.4.2.2 Die Kausalitätsprüfung
3.4.2.3 Die Schuld: Sorgfaltspflichtverletzung und deren Maßstab
3.4.3 Grundsätze des zivilgerichtlichen Beweisrechts
3.4.3.1 Beweisführung und Beweisverfahren
3.4.3.2 Die prozessuale Mitwirkungspflicht
3.4.3.3 Die Rolle des Sachverständigen
3.4.4 Das Ende eines Prozesses: Urteil und Rechtsmittel
4. Beweisführung und Beweislastumkehr im Pflegerecht
4.1 Die Begriffe Beweislast und Beweislastumkehr
4.2 Die Entwicklung der Beweislastumkehr aus dem Arzthaftungsrecht
4.2.1 Gefährdungshaftung und defensive Medizin
4.2.2 Grundsätzliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
4.2.3 Die Beweisregel des § 280 BGB
4.2.4 Die typischen Fallgruppen mit Beweiserleichterung für Patienten
4.2.4.1 Der Anscheinsbeweis
4.2.4.2 Dokumentationsmängel
4.2.4.3 Grobe Behandlungsfehler und mangelnde Diagnostik
4.2.4.4 Aufklärungsfehler
4.2.5 Haftungsverantwortung bei gemeinsamer Handlung von Arzt und Pflege
4.3 Die Haftungsverantwortung der Pflege und die beweisrechtlichen Regelungen
4.3.1 Die ärztliche Gesamtverantwortung
4.3.2 Delegationsrecht
4.3.2.1 Anordnungs- und Durchführungsverantwortung
4.3.2.2 Grundregeln der Aufgabendelegation und die Rechtsprechung
4.3.3 Sorgfaltspflichtverletzungen im Aufgabenbereich der Pflege
4.3.3.1 Grobe Pflegefehler
4.3.3.2 Aufsichtspflichtverletzungen
4.3.3.2.1 Beweislastumkehr bei Sturz eines Patienten
4.3.3.2.2 Selbstschädigung von Patienten in der Psychiatrie
4.3.3.3 Besonderer Bereich: Neugeborenenpflege und Geburtshilfe
4.3.3.4 Mängel in der Pflegedokumentation
4.3.3.4.1 Zusammenhang Pflegedokumentation und ärztliche Dokumentation
4.3.3.4.2 Pflegedokumentation als Urkunde
4.3.3.4.3 Anforderungen an die Pflegedokumentation
4.3.3.5 Pflegefehler Dekubitus und Beweislastumkehr
4.3.3.5.1 Die Entwicklung der Rechtsprechung
4.3.3.5.2 Sonderfall Dekubitus als Lagerungsschaden im OP
4.3.3.5.3 Rechtliche Bedeutung von Pflegestandards am Beispiel Dekubitushaftung
4.3.3.6 Organisationsversagen und Pflegetätigkeit
4.3.3.6.1 Mängel in der Hygiene
4.3.3.6.2 Fehlerhafter Einsatz von Medizingeräten u. –produkten
5. Zusammenfassung und Ausblick: Das Haftungsrisiko der Krankenpflege
6. Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung: Die Haftung im Pflegerecht
1.1 Die ökonomische Dimension der Haftung bei Heilbehandlung
Genaue statistische Angaben zum Ausmaß der Patientenschäden in Deutschland fehlen, jedoch gibt es Studien, Schätzungen und Hochrechnungen u. a. der Haftpflichtversicherer, die belegen, dass es jährlich ca. 30-35.000 Schadensersatzansprüche von Patienten gibt, davon werden etwa 12.000 – 15.000 vor Gericht verhandelt (vgl. Ulsenheimer 2002, § 112, RdNr. 2). Zwischen 1975 und 1990 hat sich die Zahl der Haftungsansprüche gegen Ärzte verfünffacht, mit weiter steigender Tendenz (vgl. Heidermann, RdNr. 285). Ebenso wird von einem jährlichen Anstieg des Aufwands von 10 % pro Schadensfall für die Versicherer ausgegangen. Erreichen die Schadensersatzsummen z. B. in den USA z. T. mehrfache Millionenhöhe (z. B. 8,3 Mio. $ bei Schädigung eines Kindes bei Geburt), so urteilen deutsche Gerichte weiterhin zurückhaltend: Nur 5 % der Schadensbeträge liegen über 50.000 DM (vgl. Giesen, RdNr. 59 ff.). Summen über 100.000 DM werden fast nur bei Querschnittslähmungen und schweren Patientenschäden in der Geburtshilfe erreicht. Die Prämien der Berufshaftpflichtversicherung betragen für Chefärzte mittlerweile bis 40.000 DM (vgl. Uhlenbruck/Schlund § 22, RdNr. 1).
Nach einem Bericht der Ärzte-Zeitung im Jahr 2000 schätzen Experten, dass in der BRD jährlich 400.000 Patienten falsch behandelt werden und sich die Zahl der Medizin-Toten auf bis zu 39.200 beläuft (vgl. Schell, S. 51 ff.). Wissenschaftliche Hochrechnungen belegen eine Zahl von 10.000 Todesfällen allein durch Hygienemängel. Diese Zahlen liegen deutlich höher als die Zahl der Opfer durch Verkehrsunfälle (7.749 im Jahr 1999). Die Gesamtsumme der jährlichen Schadensersatzzahlungen der Haftpflichtversicherer wurde 2001 mit ca. 390 Mio. DM beziffert (vgl. Heidermann, RdNr. 312).
W. Schell kommt zu dem Schluss: „Es kann kein ernsthafter Zweifel daran bestehen, dass die Medizinschäden ... wahrscheinlich sogar das größte Schadensgebiet in der BRD sind.“ (S. 53).
Demgegenüber darf man aber nicht vergessen, dass bei jährlich etwa 350 Mio. ambulanten und 13 Mio. stationären Behandlungen die ca. 35.000 Schadensersatzansprüche eine versch-windend geringe Anzahl sind und für eine außerordentlich niedrige Fehlerrate der Medizin in Deutschland sprechen (Ehlers/Broglie im Vorwort z. 2. Aufl., S. V).
Zum Schadensaufkommen im Bereich der Krankenpflege sind überhaupt keine verlässlichen statistischen Angaben zu erhalten. Einzig Höfert, Vorstand im Deutschen Pflegeverband e.V., gibt an, von 10.000 Arzthaftungsprozessen würden sich 1.000 auf Pflegefehler beziehen (vgl. Höfert, Pflege i. Spannungsfeld rechtl. Anford., Anmerk.: der Verfasser bekam auf seine Anfrage beim Autoren nach dem Beleg dieser Aussage keine Antwort).
Angesichts dieser Schadensträchtigkeit der Heilbehandlung für Patienten ist es notwendig, dass alle Gesundheitsberufe mit den haftungsrechtlichen Konsequenzen ihres Handelns vertraut sind und auch die Pflege weiß, wie ihre Haftungsverantwortung beschaffen ist. Das Haftungsrecht ist hierbei erheblich durch höchstrichterliche Entscheidungen geprägt, denen eine hohe Verbindlichkeit in ähnlich gelagerten Fällen zukommt. Das Beweisrecht spielt bei diesen Entscheidungen eine herausragende Rolle.
1.2. Beweislast im Pflegehaftungsrecht – Zielsetzung der Arbeit
Ein eigenständiges „Pflegerecht“ existiert noch nicht. Ebensowenig gibt es ein definiertes „Arztrecht“. Unter Pflegerecht lassen sich alle Vorschriften aus dem arbeits-, zivil-, straf- u. sozialrechtlichen Bereich subsumieren, die die berufliche Tätigkeit der Pflegenden beeinflussen (vgl. Großkopf, Begründ. d. Vorlesungsinhalte). Gleiches gilt für das Arztrecht, als Ausdruck eines höheren Professionalisierungsgrads dieses Berufsstands kommt hier noch ein verbindlich gefasstes Standesrecht hinzu (z. B. Berufsordnung für deutsche Ärzte – MBO-A).
Im Zuge einer allgemeinen Verrechtlichung des gesellschaftlichen und insbesondere des beruflichen Lebens nimmt jedoch die Bedeutung beider Rechtsgebiete ständig zu. Mit der fortschreitenden Entwicklung der Krankenpflege als Profession entwickelt sich zunehmend ein spezifisches Recht der Pflege in ihrer eigenen Berufsrolle. Großkopf bezeichnet die Entwicklung eines eigenständigen Rechtsgebiets Pflegerecht als einen der spannendsten Bereiche der jüngsten Rechtsentwicklung (vgl. Großkopf a. a. O.). Die Dienstleistungsberufe im Gesundheitswesen üben eine schadensträchtige Tätigkeit aus. Die medizinische und pflegerische Betreuung von Patienten birgt erhebliche Haftungsrisiken (vgl. Krause, S. 13). Das Haftungsrecht ist somit ein wichtiges Teilgebiet des Pflegerechts.
Die wesentlichen Antworten auf Fragen der Haftung für pflegerisches Handeln müssen aus dem normativen Recht des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) entnommen werden (vgl. Schell, S. 42). Sowohl bei Arzt-, wie auch Pflegehaftungsrecht müssen diese Bestimmungen durch die Rechtsprechung ausgefüllt werden. Haftungsrecht der Pflege ist somit Richterrecht (vgl. Krause, S. 13).
Auch in Pflegehaftungsprozessen kommt den beweisrechtlichen Regelungen eine entscheidende Rolle zu. Die Zivilgerichte formen Pflege- u. Arzthaftung durch beweisrechtliche Mittel. Die Pflegehaftung ist analog zum Arztrecht dabei geradezu eine Domäne der zivilrechtlich atypischen Sonderregelung der Beweislastumkehr. Die Frage der Beweislastverteilung bei den Prozessparteien ist entscheidend für den Ausgang von Zivilgerichtsverfahren. Diese geschieht selbstverständlich nicht willkürlich, sondern folgt bestimmten Regeln.
Die Beantwortung der Frage, welche Logik hinter der richterlichen Beweislastverteilung steckt und auf welchen Rechtsgedanken und Grundsätzen diese in der Pflegehaftung beruht, ist ein zentrales Anliegen dieser Arbeit. Mit welchen Begründungen nehmen Gerichte eine Abkehr von der rechtsüblichen Verfahrenspraxis vor, wo wird dies angewendet und was bewirkt es? Der Handhabung und den Folgen der Beweislastumkehr in typischen Haftungssituationen durch die alltägliche Pflegetätigkeit möchte diese Arbeit nachgehen. Dabei soll der Schwerpunkt weniger auf rechtstheoretischen Überlegungen liegen, sondern auf der Praxis der Rechtsprechung, dargestellt an Fallbeispielen und in Beziehung gesetzt zu den Berührungspunkten des Pflegehaftungsrechts mit der Stellung der Krankenpflege im Gefüge der Berufe des Gesundheitswesens.
War die Krankenpflege den Juristen in der Vergangenheit ein relativ unbekanntes Gebiet, allerhöchstens im Arbeits- u. Strafrecht zur Kenntnis genommen und ansonsten ein Annex der Arzthaftung, hat sich dies geändert (vgl. Böhme 2001, Die Schwester/Der Pfleger, S. 1056). Spätestens seit Einführung des Krankenpflegegesetzes (KrPflG) 1985 und der Pflegever-sicherung (SGB XI, 1994) kommt Pflege als Regelungsgegenstand einfach vor. Die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze der Haftung bei Heilbehandlung stammen jedoch aus der Arzthaftung und werden in weiten Bereichen auch auf die Pflegeberufe angewendet (vgl. Krause, S. 13). Die ausgeprägte Arbeitsteilung in Krankenhäusern bedingt eine enge Verzahnung ärztlicher und pflegerischer Tätigkeit. Die Zuteilung der Haftungsverantwortung an eine der beiden Berufsgruppen im Schadensfall ist schwierig und abhängig von der Zuordnung der Ursache in einen eigenen Pflichtenkreis der Berufe (vgl. Böhme 1996, S. 317). In die Haftung nehmen kann ein Zivilgericht aber immer nur eine Partei, die für ihr Handeln auch verantwortlich ist. Der eigenständige Verantwortungsbereich der Krankenpflege ist jedoch vor allem im Krankenhaus noch mit einem Fragezeichen versehen.
Die Betrachtung des Haftungsrechts und der Beweislastverteilung auf die Parteien im Zivilprozess berührt auch die Frage, wie weit der Pflege eine eigenständige Verantwortung für ihr Tun zugeschrieben werden kann. Deshalb soll im Zusammenhang mit beweisrechtlichen Folgen auch das Problem eines „arztfreien Raums“ kurz erörtert werden, dass sich besonders im kompliziert arbeitsteiligen Aufgabenfeld der Krankenhausversorgung stellt. Ob die Rechtsprechung hier im Haftungsfall zur Klärung beitragen kann, ob sie sogar einen berufs-politischen Aspekt hat und etwa zur Diskussion über Vorbehaltsaufgaben der Pflege Beiträge liefern kann, ist eine weitere Fragestellung der Arbeit.
Die Pflege sollte nicht nur den aktuellen Stand der Rechtsprechung verfolgen, sondern sollte dabei auch die Modalitäten des Beweisrechts vor Gericht im Auge haben, um Rückschlüsse auf ihr Haftungsrisiko aus der täglichen Arbeit ziehen zu können. Mit der vorliegenden Arbeit möchte der Verfasser auch der Frage nachgehen, wie sich durch Beweislastumkehr das Haftungsrisiko in der Pflege verschärft und wie dies zu bewerten ist.
1.3. Inhaltliche Abgrenzung und Vorgehensweise
Die zivilrechtliche Haftung von Arzt und Pflege basiert auf einigen wenigen und allgemein gehaltenen Paragraphen des Rechts für jedermann im BGB. Diese abstrakten Rechtsnormen müssen vom Gericht angewendet und ausgelegt werden. Mit diesen grundlegenden Bestimmungen des materiellen Rechts zur Haftung bei Heilbehandlung beschäftigt sich der erste Teil dieser Arbeit. Mit einer kurzen Schilderung der innerbetrieblichen Regressansprüche soll ergänzend die arbeitsrechtliche Position des Arbeitnehmers dargestellt werden, da auch hiervon das Haftungsrisiko einer angestellten Pflegekraft bestimmt wird.
Das Beweisrecht wird beeinflusst von Faktoren aus dem materiellen wie aus dem formellen Recht. Eine Untersuchung der Anwendung des Beweisrechts in der Pflege berührt auch die Bestimmungen des formellen Rechts. Deshalb werden im Gliederungspunkt 3 die Grundzüge und Maximen des Zivilprozessrechts und der Zivilprozessordnung (ZPO) in konzentrierter Form wiedergegeben, soweit sie für Verfahren bei Heilbehandlung Bedeutung haben. Anhand einer kurzen Schilderung des regulären Ablaufs der Verfahren vor Gericht wird hier im Wesentlichen auf die gerichtliche Haftungsprüfung mit Betonung der wichtigen Kausalitätsfrage bei Patientenschädigung und die Rolle von Beweis und Beweisverfahren eingegangen. Der Teil des Zivilprozessrechts, der sich mit dem Vollstreckungsverfahren befasst, ist für die Untersuchung nicht relevant und wird ausgelassen.
Mit dem Gliederungspunkt 4 soll versucht werden, die mit unterschiedlicher Tragweite angewendeten Beweiserleichterungen in Pflegehaftungsprozessen besonders kennzeichnenden Fallgruppen zuzuordnen, ohne dabei ausnahmslos alle Bereiche oder auch wichtige Einzelfälle berücksichtigen zu können (z. B. Mängel in der Krankenbeobachtung). Da sich die grundsätzlichen Regelungen des Beweisrechts bei Patientenschädigung in Arzthaftungsfällen herausgebildet haben, ist es unumgänglich, zuvor die wichtigsten Fallgruppen des Arztrechts darzulegen, bei denen es Analogien zum Pflegerecht gibt, bzw. Grenzen dieser Analogie (z.B. bei der Patientenaufklärung).
Eine Beweislastumkehr kommt auch bei fehlerhafter Aufgabendelegation zwischen Arzt und Pflege zum Tragen, weshalb auf Delegationsrecht und dabei speziell auf die Anordnungs- u. Durchführungsverantwortung ebenfalls eingegangen werden muss. Da es eine geordnete Klassifizierung typischer Fallgruppen mit Beweiserleichterungen für Patienten in der Literatur zum Pflegerecht nicht gibt, werden hier die Gebiete der Sorgfaltspflichtverletzungen im Aufgabenbereich der Pflege, die eine Beweislastumkehr signifikant hervorrufen können, wie folgt unterteilt:
1. Grobe Pflegefehler,
2. Aufsichtspflichtverletzungen, insbesondere die Problematik von Sturzverletzungen und die Selbstschädigung psychiatrischer Patienten,
3. Neugeborenenpflege und Geburtshilfe als besonders schadensträchtiger und sensibler Bereich,
4. Mängel der Pflegedokumentation,
5. Dekubitusrechtsprechung,
6. Hygienemängel,
7. Fehlerhafter Einsatz von Medizingeräten u. – produkten.
Weil sich bei Dekubitusfällen am ehesten eine Fortentwicklung in der Pflegerechtsprechung erkennen lässt, wird hierauf gesondert eingegangen, obwohl dieser Bereich dem groben Pflegefehler zuzuordnen ist. Die zunehmende Standardisierung in Medizin und Pflege hat eine Auswirkung auf die Haftung. Am Beispiel der Dekubitushaftung kann auch darauf geachtet werden, ob Pflegestandards eine Rolle spielen, wenn es darum geht, Rechtssicherheit in der Pflegehaftung herzustellen.
2. Grundsätze der Haftung bei Heilbehandlung
2.1 Grundlagen des Zivilrechts
Unter Haftungsrecht ist das Recht des fehlerhaften Handelns, das Einstehenmüssen für eine (schuldhafte) Pflichtverletzung zu verstehen (vgl. Böhme 1996, S. 2). Es wird in jedem Einzelfall gerichtlich geklärt, wer die Rechtsfolgen zu tragen hat.
Die Haftung bezieht sich auf die drei möglichen Rechtsfolgen: zivilrechtliche, strafrechtliche und arbeitsrechtliche Haftung. Bei der zivilrechtlichen Haftung kommt es zu Schadensersatz oder Schmerzensgeld (geregelt im BGB), bei der strafrechtlichen zur Bestrafung (geregelt im StGB) und bei der arbeitsrechtlichen zu disziplinarischen Maßnahmen.
Das Strafrecht sieht bei Nichteinhalten gesellschaftlicher Basisnormen Sanktionen vor, die im Interesse der Allgemeinheit als öffentliches Recht von hoheitlich-staatlicher Seite verhängt werden.
Im Zivilrecht dagegen, welches die Rechtsbeziehungen der Menschen untereinander regelt, befinden sich die Beteiligten auf einer gleichgeordneten Ebene. Es ist gesetztes (geschriebenes) Recht, welches für die objektive Rechtsordnung der BRD typisch ist und kaum noch Raum für ursprüngliches Gewohnheitsrecht lässt (vgl. Bretzinger u. a., S. 40). Bei dem Schadensersatzrecht geht es um rechtliche Ansprüche, die im Wesentlichen im Bürgerlichen Gesetzbuch geregelt sind. Das BGB legt fest, welche Rechte die Menschen im Verhältnis zueinander haben und gewährleistet die Privatautonomie der Bürger (vgl. Köhler, S. X). Die Privatautonomie (auf der Grundlage der Freiheit des Individuums, Art. 1 u. 2 GG) gestattet dem einzelnen, seine Lebensverhältnisse eigenverantwortlich zu gestalten und rechtliche Regelungen zu treffen (vgl. Bretzinger u. a., S. 100). Als geeignete Handlungsform steht dabei an erster Stelle die Vertragsfreiheit. Das Privatrecht sichert jedoch auch den Rechts-güterschutz des einzelnen (Leben, Gesundheit, Eigentum, Vermögen, usw.). Der Staat stellt seine Gerichtsorganisation für die rechtmäßige Zuerkennung von Ansprüchen zur Verfügung, es ist jedoch der Initiative des Individuums überlassen, seine Ansprüche geltend zu machen (und ggf. zu beweisen). Zivilrechtlich werden Klagen nur auf Antrag verfolgt, man bezeichnet die beschuldigte Partei auch nicht (wie im Strafrecht) als Angeklagte, sondern man spricht von Kläger und Beklagtem.
Das BGB gliedert sich in fünf Bücher, fundamentale Bedeutung für streitige Rechtsfälle aus Medizin und Pflege hat das zweite Buch Recht der Schuldverhältnisse (§§ 241 bis 853). Der Begriff Schuldverhältnis ist abstrakt und zunächst schwer verständlich. Ein Schuldverhältnis liegt schlicht immer dann vor, wenn eine Person einer anderen etwas schuldet (BGB § 241, vgl. Köhler, S. XVII). Arzt und Pflege schulden die Behandlung und haben den Anspruch auf Vergütung (im Regelfall durch die Krankenversicherung), die Patienten haben Anspruch auf Leistungen der Krankenversicherung (§§ 11 – 68 SGB V), aber auch Mitwirkungspflichten
(§ 60 ff. SGB I). Schuldverhältnisse können entweder durch Vertrag oder kraft gesetzlicher Anordnung (= gesetzliche Schuldverhältnisse, z. B. aus unerlaubter Handlung n. § 823 BGB) entstehen. Eine einschneidende Änderung des BGB ging vom Schuldrechtsmodernisierungsgesetz (gültig seit 1.1.2002) aus, welches hauptsächlich das Recht der Leistungsstörungen (§§ 275 ff., 323 ff.) neu geregelt hat (vgl. Köhler, S. XXV). Grundnorm des Schadensersatzes ist nunmehr:
§ 280 Abs. 1: Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der
Gläubiger Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen.
Diese neue Generalklausel hat gerade für rechtliche Fragestellungen im Gesundheitswesen große Bedeutung (vgl. Großkopf/Klein, S. 178 f.). Hiernach haftet der Schuldner (z. B. ein Krankenhausträger) aus einem vertraglichen oder auch gesetzlichen Schuldverhältnis wegen jeder „Pflichtverletzung“. Dies kann sich auf Hauptleistungen (Patient erleidet einen Schaden durch einen „Kunstfehler“), Nebenleistungen (Lebensmittelvergiftung durch Krankenhaus-küche) und Schutzpflichten (Patient stürzt wegen Unachtsamkeit der Pflegekraft) beziehen.
2.2 Haftung aus Vertrag (§ 611 BGB)
Die Voraussetzung einer Haftung aus Vertrag ist die Begründung eines Rechtsverhältnis durch übereinstimmende Willenserklärung (= Vertrag). Ein geschädigter Patient muss mit dem Anspruchgegner einen Vertrag abgeschlossen haben (vgl. Großkopf/Klein, S. 177). Begibt sich ein Patient in ärztliche Behandlung, egal ob in ein Krankenhaus oder in eine Praxis, kommt ein Behandlungsvertrag zustande, der ein Dienstvertrag nach § 611 BGB ist. Im Unterschied zum Werkvertrag wird hier dem Patienten nicht der Heilerfolg als Ergebnis der Behandlung geschuldet, sondern eine ordnungsgemäße, fehlerfreie Dienstleistung. Dem Patienten gegenüber ist dafür einzustehen, dass die Behandlung kunstgerecht, unter Einhaltung des medizinischen Standards durchgeführt wird (vgl. Uhlenbruck/Laufs § 39, RdNr. 9 u. 10). Der Misserfolg, bzw. eine Patientenschädigung allein, ist noch kein Beweis für eine schlechte Behandlung. Die Rechtsprechung kennt krankheitsbedingte Risiken als sog. „schicksalhaften Verlauf“, die aufgrund der Unberechenbarkeit des menschlichen Organismus vom Patienten als allgemeines Lebensrisiko zu tragen sind (vgl. BGH, NJW 1980, S. 1333). Typisches Beispiel dafür ist eine Wundinfektion nach einer Operation.
Gerade den Arzt trifft, durch die Einordnung des Behandlungsverhältnisses nach § 611 BGB, keine Erfolgshaftung, sondern nur eine Einstandspflicht für vorwerfbare Fehlleistungen (vgl. Uhlenbruck/Laufs § 39, RdNr. 14).
Ein Dienstvertrag liegt ebenfalls vor, bei der Einschaltung eines ambulanten Pflegediensts oder dem Bezug von Pflegeleistungen in einer stationären Pflegeeinrichtung auf der Grund-lage des SGB XI (vgl. Böhme 1996, S. 143/144).
Die meisten Beschwerden über ärztliche Fehlleistungen richten sich gegen Krankenhausärzte (Giesen, RdNr. 13). Hier haftet der Krankenhausträger vertraglich durch den überwiegend vorliegenden und alle (ärztlichen und pflegerischen) Leistungen umfassenden totalen Krankenhausvertrag. Eine vertragliche Beziehung kommt nicht zwischen angestellten, behandelnden Ärzten u. Pflegepersonal und Patient zustande, sondern zwischen Patient und Träger. Gleiches gilt für Sozialstationen und Altenheime. Die Ausnahme ist der sog. gespaltene Krankenhausaufnahmevertrag, bei dem durch einen privaten Zusatzvertrag auch eine direkte vertragliche Beziehung zu einem liquidationsberechtigten Chefarzt aufgenommen wird (vgl. Giesen, RdNr. 16). Weder das Krankenpflegepersonal noch die übrigen angestellten Ärzte haften dem Patienten direkt aus Vertrag.
Zwischen einem in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Kassenpatienten und dem Kassenarzt kommt nach § 76 SGB V ein privatrechtlicher Vertrag zustande, obwohl der Vertragsarzt über die Kassenärztliche Vereinigung zu dem Kostenträger Krankenkasse in einem öffentlich-rechtlichen Verhältnis steht. Somit sind Haftungsansprüche nicht öffentliches Recht, sondern vor Zivilgerichten zu verfolgen (vgl. Uhlenbruck/Laufs § 40, RdNr. 31). Steht eine Einrichtung unter öffentlich-rechtlicher Trägerschaft, so ist dennoch die Vertragsbeziehung des Patienten stets eine zivilrechtliche nach § 611 BGB, unterliegt bei rechtlichen Auseinandersetzungen dem materiellen Recht des BGB und dem formellen Recht der Zivilprozessordnung.
2.2.1 Vertragliche Trägerhaftung nach § 280 BGB
Ein Träger einer Einrichtung als Vertragspartner des Patienten hat nicht nur die Pflicht zur Erfüllung der Hauptleistung (z. B. Therapie und Pflege), sondern auch zum Unterlassen jeder Schädigung durch unsorgfältige Dienstleistung oder Verletzung von Schutzpflichten (Garantenstellung). Zuwiderhandlung ist eine Vertragsverletzung nach dem neuen § 280 BGB (vgl. Schell, S. 57). Bei Verschulden ist er schadensersatzpflichtig.
Die Pflichtverletzungen des § 280 sind im Bereich eines Trägers einer Gesundheitseinrichtung im Wesentlichen (vgl. Schell, S. 61):
Behandlungs- u. Pflegefehler, Organisationsverschulden (z. B. Kooperationsmängel), Verletzung allg. Verkehrssicherungspflichten, Aufklärungs- u. Dokumentationsmängel, Verletzung der Schweigepflicht, Aufsichtspflichtverletzung und Haftung für fehlerhafte Auswahl u. Überwachung des Personals.
Der § 280 gilt im Bereich des Gesundheitswesens vor allem in Verbindung mit den folgenden, neugesetzten Rechtsnormen (vgl. Großkopf/Klein, S. 179 u. Köhler, S. XXV):
- § 281: Schadensersatz statt der Leistung, da der § 280 eine Fristsetzung zur Nachbesserung vorsieht, die im Falle eines Gesundheitsschadens ja kaum geleistet werden kann.
- § 282: Schadensersatz wegen nicht leistbarer Nebenpflicht, Unzumutbarkeit der Leistung für den Gläubiger.
- § 283: Schadensersatz wegen Unmöglichkeit (mit Verweis auf § 275 Ausschluss der Leistungspflicht bei Unmöglichkeit für jedermann), gilt für die vom Schuldner zu vertretende Unmöglichkeit der Leistung.
Zusammen mit dem Vertragsverhältnis bildet der § 280 BGB die Anspruchsgrundlage der vertraglichen Haftung.
Ursprünglich enthielt das BGB keine Regelungen zu Schlechtleistung oder Verletzung von Nebenpflichten (z. B. Pflicht zu ärztlicher und pflegerischer Dokumentation). Hier formte die ständige Rechtsprechung durch richterliche Rechtsfortbildung den Begriff der „positiven Vertragsverletzung“ (vgl. Bretzinger u. a., S. 200). Durch die Modernisierung des Leistungs-störungsrechts wurde nun auch dieser, für Heilbehandlungsprozesse bedeutsame, allgemeine Rechtsgrundsatz gesetzlich geregelt (§ 241 Abs. 2 BGB i. V. mit §§ 280 ff.; vgl. Köhler, S. XXVII u. Schell, S. 57).
2.2.2 Trägerhaftung für eigenes Verschulden (§ 276 BGB)
Nach § 276 BGB hat ein Träger einer Einrichtung bei der Haftung aus Vertrag (wie auch jeder andere Schuldner) Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten. Nach Abs. 2 des § 276 handelt fahrlässig, wer die „im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt“. Verletzt z. B. ein Krankenhausträger widerrechtlich und schuldhaft seine eigenen Sorgfaltspflichten, kann dies einen Schadensersatzanspruch eines Patienten zur Folge haben (vgl. Brenner, S. 140). Dies gilt hauptsächlich für den sehr weit gefassten Bereich der Überwachungs- u. Kontrollpflichten (Organisationsverschulden, näheres s. 4.3.3.6).
2.2.3 Trägerhaftung für fremdes Verschulden (§ 278 BGB)
Ein Träger haftet generell vertraglich für ein Verschulden seines Personals wie für eigenes Verschulden. Dies bezieht sich auf alle angestellten Arbeitnehmer, im Gesetz bezeichnet als Erfüllungsgehilfen. Erfüllungsgehilfen sind Mitarbeiter aller aufbauorganisatorischen Hierarchieebenen von der Schwesternschülerin bis zum Chefarzt, solange diese in Erfüllung der dem Träger obliegenden Behandlungspflicht tätig sind (vgl. Pflüger, S. 42). Die Ausnahme ist der selbstliquidierende (Chef-)Arzt, wenn er ausschließlich in seinem eigenen Pflichtenkreis tätig ist.
Schwierigkeiten in der Rechtsprechung bereiteten mitunter die komplexen vertraglichen Konstellationen bei Fällen mit Zusammenwirken von Klinikpersonal mit Belegärzten und Beleghebammen. Der Pflichtenkreis eines selbständig tätigen Arztes in einem Krankenhaus wird von einem eigenen Leistungsbereich des Krankenhauses umlagert, und die Verschuldenszurechnung für nachgeordnetes Klinikpersonal zum Tätigsein des Arztes oder des Pflichtenbereichs des Krankenhauses ist schwierig. Beispielsweise trägt die Klinik die Verantwortung für die Bereitstellung von qualifizierten Personal (BGH, VersR. 1996, S. 976) und die sichere Gestaltung der allgemeinen Betriebsabläufe (vgl. Pflüger, S. 45) sowie für Unzulänglichkeiten in der Grund- u. Behandlungspflege durch das Pflegepersonal. Die Rechtsprechung konstruiert jedoch zunehmend eine Gesamtschuld, wo der Belegarzt wegen mangelnder Instruktion des von ihm eingesetzten Pflegepersonals der Klinik belastet wird (vgl. Pflüger, S. 46).
Von großer Bedeutung für einen klagenden Patienten ist der Umstand, dass der Träger sich seiner Haftung für Erfüllungsgehilfen nicht durch einen Entlastungsbeweis entziehen kann und so die Verantwortung an seine Angestellten verweist.
Grundgedanke dieser Garantiehaftung für Erfüllungsgehilfen ist, dass ein Träger einer Gesundheitseinrichtung durch die Tätigkeit seines Personals im eigenen Interesse seinen Geschäftskreis erweitert und deshalb das Personalrisiko zu tragen hat (vgl. Laufs § 98, RdNr. 14).
2.3 Organhaftung
Die Mitglieder eines Direktoriums einer Einrichtung bzw. ein Klinikumsvorstand werden durch Satzungen, Gesellschaftsverträge oder sonstige staatliche Organisationsvorschriften bestimmt. Sie sind deshalb „verfassungsmäßig berufene Vertreter“ des Trägers, für die dieser nach §§ 31, 89 BGB ohne Entlastungsmöglichkeit einzutreten hat (vgl. Deutsch 1999, RdNr. 248, Pflüger, S.55 ff.). Dies gilt vor allem für einen weisungsfrei leitenden Chefarzt. Hiernach werden persönliche Fehlleistungen eines Arztes mit Organstellung dem Träger angelastet, sofern er im Rahmen seiner dienstvertraglichen Aufgaben (z. B. Kontrolle und Organisation des gesamten ärztlichen Dienstes) Pflichten erfüllt, die ein Krankenhaus dem Patienten schuldet. Wird er eigenständig tätig, haftet er selbst (Grundsatz: „Wer liquidiert, haftet“ – OLG Köln, VersR. 1985, S. 844).
Verfehlt beispielsweise ein Chefarzt organisatorisch sicherzustellen, dass richtige Anwendung und Aufklärung zu von ihm eingeführter Behandlungsmethoden erfolgt (paracervicale Anästhesie i. d. Geburtshilfe – BGH, VersR. 1985, S. 598), haftet der Träger nach §§ 31, 89 BGB (vgl. Laufs § 104, RdNr. 18).
Was zweifelsfrei für den ärztlichen Direktor gilt, muss auch Gültigkeit für eine Pflegedienst-leitung haben, sofern sie Mitglied des Direktoriums ist und eine den anderen Vorstands-mitgliedern vergleichbare Rolle spielt (vgl. Böhme 1996, S. 157 f.). Gleiches ist auch bei einer Heimleitung einer stationären Pflegeeinrichtung anzunehmen.
Für Patienten hatte die Organhaftung vor der Schuldrechtsreform insofern erhebliche Bedeutung, als nur hiermit ein Schmerzensgeldanspruch ohne Entlastungsmöglichkeit des Trägers hergeleitet werden konnte.
2.4 Deliktische Haftung
Die deliktische Haftung ist für Pflegekräfte wesentlich bedeutsamer als die Haftung aus Vertrag (vgl. Großkopf/Klein, S. 182 f.).
Nur mit deliktischer Haftung „aus unerlaubter Handlung“ kann eine Pflegekraft direkt für eigenes, persönliches Tun (oder Unterlassen) verantwortlich gemacht werden.
Eine Schadensersatzpflicht wird nach § 823 BGB gegenüber jedem abgeleitet, der ein dort benanntes Rechtsgut widerrechtlich und schuldhaft verletzt. Hervorgehoben sind dabei die Rechtsgüter Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit und Eigentum. Das Recht der unerlaubten Handlung ist inhaltlich und vom Anspruchsaufbau eng mit dem Strafrecht verwandt, was sich in der Bezeichnung „deliktische“ Haftung widerspiegelt.
Neben der Verletzung absoluter Rechtsgüter kennt § 823 BGB noch die Alternative der Verletzung von Schutzgesetzen. Dies sind nicht nur die strafrechtlichen Normen (z. B. § 223 StGB, Körperverletzung), sondern jede Rechtsnorm, die dem Schutz eines anderen zur Gefahrenabwehr dient. Beispiele im medizinischen Bereich sind dafür die Medizingeräteverordnung (MedGV), Medizinproduktegesetz (MPG) und die Röntgenverordnung.
Zu den Anspruchsgrundlagen: Steht der Tatbestand (Verletzung eines der o. g. Rechtsgüter) zweifelsfrei fest, ist die Tat rechtswidrig. Diese Rechtswidrigkeit entfällt nur durch Recht-fertigungsgründe (Notwehr § 227 BGB, Notstand § 228 BGB, Selbsthilfe § 229 BGB). Der Täter muss verschuldensfähig sein (gemäß §§ 827, 828 BGB) und nach § 276 BGB fahrlässig oder vorsätzlich gehandelt haben.
Im medizinischen Bereich ist in der Regel davon auszugehen, dass Vorsatz (Wissen und Wollen der Schadenszufügung) ausscheidet (vgl. Brenner, S. 148).
Deliktische Haftung und Haftung aus Vertrag bestehen nebeneinander, überlagern sich und sind inhaltlich weitgehend identisch, d. h. ein Patient kann sich bei einer Schadensersatzklage auf beide Haftungsarten berufen und so gleichzeitig alle beteiligten Personen (Träger, Arzt und Pflegepersonal) beklagen (vgl. Laufs § 97,RdNr. 10). Beide Haftungsarten erfordern eine objektive Sorgfaltpflichtverletzung, die bei der Patientenbehandlung gültigen Sorgfaltspflichten sind vertraglich wie deliktisch grundsätzlich identisch (BGH, NJW 1989, S. 767) und unterliegen dem Verschuldensprinzip.
Der Versuch, seitens des Trägers etwa in seinen Allgemeinen Geschäftsbedingungen eine Haftung für Fahrlässigkeit vertraglich auszuschließen, ist rechtlich unzulässig (Laufs § 97, RdNr. 17).
2.4.1 Deliktische Haftung des Trägers für eigenes Handeln
Ansprüche aus § 823 können von Patienten immer nur gegen denjenigen geltend gemacht werden, der einen Schaden direkt verursacht hat, deshalb haftet ein Träger zunächst einmal grundsätzlich nicht aus diesem Paragraphen, da er nicht selbst handelt (vgl. Böhme 1996, S. 156.).
Eine Haftung auf dieser Grundlage kommt jedoch zustande bei der Verletzung von Verkehrs-sicherungspflichten (Organisationsverschulden). Diese kann sich zum einen durch das Fehlen einer Organisation (z. B. Nichteinsetzen einer verantwortlichen Person) und zum anderen durch eine unrichtige Organisation der die Sicherheit des Patienten garantierenden Funktionsabläufe äußern (vgl. Deutsch 1999, RdNr. 239 ff.).
Ein Träger einer Gesundheitseinrichtung unterliegt generellen Planungs-, Leitungs- u. Kontrollpflichten, die dem Verkehrspflichtenkonzept des § 823 entsprechen (vgl. Pflüger, S. 250).
Diese Organisationspflichten reichen sehr weit in ärztlich - pflegerische Tätigkeitsbereiche hinein und führen in der juristischen Literatur zu der Wertung, dass die Organisationspflichtverletzung als gelungener Versuch der Rechtsprechung angesehen wird, die Haftung der Behandlungsseite beim Träger zu bündeln (vgl. Pflüger, S. 227 ff., insb. Fußnote 2, S. 228).
Als forensisch bedeutend identifiziert Pflüger acht Bereiche (Fallgruppen), wo mögliche Organisationsfehler zu einer Trägerhaftung aus eigener, unerlaubter Handlung führen können (vgl. S. 125 ff.):
- Personaleinsatz und Personalüberwachung
- Interdisziplinäre ärztliche Zusammenarbeit
- Organisation der Patientenaufklärung
- Anwendung von Arzneimitteln, Blut und Blutprodukten
- Einsatz von Medizinprodukten
- Hygiene und Infektionsschutz
- Kommunikation, Dokumentation und Information
- Allgemeine Aufenthaltssicherung
2.4.2 Deliktische Haftung des Trägers für fremdes Handeln
Nach § 831 BGB haftet ein Träger für Schadenszufügung durch seine Mitarbeiter (sog. Verrichtungsgehilfen) nicht aus Vertrag, sondern aus unerlaubter Handlung. Diese Geschäftsherrenhaftung basiert auf der Vermutung eines eigenen Verschuldens seitens eines Trägers für mangelhafte Auswahl und Kontrolle des angestellten Personals (vgl. Großkopf/Klein, S. 184).
Aus dieser Haftung kann sich der Geschäftsherr allerdings (im Unterschied zu § 278 BGB) befreien, wenn er nachweisen kann, dass er bei der Auswahl des Personals, bei der Beschaffung von Gerätschaften oder Vorrichtungen und der Leitung (Überwachung) der Mitarbeiter die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beachtet hat und ein Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt aufgetreten wäre (vgl. Rehborn, S. 150).
Dieser Entlastungsbeweis ist prinzipiell möglich, doch schwer zu führen. Die ständige Recht-sprechung hat im Bereich der Heilbehandlung diese Exculpationsmöglichkeit durch hohe Anforderungen sehr erschwert (vgl. Laufs § 97, RdNr. 12) und dadurch der Einstandspflicht für Hilfspersonen nach § 278 praktisch angenähert. In der neueren Rechtsprechung lässt sich kein Fall finden, der zugunsten z. B. eines Krankenhausträgers entschieden worden wäre (vgl. Pflüger, S. 60), und so tauchen in den Urteilsbegründungen obligatorisch Sätze auf, wie „Dieser Beweis ist von der Beklagten ( Krankenhaus) nicht geführt und kann ... von ihr auch nicht erbracht werden.“ (NJW 1991, S. 1541 – als ein Beispiel von vielen).
2.4.3 Deliktische Haftung des Arbeitnehmers
§ 823 BGB ist die alleinige Anspruchsgrundlage gegenüber Krankenpflegepersonal und Angehörige anderer Berufe im Gesundheitswesen direkt.
In der Praxis verklagen Patienten(anwälte) meist, wegen der schwierigen Vertragsbeziehungen und Unterstellungsverhältnisse im Krankenhaus, alle unmittelbar und mittelbar an der Behandlung Beteiligten gemeinsam (vgl. Ehlers, RdNr. 718). Dem Patienten steht es frei, Krankenschwester, Arzt und Träger gemeinsam als Gesamtschuldner (§ 421 BGB) zur Verantwortung zu ziehen (vgl. Pflüger, S. 78).
Nicht übersehen werden darf dabei der Vorteil auf Patientenseite, dass es hierdurch zu einer gemeinsamen Parteirolle der Beklagten kommt und diese dadurch nicht mehr als Zeugen (ev. zugunsten des Trägers) vernommen werden können.
Der § 840 BGB regelt die Möglichkeit, den Schadensersatz von jeder einzelnen Prozesspartei in voller Höhe zu verlangen. Allerdings ist der Geschädigte nur einmal berechtigt, diese Forderung zu erhalten (vgl. Großkopf/Klein, S. 189). Zum Ausgleichsanspruch der Beklagten zueinander im Innenverhältnis, siehe 2.6.
Eine alleinige unmittelbare Inanspruchnahme des Pflegepersonals durch Patienten ist jedoch selten (vgl. Brenner, S. 154) und die persönliche Verurteilung zu Schadensersatzleistungen von Pflegekräften erfolgt nur vereinzelt.. Ein seltenes Beispiel war das Urteil des OLG Köln (MedR. 1993, S. 235), wo Pflegepersonal zur Verantwortung gezogen wurde, dass einen psychiatrischen Patienten ohne vorherige schriftliche Anordnung im Bett fixierte, dabei nicht optisch überwachte und zudem den diensthabenden Arzt davon nicht unterrichtet hatte.
2.5 Schadensersatz und Schmerzensgeld
Die Grundregel des § 249 BGB besagt, dass ein Geschädigter (Patient) so zu stellen ist, als wäre der zu Ersatz verpflichtende Zustand nicht aufgetreten und gilt für Ansprüche sowohl aus Delikt, wie aus Vertrag (vgl. Großkopf/Klein, S. 185 ff.). Dabei kann grundsätzlich Naturalrestitution (Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands) oder Geldersatz gefordert werden. Der Sinn ist nicht eine Bestrafung, sondern die Eliminierung des entstandenen Schadens.
Ein Schaden ist jede Einbuße, die jemand an seinen Lebensgütern (z. B. Gesundheit, Ehre, Eigentum) erleidet. Man unterscheidet materielle Schäden (Vermögensschäden) und immaterielle Schäden.
Im Gesundheitsbereich sind mögliche Vermögensschäden (finanziell u. U. sehr weitreichend):
- Heilungs- u. Pflegekosten
- Rehabilitationskosten
- Verdienstausfall
- Rentenzahlungen (bei Erwerbs- u. Berufsunfähigkeit)
- Zahlungen für Hilfsmittel (z. B. Rollstuhl oder Umbaumaßnahmen d. Wohnung).
Immaterielle Schäden sind jede Einbuße an immateriellen Gütern (haupts. Körper, Gesundheit, Freiheit). Hier einen Ausgleich zu schaffen, ist die Funktion des Schmerzensgelds. Festgelegt wird dies durch den ebenfalls bei der Schuldrechtsreform neugeregelten § 253 BGB, der eine „billige Entschädigung in Geld“ vorsieht, bei Schäden, die nicht Vermögensschäden sind. Hier soll mit Geld ein Ersatz geleistet werden für körperliche Schmerzen, seelische Leiden und den Verlust physischer und psychischer Funktionen (vgl. Laufs § 103, RdNr. 1). Neben dieser Genugtuungsfunktion hat das Schmerzensgeld eine „Würdefunktion“ (vgl. Brenner, S. 170). Die Schmerzensgeldbemessung muss angemessen die Würde und Persönlichkeit des Menschen (Art. 1 u. 2 GG) berücksichtigen. In diesem Sinne hat beispielsweise der Bundesgerichtshof 1993 ein (auf den ersten Blick erstaunliches) Schmerzensgeld in Höhe von 25.000 DM für die fahrlässige Vernichtung von tiefgefrorenem Spendersperma in einer Klinik zugestanden, weil so der Betroffene eventuell in seiner Möglichkeit gehindert wurde, eigene Nachkommen zu haben (vgl. Giesen, RdNr. 56).
Der primäre Wunsch liegt für Patienten bei Heilbehandlungsfällen sicherlich in der Erlangung eines finanziellen Ausgleichs in Form des Schmerzensgelds. Vor der Schuldrechtsreform war ein Schmerzensgeld nur aus der deliktischen Haftung zu erhalten. Nun ist dieses auch aus der vertraglichen Haftung möglich. Für Patienten hat sich dadurch der Schmerzensgeldanspruch drastisch erweitert. Konnte sich früher der finanzkräftigste Prozessgegner des Patienten, der Träger der Einrichtung, gerade hier (wenn auch real nur sehr schwer) entlasten, so besteht ja vertraglich keinerlei Möglichkeit, der Einstandspflicht für Arbeitnehmer zu entgehen. Nunmehr erhält der Patient auf jeden Fall das gewünschte Schmerzensgeld auch aus vertraglicher Haftung, ohne dass sich der Träger dieser Forderung entziehen kann.
2.6 Arbeitsrechtliche Haftung – Der Rückgriff des Arbeitgebers beim Pflegepersonal
Zahlt z. B. ein Krankenhaus - od. Altenheimträger den gesamten Schadensersatz, so kann er unter bestimmten Umständen vom Pflegepersonal oder Arzt den Betrag zurückfordern (vgl. Großkopf/Klein, S. 190). Umgekehrt gilt dieser Regressanspruch auch, wenn das Pflegepersonal allein zur Verantwortung gezogen wurde.
Der Rückerstattungsanspruch des Arbeitgebers setzt voraus (vgl. Brenner, S. 162 ff.):
- die vorsätzliche Verletzung einer arbeitsrechtlichen Sorgfaltspflicht beim Arbeitnehmer,
- die grobe Fahrlässigkeit der Handlung des Angestellten,
- bei normaler Fahrlässigkeit (mittlerer Grad) erfolgt quotale Aufteilung unter Berück-sichtigung von Zumutbarkeit und Betriebsrisiko.
An die grobe Fahrlässigkeit (objektiv schwerer und subjektiv nicht entschuldbarer Verstoß) wird arbeitsgerichtlich ein so strenger Maßstab angelegt, dass die Rechtsprechung in den seltensten Fällen (Ausnahme: z. B. Alkoholkonsum im Dienst) ein Vorliegen dieser annimmt. Die Beweislast für grobe Fahrlässigkeit liegt außerdem uneingeschränkt beim Arbeitgeber.
Bei leichter Fahrlässigkeit ist der Arbeitnehmer von Regressforderungen freigestellt.
Festzuhalten ist, dass die zivilgerichtliche Feststellung eines groben Pflegefehlers noch nicht gleichzusetzen ist mit einer groben Fahrlässigkeit der Pflegekraft vor dem Arbeitsgericht (vgl. Pflüger, S. 80). Der grobe Fehler muss hier auch subjektiv unentschuldbar sein, insofern gilt ein strengerer Maßstab.
Werden umgekehrt Arzt oder Pflegekraft vom Patienten in Anspruch genommen, können sie auf Grundlage der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers (§§ 257, 670 BGB) Freistellung, bzw. Erstattung verlangen.
Analog zu den Landesbeamtengesetzen für beamtete Arbeitnehmer, beschränkt der § 14 des BAT den Rückgriff des öffentlich-rechtlichen Arbeitgebers ebenfalls auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit. In der Praxis sind die Rückgriffsregeln für privatrechtlich und öffentlich-rechtlich beschäftigte Arbeitnehmer gleich (vgl. Pflüger, S. 82).
Für die Krankenpflege spielt es letztlich keine Rolle, ob sie oder der Arbeitgeber vom Patienten unmittelbar haftungsrechtlich in Anspruch genommen wurde (s. Brenner, S. 165 f.). Dies bedeutet jedoch noch keine generelle Entlassung der Pflege aus der Haftungsverantwortung. Schließlich kann eventuell vom Arbeitgeber auf Pflegekräfte zurückgegriffen werden, ohne dass sie überhaupt vom Patienten beklagt waren.
3. Zivilprozessrecht
Die gesetzliche Grundlage für das Zivilprozessrecht in Deutschland ist die Zivilprozessordnung (ZPO) von 1877, zuletzt geändert am 14.12.2001 (vgl. Bretzinger u. a., S. 446). Für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten (alle Ansprüche aus dem bürgerlichen Recht) ist die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit gegeben. Die Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit, abgegrenzt durch eine Festlegung der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit, sind: Amtsgerichte, Landesgerichte, Oberlandesgerichte und der BGH (vgl. Bretzinger u. a., S. 447 f.).
Ein Staatsbürger hat das grundgesetzlich verbürgte Recht, dass staatliche Organe (insbesondere Gerichte) ihm Rechtsschutz gewähren (Justizgewährungsanspruch), (vgl. Musielak, RdNr. 11).
3.1 Abgrenzung materielles Recht und formelles Recht
Das materielle Recht klärt die Frage, ob und wieweit für einen Bürger ein Anspruch hergeleitet werden kann. Das BGB ist eine materielle Rechtsvorschrift (vgl. Bretzinger u. a., S. 43).
Das formelle Recht beinhaltet die verfahrensrechtlichen Regelungen. Die durch materielles Recht begründeten Ansprüche werden nach dem formellen Recht der ZPO durchgesetzt. Weiter zum formellen Recht gehören: Verwaltungsgerichtsordnung und Strafprozessordnung. Ob ein vom Kläger behauptetes Recht wirklich existiert, muss vom Richter in einem förmlichen Verfahren nach den Maßgaben der ZPO festgestellt werden (vgl. Musielak, RdNr.12).
Aufgabe der Zivilprozessordnung ist also, die dem Menschen von der Rechtsordnung ver-liehenen Rechte festzustellen und ggf. den Anspruch mittels Zwangsvollstreckung zwangsweise durchzusetzen (vgl. Leckl, S. 1).
Dazu dienen zwei verschiedene Verfahren:
Im Erkenntnisverfahren (ZPO §§ 1 – 703) wird das Bestehen eines behaupteten Rechts festgestellt, Ergebnis ist das Urteil.
Das Vollstreckungsverfahren (ZPO §§ 704 – 915) verwirklicht den festgestellten Anspruch.
Die Regelungen der ZPO sind entscheidend für den Ausgang eines Verfahrens, insbesondere die Bestimmungen zur Beweisführung. Dies gilt auch für Heilbehandlungsprozesse und Verfahren mit Beteiligung von Krankenpflegekräften. Bemerkenswert ist deshalb der Umstand, dass nur in wenigen Buchveröffentlichungen zum Thema Pflegerecht der ZPO ein Kapitel gewidmet wird, von Randnotizen einmal abgesehen (z. B. Brenner, Böhme, Höfert, Krause).
3.2 Maximen des Zivilprozesses
Ein Zivilprozess wird von einer Reihe prinzipieller Rechtsgrundsätze bestimmt, deren Verständnis von elementarer Bedeutung sind (vgl. Leckl, S. 3 – 8; Bretzinger u. a., S. 452 ff.; Thomas/Putzo, RdNr. 1 – 30):
3.2.1 Verhandlungsmaxime
Dieser Beibringungsgrundsatz besagt, dass grundsätzlich die beiden Parteien (Kläger und Beklagter) die Tatsachen vorzutragen haben, die die Grundlage der Entscheidung sind. Die Parteien bestimmen Gegenstand und Gang des Prozesses durch ihre Anträge selbst. Der Richter darf nur die vorgetragenen Tatsachen seiner Entscheidung zu Grunde legen (kein eigenes Wissen) und im Prinzip keine Beweise von Amts wegen erheben. Es wird im Gegensatz zum Strafgericht (Untersuchungsgrundsatz) nicht von Amts wegen ermittelt.
Dies gilt bei Heilbehandlungsfällen durch die Entwicklung der Rechtsprechung allerdings nur noch eingeschränkt: das Gericht kann bei bestimmten Umständen Beweisaufnahme anordnen, was in der Praxis zu einer dem Zivilprozess eigentlich fremden Amtsermittlung geführt hat (vgl. Gehrlein, S. 176).
Prinzipiell aber sind die Parteien die Herren des Verfahrens (Leitsatz: „Gebe mir die Fakten und ich werde dir das Recht geben“), der Richter jedoch ist in der Würdigung der Tatsachen frei und unabhängig („iura novit curia = die Rechtsfindung obliegt allein dem Gericht“).
3.2.2 Dispositionsmaxime
Aus dem Grundsatz der bürgerlichen Privatautonomie heraus erfolgt ein gerichtliches Verfahren nur auf Antrag (Klageerhebung). Das Gericht wird durch Anträge gebunden, die Parteien können durch Vergleich, Klagerücknahme oder Anerkenntnis des Anspruchs u. v. m. das Verfahren selbständig beenden. Der Richter darf nicht selbst einer Partei mehr zusprechen, als von ihr beantragt ist (z. B. einen höheren Schadensersatz zusprechen, allerdings ist ihm möglich, unter der Forderung zu bleiben).
Bei der gegensätzlichen Offizialmaxime (gilt in der StPO) unterliegt die Verfahrensgestaltung den staatlichen Behörden.
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