Dieses Essay untersucht die Bedeutung von Bildungskapital und dessen Einfluss auf individuelle Lebenschancen im Kontext der Meritokratie. Ausgehend von der Bildungsreform der 1970er Jahre und der Annahme einer allgemeinen Chancengleichheit wird der Leitgedanke der Meritokratie kritisch hinterfragt. Dabei wird diskutiert, inwiefern Bildungskapital, verstanden als Bildungszertifikate von Schulen, Hochschulen und Universitäten, zentrale Ressourcen für die Lebensqualität darstellt. Der deutsche Soziologe Rainer Geißler betont die zentrale Rolle von Bildungskapital in modernen Gesellschaften. Das Essay beleuchtet die damit verbundenen Fragen der Chancengleichheit und wie diese Lebenschancen beeinflussen.
Bildung ist ein zentraler Bestandteil jedes Lebens. Sie eröffnet oder verschließt uns Lebenschancen, sie bestimmt maßgeblich über unseren Lebensweg und entscheidet letztendlich über die individuelle Lebensqualität jedes Einzelnen. Nach der Bildungsreform in den 70er Jahren nahm man an, Bildung sei nun für jeden gleichermaßen zugänglich. Zu Beginn der Schulbildung sollte für alle Kinder in Deutschland eine Chancengleichheit geschaffen werden, egal welche Vorraussetzungen zu diesem Zeitpunkt gegeben waren. Dass dies nicht der Fall war, wird im vorliegendem Essay durch den Leitgedanken der Meritokratie und der Diskussion über Chancengleichheit in Bezug auf den Erwerb von Bildungskapital dargestellt.
Der deutsche Soziologe Rainer Geißler ist der Meinung, dass das Bildungskapital - oder genauer Bildungszertifikate von Schulen, Hochschulen und Universitäten - in modernen Gesellschaften eine zentrale Ressource für die individuellen Lebenschancen darstellt (Geißler 2006, S.34). Doch was kann man in diesem Kontext unter Bildungskapital verstehen? Wie lässt sich Bildungskapital in Lebenschancen ableiten? Und inwiefern spielt die Chancengleichheit aller Individuen dabei eine Rolle?
Bildungskapital steht für erworbene Bildung, die durch die familiäre Primärerziehung sowie die anschließende Sekundärerziehung in der Schule erworben wird. Der Terminus stammt ursprünglich aus der Wirtschaft. „Kapital“ bedeutet hier die akkumulierte Aneignung von materiellen Dingen individuell wie auch kollektiv (Bourdieu, 1983, S.183) In der Soziologie lassen sich soziale Austauschbeziehungen jedoch nicht rein materiell erklären. So sieht der französische Soziologe Pierre Bourdieu die Begrifflichkeit grundsätzlich problematisch, denn der wirtschaftliche Kapitalbegriff reduziert die Gesamtheit der gesellschaftlichen Austauschverhältnisse auf den bloßen Warenaustausch (Bourdieu, 1992, S. 50). Neben der Wirtschaftswelt sieht Bourdieu zusätzlich auch noch eine andere Welt, deren „Güter“ eine mindestens genau so hohe Relevanz in sozialen Beziehungen widerspiegelt, sich jedoch nicht quantifizieren lassen. Von zentraler Bedeutung, insbesondere hinsichtlich einer Analyse von Meritokratie und schulischer Chancenungleichheit, ist hier der Begriff des „kulturellen Kapitals“. Unter kulturellem Kapital versteht Bourdieu die Gesamtheit der individuell akkumulierten kulturellen Inhalte, welche in drei Formen existieren können: das Gelernte (inkorporiert), die schulischen Titel und Abschlüsse (institutionalisiert) sowie die materielle Form, beispielsweise als Buch, Kunstwerk oder auch Patent (objektiviert) (Erler, 2011, S.25). Bourdieu benutzt den Terminus Bildungskapital für die Teilform des inkorporierten Kulturkapitals.
Der Soziologe Helmut Schelsky hat bereits in den 50er Jahren die Bedeutung der Schulbildung für den zukünftigen Sozialstatus und die Lebenschancen eines Menschen hervorgehoben (Geißler, 2011, S.280). Er erkannte früh, dass die Entwicklung der Gesellschaft in Richtung zunehmender Bürokratisierung und Verwissenschaftlichung der Berufswelt geht. Dies hat dazu geführt, dass berufliche Werdegänge immer stärker an bestimmte Laufbahnvorschriften gebunden und der Einstieg in diese bestimmten Laufbahnen wiederum immer enger an bestimmte Schulabschlüsse gekoppelt wurde (Geißler, 2011, S.280). Diese Entwicklung hat somit den gesellschaftlichen Diskurs über Bildung in einen erheblichen Wandel gebracht, der neue Bildungszwänge erzeugt (Mayerhofer, 2014, S.171). Die veraltete Vorstellung von Ralf Dahrendorf „Bildung ist Bürgerrecht“ (Dahrendorf, 1965 zitiert in Mayerhofer, 2014, S.171) steht in der Debatte über Bildung eher nicht mehr im Vordergrund. Vielmehr zielt Bildung heute auf „Employability“, also Beschäftigungsfähigkeit ab (Mayerhofer, 2014, S.171). Bildung dient folglich als zentrale Ressource für die soziale Platzierung in der Gesellschaft (Geißler, 2011, S.281). Der zunehmende strukturelle Bedarf an Bildung erzeugte mit der Zeit so auch einer größeren Notwendigkeit von höherer Bildung. Demzufolge werden hohe Bildungsabschlüsse immer wichtiger für den Einstieg in viele Berufslaufbahnen, wo früher niedrige Schulabschlüsse genügten. Konsequenterweise ist der Einstieg oder auch Aufstieg in höhere berufliche Positionen nun immer häufiger an einen Hochschulabschluss gebunden (Geißler, 2006, S.34). Daraus lässt sich ableiten, dass die Chancen auf beruflichen Erfolg, hohen Lebensstandard, soziale Sicherheit und Gesundheit, sowie die Chancen auf Selbstbestimmung und Freiheit von guten Qualifikationsniveaus und somit vom individuellen Bildungskapital abhängt. Eine Wirkkette dient hier als kurze Illustration: Hohe Bildungszertifikate ermöglichen eine sozial hochgestellte berufliche Position, welche wiederum entsprechend hohes Einkommen verspricht. Daraus folgernd sichert ein hohes Einkommen einen hohen Lebensstandard. Nach Geißler lebt man durch einen hohen Lebensstandard man tendenziell gesünder (Geißler, 2006, S.35). Insgesamt schafft die Qualifikation nun auch auch die psychische Voraussetzunge für ein höheres Maß an individueller Lebensgestaltung.
Hier ist besonders der Gedanke einer Leistungsgesellschaft zentral, die aktuell in Deutschland in Form einer Meritokratie gestaltet ist. In der deutschen Gesellschaft wird Bildung mit Zeugnissen oder Abschlüssen gemessen, woraus wiederum eine Allokation durch Leistung erfolgt (Solga, 2008, S.63-64). Aber wie ist Meritokratie entstanden? Und inwiefern suggeriert die meritokratische Leitfigur Chancengleichheit in Bezug auf den Erwerb von Bildungskapital?
Die zunehmende Bedeutung oder gar „funktionale Notwendigkeit“ (Bell, 1994, zitiert nach Solga, 2008, S.64) von Bildung für nahezu alle Positionen in der modernen Gesellschaft erfordern eine Veränderung des bisherigen Zugangsmodus zu Bildung. Bildung darf nicht länger nur den höheren Gesellschaftsgruppen Vorbehalten sein, sondern vielmehr eine Bildung für alle, aber in gewissen Grenzen von Talent, Begabung und Intelligenz (Solga, 2008, S.65), ist erforderlich. Die Bildungsexpansion und somit der Ausbau der sekundären Bereiche und den Zugang zu diesen Institutionen ermöglicht immer mehr Menschen den Zugang zu besser qualifizierenden Bildungsabschlüssen bzw. höheren Bildungsgängen (Drewek, 2001, S.816). Im Zuge dessen darf der Allokationsmodus nun nicht mehr auf plurokratischen (Vermögen bestimmt Status) oder askriptiven Merkmalen (wie Klasse, Ethnie etc.) basieren, sondern soll durch eine meritokratische Selektion erfolgen (Solga, 2008, S.65). Meritokratie beschreibt das aus der Bildungsexpansion entstandene gesellschaftliche Ideal, das die Verteilung von Gütern und sozialen Positionen im Bildungs- und Beschäftigungssystem ausschließlich auf der Basis individueller Leistungen erfolgt. Leistungsfremde Kriterien wie Geschlecht, soziale Herkunft oder Nationalität sollen dabei nicht mehr ausschlaggebend sein (Walgenbach, 2014, S.16). Die Maxime moderner Gesellschaften lautet nach dem Soziologen Ludwig Mayerhofer demnach: „from ascription to achievement“ (Mayerhofer, 2014, S.167). Es bestätigt sich, dass eine gute Bildung ihren Wert als wichtige Ressource für gute Lebenschancen grundlegt. Aus diesem Grund haben sich nicht nur die höheren Bildungsabschlüsse vermehrt, sondern proportional auch die mittleren und höheren Berufspositionen mit entsprechenden Einkommen und Lebenschancen (Geißler, 2011, S.282). Die meritokratische Leitfigur suggeriert dementsprechend Chancengleichheit bei dem Erwerb von Bildungskapital, da jedes Individuum einen seiner Leistung entsprechenden, verdienten Rang in der Gesellschaft erreichen kann. Dies geschieht rein durch den eigenen Verdienst, unabhängig leistungsunabhängiger Kriterien, und dennoch die Chancen jeder anders nutzt. Es gilt die Formel: „gleiche Chancen nach Fähigkeit und Leistung“ (Geißler, 2011, S.274). Die Legitimität dieser bildungsbasierten Allokation ist eingebettet in die Tatsache, dass durch die Bildungsexpansion auch Kinder aus niedrigeren sozialen Schichten vermehrt höhere Bildungsabschlüsse erzielt haben (Solga, 2008, S.63). In der öffentlichen Wahrnehmung wurde die Bildungsexpansion damit als gelungene Durchsetzung von Chancengleichheit verstanden. Hat also tatsächlich jeder die selbe Chance auf den Erwerb von Bildungskapital? Der formale Gedanke der Meritokratie würde sich zunächst bestätigen, aber wie kann es begründet werden, dass Kinder aus sozial schwachen Familien im deutschen Bildungssystem nach wie vor benachteiligt erscheinen?
Nach Solga basiert Meritokratie im Bildungssystem auf dem Mythos eines fairen Bildungswettbewerbs. Dabei wird die Tatsache ignoriert, dass Bildungserfolge in Deutschland noch immer an soziale Herkunft gekoppelt sind (Solga, 2008, S.24). Ebenso sind Bourdieu und Passeros der Meinung, dass es sich hierbei in erster Linie um eine „Illusion der Chancengleichheit“ handelt (Erler, 2011, S.22). Die PISA-Studie untermauert die Vermutung der Soziologen und liefert im Jahr 2000 den Beweis dafür, dass es in Deutschland einen besonders engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und erreichten Lernständen der Schülerinnen und Schüler gibt (Walgenbach, 2014, S.22). PISA hat somit das Illusionäre des meritokra- tischen Leitgedankens mit Zahlen belegt und dabei vor allem auf zwei entscheidende Bereiche hingewiesen: Zum einen die ungleiche Entwicklung des Leistungspotentials und zum anderen die ungleiche Umsetzung von Leistungen in Bildungskapital (Geißler, 2008, S.40). Die Verinnerlichung von Bildungskapital kann zwar nur vom Individuum selbst ausgeführt werden und nicht durch andere erfolgen (Bourdieu, 1983, S.187), der meritokratische Gedanke vergisst dabei aber, dass das Leistungspotential durch die bereits genannte familiäre Primärerziehung unterstützt wird, was allerdings schichttypisch ungleich ausfällt und dadurch Leistungsunterschiede zur Folge hat (Geißler, 2006, S.40). Das kulturelle Kapital der Eltern wird in allen sozialen Schichten durch Erziehung auf das Kind übertragen. Höheres kulturelles aber vor allem ökonomisches Kapital in Familien höherer sozialer Schichten „fördert die Entwicklung von Fähigkeit und Motivationen, die einen erfolgreiche Bildungskarriere begünstigen“ (Geißler, 2006, S.41). Familien aus niedrigeren sozialen Schichten haben nicht die finanzielle Möglichkeiten ihre Kinder entsprechend zu fördern. Die Eltern sind meist selbst nicht im Besitz eines hohen kulturellen Kapitals, welches sie weitergeben könnten, können durch mangelndes ökonomisches Kapital zudem auch keine außerschulischen Förderungsmöglichkeiten wie z.B Nachhilfe in Anspruch nehmen. Der zweite Problembereich im deutschen Bildungssystem ist die Vorstellung, dass schichttypisch ungleichen Bildungswege rein auf ungleichen Leistungen beruhen (Geißler, 2006, S.41-42). Die meisten Lehrer sind zwar der Meinung, die Leistungen der Schüler „objektiv“ zu bewerten, jedoch zeigen Studien zur Notengebung und zu den Schulempfehlungen, dass sich in das Lehrerurteil ein leistungsunabhängiger sozialer Filter einschleicht, der sich zu Lasten der Kinder aus unteren Schichten auswirkt und die leistungsunabhängige soziale Auslese weiter verstärkt, ganz unabhängig von der individuell erbrachten Leistung (Geißler, 2011, S. 293). Damit trägt das Bildungssystem nicht nur zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung bei, sondern reproduziert auch ihre sozialen Hierarchien (Schneickert, 2013, S.1-2). Durch diese Feststellungen kann deutschen Lehrern keine gezielte Diskriminierung von Kinder sozial schwächerer Herkunft unterstellt werden. In vielen Fällen handelt es sich vielmehr um einen präventiven Schutz vor Misserfolgen bei vermuteten Defiziten bei den ökonomischen und psychologischen Ressourcen im Elternhaus (Geißler, 2006, S.44).
Das Prinzip der Meritokratie, sich durch eigene Leistung hocharbeiten zu können und so soziale Mobilität zu genießen, klingt erstmal plausibel (Mayerhofer, 2014, S.168), wird jedoch zusätzlich noch von einem weiteren Argument geschwächt. Der Rückgriff auf die oben genannten mehr oder weniger “natürlichen Ungleichheiten“ der Schüler reicht noch nicht ganz aus, um Bildung als universellen Allokationsmodus in modernen Gesellschaften anzuwenden. Demnach sind organisierte und zertifizierte Bildungsprozesse in einem institutionellem Rahmen notwendig zur Kontrolle der zu beurteilenden Lerninhalte. Das ist grundsätzlich erforde- lich, jedoch kann man den erworbenen Bildungszertifikaten Unvollständigkeit vorwerfen, da sie vor allem außerschulisch erworbene Kompetenzen wenig bis gar nicht berücksichtigen (Solga, 2008, S.68). Das Messen und Vergleichen von Leistung stellt einen Standart her, ist aber nicht unanfechtbar auf dem Hintergrund der suggerierten Herkunftsneutralität.
Ein weiterer Charakterzug der meritokratischen Leitfigur sozialer Ungleichheit sind die Qua- lifikationsungleicheiten und Belohnungsdifferenzen als ein gesellschaftliches Funktionserfordernis (Solga, 2008, S.68). Bildung hat nämlich nicht nur die Aufgabe soziale Integration zu fördern, sondern zugleich auch die wirtschaftliche Entwicklung und Stabilisierung der gesellschaftlichen Struktur. Individuelle und gesellschaftliche Ansprüche an Bildung sind jedoch schwer zu vereinen, wodurch die Ungleichheit bei Einkommen, Vermögen und die Chancenungleichheit bei Bildung notwendigen Bedingung zur Herstellung sozialer Ordnung auf dem Arbeitsmarkt darstellt (Kronauer, 2010, S.39-40). Eine Marktwirtschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass sich Aufgaben auf alle soziale Schichten verteilen. Die Meritokratie erscheint somit als sinnvolles Konzept, um verschiedene Positionen in der Gesellschaft bestmöglich zu besetzen - wenn Chancengleich tatsächlich umsetzbar wäre. Da Differenz ein konstituierender Bestandteil sozialer Ordnung ist, verbleibt es die Aufgabe der Gesellschaft Chancengleichheit herzustellen, wobei auch Ergebnisungleichheiten beibehalten werden. Hierbei können alle
Individuen, gleich welcher Voraussetzungen eine Rolle im Rahmen des Systems finden. Besonders höher gestellte Berufe tragen in einem proportional hohen Maße zum Gemeinwohl durch Steuern bei, damit alle von den funktionierenden Sozialversicherungssystemen (z.B Rente) profitieren können (Läufer/ Wolfgramm, 2009, S.5). Wieso die deutsche soziale Marktwirtschaft jedoch immer häufiger in Kritik gerät, würde hier den Rahmen des Essays sprengen, dennoch lässt sich die “Illusion der Chancengleichheit“ sehr weit oben nennen.
Als letztes Argument ist interessanterweise der Glaube und das Vertrauen in die Objektivität schulischer Institutionen gerade bei denen, die am stärksten benachteiligt werden, häufig am größten. Bourdieu und Passerons begründen dieses Phänomen durch den intensiven Glauben an die Meritokratie, der die Hoffnung auf einen Aufstieg durch individuelle Bildungsanstrengungen birgt. Besonders bei niedrigeren sozialen Schichten ist dieser Gedanke tief verankert. Soziale Privilegien werden von niedrigeren Schichten häufig auf Begabung und individuellen Verdienst zurückgeführt (Schneickert, 2013, S.2). Paradoxerweise führt die formale Gleichheit der Chancen zur Illusion, dass Individuen ihren Erfolg selbst in der Hand haben. Die praktizierte Auswahl nach Leistung trägt damit zugleich zum Erhalt und zur Stärkung des me- ritokratischen Glaubens bei und zwar unabhängig davon, inwieweit eine Entkopplung von sozialer Herkunft und Bildungserfolgt besteht (Solga, 2008, S.72). Nicht zuletzt stärkt der Fokus auf Leistungsergebnisse in Form von Zertifikaten auch noch den Glauben an die merito- kratische Ideologie.
Da sich durch die Argumentation des meritokratischen Leitgedankens in Bezug auf den Erwerb von Bildungskapital feststellen lässt, dass es sich um eine Illusion von Chancengleichheit handelt, bietet es sich an, auf die „Habitustheorie“ Bourdieus zurückzugreifen, welche die meritokratische Begabungsideologie in ein umfassendes Geflecht soziostruktureller Ursachen für die Reproduktion sozialer Ungleichheit einbaut. Die in der Argumentation genannten sozialisationsbedingten Leistungsunterschiede von Kindern undJugendlichen beschreibt Bourdieu als den Habitus eines Menschen. Der Habitus besteht aus allen internalisierten Erfahrungen, Haltungen und Handlungen, die durch Eltern oder auch durch soziale Umfelder inkorporiert werden (Schmitt, 2014, S.8). Alle Schülerinnen haben demzufolge einen eigenen Habitus, den sie in die Schule, in der eine gewisse Struktur in Form von Regeln und Leistungsanforderungen herrscht, einbringen müssen. Der Habitus wird in der Gesellschaft und vor allem in der Schule aber nicht neutral aufgefasst, sondern es geht fast immer eine gesellschaftliche Bewertung einher (Schmitt, 2014, S.8). Diese Bewertungen werden später Differenzkriterien zur Unterscheidung, wie beispielsweise in der subjektiven Bewertung von Lehrern, bei der ein leistungsunabhängiger sozialer Filter angelegt wird und SchülerInnen nach ihrer sozialen Schicht unterscheidet (Geißler, 2006, S.42). Danach lassen sich unterschiedliche objektive Lebensbedingungen verschiedener sozialer Klassen in einen unterschiedlichen Habitus übersetzen, welcher mit den Standards des Bildungssystems jeweils entweder mehr oder weniger kompatibel ist (Hillmert, 2009, S.92).
Um formale Chancengleichheit herzustellen, müssen sich alle Menschen an dem geltenden Bildungssystem mit vermeintlich gleichen Regeln unterordnen. Ungleich sind die realen Chancen aber deshalb, weil das System zwar vorgibt, auf Allgemein- und Ausbildung abzuzielen, in Wirklichkeit aber auf Fähigkeiten und Regeln bestimmter gesellschaftlicher Gruppen bereits vorab abgestimmt ist (Schneickert, 2013, S.1-2). Die Schule stellt in Bourdieus Theorie ein „Feld“ da. Als Felder definiert Schmitt soziale Räume, die ihre eigenen Spielregeln haben und innerhalb deren “unterschiedliche Sachen honoriert bzw. sanktioniert werden (Schmitt, 2014, S.9). In diesem System gibt es Akteure deren Habitus schon vorab besser mit dem Feld und seinen Regeln kompatibel ist und Akteure die unter Suggestion formaler Gleichbehandlung und Chancengleichheit aufgrund ihres Habitus nicht hinterherkommen. Kindern aus höheren sozialen Schichten ist das System leichter zugänglich und vertrauter, wodurch für Kinder aus niedrigeren sozialen Schichten ein Nachteil entsteht. Diese Diskrepanz zwischen dem Akteur und seinem Umfeld nennt sich Habitus-Struktur-Konflikt (Schmitt, 2014, S.10). Das zentrale Problem dabei ist, dass die Struktur des Bildungssystems einige Kenntnisse, wie beispielsweise das Beherrschen der deutschen Sprache oder die Kenntnis von deutschen Verhaltensnormen voraussetzt, dies aber vielen SchülerInnen aus ihrem Habitus nicht gegeben ist. Aus dieser Veranschaulichung des Systems lässt sich ableiten, dass die bestehende Bildungsordnung formal die Funktion hat Individuen nach Leistungskriterien zu bewerten und in eine Hierarchie zu setzen, tatsächlich aber nicht die wirkliche Leistung bewertet, sondern vielmehr die soziale Herkunft. Ungleichheit wird also, so lassen sich diese Befunde nach Bourdieus Theorie zusammenfassen, über diesen Weg fortgesetzt. So spiegelt die daraus folgende Zuteilung von Lebenschancen durch Bildungszertifikate nicht die eigentliche Leistungsfähigkeit der SchülerInnen wider (Mayerhofer, 2014, S.169).
Bourdieus Beitrag zur Debatte über den Ursprung der Chancenungleichheit der SchülerInnen ist ohne Zweifel als bedeutend zu bezeichnen. Durch die Darlegung der verschiedenen Kapitalarten zu Beginn und den Habitus-Struktur-Konflikt wird die Perspektive auf die Problemlage effektiv erweitert. Bourdieu zielt darauf ab, den Begabungsmythos der Meritokratie, mit dem allzu oft der wahre Ursprung der Ungleichheit verschleiert wird, zu entkräften. An diesem Punkt möchte ich jedoch noch eine Ergänzung hinzufügen: Meiner Ansicht nach sind Kinder bei Schuleintritt nicht ausschließlich das Produkt des Grades an kulturellem Kapital innerhalb ihres familiären Umfeldes. Bourdieu übersieht an dieser Stelle, dass Kinder sehr wohl unterschiedliche Begabungen aufweisen - unabhängig von ihrer sozialen Schicht.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Bildungswesen früher wie auch heute das für die breite Masse der Bevölkerung als Ort gilt, an dem Kindern entsprechend ihrer Begabung und Leistung Lebenschancen für ihren weiteren Lebensweg eröffnet bekommen. Vor allem die Soziologen Bourdieu, Solga, Geißler und Schneickert belegen sehr deutlich, dass es sich hierbei in erster Linie jedoch um eine „Illusion der Chancengleichheit“ handelt. Die Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Realität hängt mit dem meritokratischen Leitgedanken zusammen, welcher soziale Ungleichheit auf ,natürliche‘ Erklärungen individueller Leistungsunterschiede zurückführt und somit ungerechte Bildungschancen hervorruft. Dabei wird verschleiert, dass die Bildungsleistung in Institutionen erbracht wird, die so organisiert sind, dass ungleiche Herkunftsressourcen sozial relevant werden. Mit dieser Verschleierung der kontinuierlichen „Privilegierung der Privilegierten“ trägt das Bildungssystem in entscheidender Weise zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung bei, in dem es Hierarchien nicht nur herstellt, sondern auch in Institutionen produziert. Wenngleich in Folge der Bildungsexpansion traditionelle soziale Ungleichheiten aufgrund von Geschlecht, Religion, Region etc. stark abgebaut wurden, ist die wesentliche Ungleichheitsdimension sozialer Herkunft beim Bildungszugang stabil geblieben oder hat gar noch an Gewicht gewonnen. Der Begriff Meritokratie kann nicht gleichgesetzt werden mit Chancengleichheit, wie sie im deutschen Bildungssystem umgesetzt wird - es sind noch viele Faktoren in sozial- und bildungspolitischer Hinsicht zu bedenken.
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- Anonym (Autor:in), 2020, Meritokratie und Bildungskapital. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Illusion der Chancengleichheit, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/1509958