Diese Arbeit befasst sich mit den Fragen, welche Elemente des Geschichtsbildes Bismarcks seine politische Handlungsfähigkeit förderten, bzw. hinderten. Ob es dort überhaupt einen Widerspruch gibt, und wie bedeutend die Geschichte für Bismarcks politisches Handeln war.
Um diese Fragen beantworten zu können, wird das Politikkompetenzmodell von Detjen, Massing, Richter und Weißeno herangezogen und für die Zwecke dieser Arbeit erweitert. Anschließend wird mit dem erweiterten Modell das Geschichtsbild Bismarcks in Hinblick auf seine politische Handlungsfähigkeit analysiert.
Können diese Fragen hinreichend beantwortet werden, kann ansatzweise verstanden werden, wie es Bismarck gelingen konnte seine politischen Erfolge zu erzielen. Außerdem könnte die hier entworfene rudimentäre Methodik auf weitere Beispiele (nicht nur auf historische Persönlichkeiten) angewandt werden. Vorausgesetzt ist dafür eine strukturierte Weiterentwicklung des Modells und der Methode.
Steuern im Zeitenstrom?
„Der Mann, dem die Schaffung des Deutschen Reiches gelang, war zweifellos der bedeutendste deutsche Staatsmann des 19. Jahrhunderts - und er ist zugleich höchst umstritten. Nicht nur bei den Zeitgenossen gingen die Meinungen über ihn weit auseinander, auch in der historischen Erinnerung bleibt sein Bild durch scharf kontrastierende Bewertungen gekennzeichnet...“ 1
So bewertet Kolb in einer retrospektiven Betrachtung Otto von Bismarck in seiner Biographie zu dem preußischen Politiker des 19. Jahrhunderts. Egal ob die Rezeption Bismarcks im Auge des historisch kundigen Betrachters nun positiv (wie bei Kolb) oder eher negativ ausfällt, so sind seine politischen Erfolge kaum von der Hand zu weisen.
So gelang es Bismarck, wie von Kolb schon angesprochen, mit diversen innen- und außenpolitischen Mitteln das Deutsche Reich zu schaffen. Bei oberflächlicher Betrachtung des Geschichtsbildes bzw. des Zeitkonzeptes Bismarcks erscheint es zunächst verwunderlich, dass Bismarck eine solche herausragende politische Handlungsfähigkeit besaß und solche Erfolge erzielen konnte. Denn augenscheinlich widerspricht das Geschichtsbild Bismarcks in einigen Punkten dem „zukunftsgewandten“ und zielführenden politischen Handeln des Politikers.
Daher stellt sich an dieser Stelle die Frage, welche Elemente des Geschichtsbildes Bismarcks seine politische Handlungsfähigkeit förderten, bzw. hinderten. Ob es dort überhaupt einen Widerspruch gibt, und wie bedeutend die Geschichte für Bismarcks politisches Handeln war.
Um diese Fragen beantworten zu können, wird das Politikkompetenzmodell von Detjen, Massing, Richter und Weißeno herangezogen und für die Zwecke dieser Arbeit erweitert. Anschließend wird mit dem erweiterten Modell das Geschichtsbild Bismarcks in Hinblick auf seine politische Handlungsfähigkeit analysiert.
Können diese Fragen hinreichend beantwortet werden, kann ansatzweise verstanden werden, wie es Bismarck gelingen konnte seine politischen Erfolge zu erzielen. Außerdem könnte die hier entworfene rudimentäre Methodik auf weitere Beispiele (nicht nur auf historische Persönlichkeiten) angewandt werden. Vorausgesetzt ist dafür eine strukturierte Weiterentwicklung des Modells und der Methode.
Das Politikkompetenzmodell
Detjen et al. strukturieren ihr Kompetenzmodell in vier Kompetenzdimensionen. Diese vier Dimensionen oder auch Teilkompetenzen sind Fachwissen, politische Urteilsfähigkeit, politische Handlungsfähigkeit und politische Einstellung und Motivation. Diese sind wechselseitig aufeinander bezogen und jeweils weiter ausdifferenziert. Das Fachwissen unterteilt sich in Fachkonzepte, während die anderen drei Kompetenzdimensionen sich jeweils weiter in Kompetenzfacetten aufschlüsseln.2 Ebenfalls entwickeln die Autoren verschiedene Niveaustufen. Diese sind für die Zwecke dieser Arbeit allerdings nicht weiter relevant.
Die Kompetenzdimension Fachwissen wird unterteilt in die drei Basiskonzepte Ordnung, Entscheidung und Gemeinwohl. Die jeweiligen Fachkonzepte lassen sich nun den entsprechenden Basiskonzepten zuordnen.3 Zum Beispiel lässt sich das Fachkonzept Demokratie dem Basiskonzept Ordnung zuordnen. Dabei ist zu beachten, dass die Zuordnungen nicht immer ganz trennscharf sind und die Basiskonzepte ebenfalls miteinander vernetzt sind.
Die politische Handlungsfähigkeit wird von den Autoren als Einsatz von kognitionspsychologischen Verarbeitungsmustern verstanden, um Ziele zu erreichen oder sich von unerreichbaren Zielen abzuwenden. Dabei findet politisches Handeln entweder in Kommunikation oder Partizipation statt. Als Kompetenzfacetten stellen die Autoren das Artikulieren, Argumentieren, Verhandeln und Entscheiden heraus.4 Für die Zwecke dieser Arbeit wird vorgeschlagen die Facetten auch auf das politische Planen und Einschätzen (zum Beispiel politische Gegner oder Situationen) zu erweitern, da auch diese, Kompetenzfacetten des realpolitischen Alltagsgeschäftes darstellen.
Obwohl das Modell für den schulischen Gebrauch entwickelt wurde, lässt es sich dennoch auch außerhalb eines schulischen Kontextes anwenden. Auch eine Anwendung auf historische Personen oder Gruppen erscheint möglich, vorausgesetzt es finden sich genügend Daten bzw. Quellen, die in eine Analyse eingebracht werden können. Mit zu wenigen Daten bleibt das analysierte Bild unscharf und unvollständig.
Das Historische im Kompetenzmodell
Offensichtlich müssen Politiker keine promovierten Historiker sein, um zum Beispiel Argumentationen auf historische Konstruktionen aufzubauen. Daher stellt sich an dieser Stelle die Frage, wie das Historische in das oben dargestellte Politikkompetenzmodell eingearbeitet werden kann.
Für diesen kleinen Kunstgriff wird das FUER-Kompetenzmodell herangezogen. Dessen Historische Sachkompetenz wird in die Kompetenzdimension Fachwissen eingegliedert und wirkt somit latent und quasi transzendent auf alle Basiskompetenzen der Dimension Fachwissen ein. Zum Beispiel wird das Fachkonzept über vergangene Staatsformen in Deutschland, wie die absolutistische Monarchie oder die autoritäre Diktatur , der Basiskompetenz Ordnung untergeordnet und beeinflusst auch die Basiskompetenz Entscheidung beziehungsweise dessen Fachkonzept Opposition.
Wie oben schon beschrieben wirkt dieses erweiterte Fachwissen nun auf die politische Handlungsfähigkeit, indem nun auch Historisches Sachwissen in die Argumentation, das Verhandeln, die Entscheidung oder die Planung einfließen und dieses beeinflussen können. Anders ausgedrückt das Geschichtsbild eines Politikers kann dessen politisches Handeln beeinflussen.
Auch die Historische Frage-, Methoden und Orientierungskompetenz des FUER- Modells sind für die Politikkompetenz interessant, allerdings nur peripher, da sie nicht auf einer hohen Niveaustufe vorhanden sein müssen. Daher finden sie hier keine weitere Anwendung.
Bismarcks Politik und Geschichtsbild
Christopher Clark analysiert in seiner Monographie „Von Zeit und Macht“ unter anderem das Geschichtsbild Bismarcks im Zusammenhang mit seiner Machtausübung. Dabei geht er am Anfang des Kapitels auf eine Metapher ein, die Bismarck bis zu seinem Lebensende häufig verwendet haben soll. In dieser spricht Bismarck vom Strom der Zeit, den der Mensch nicht lenken könne.5
Diese Metapher zu verwenden erscheint für einen Politiker, der in die Geschichtsbücher als der bedeutendste Politiker und Staatsmann des 19. Jahrhunderts eingegangen ist, zunächst als verwirrend und diametral entgegengesetzt der Auffassung, Politiker seien diejenigen, die Entscheidungen für die Gesellschaft und die Zukunft treffen. Also in eine „bessere“ Zukunft steuern. Bei dieser Metapher entsteht zunächst der Eindruck, dass die Zukunft vorherbestimmt sei und der Mensch absolut nichts tun kann, um das Ziel zu ändern oder umzukehren. Dies, nebenbei bemerkt, wäre eine eher vormoderne Sichtweise der Geschichte. Wäre Bismarck lediglich zu diesen Erkenntnissen gekommen, würde dies für ihn eine politische Handlungsohnmacht bedeuten. Denn, wie schon festgestellt wurde, bedarf es für erfolgreiches politisches Handeln (zum Beispiel Reden halten) ein Ziel, das anzustreben ist.
Allerdings endet Bismarcks Metapher nicht an dieser Stelle. Der Mensch könne auf diesem Strom fahren und steuern, kann Schiffbruch erleiden oder auch zu guten Zielen kommen.[6] Es zeigt sich also schon hier, dass der Mensch nach Bismarcks Gedankengang einen gewissen Einfluss hat. Zwar kann er die lineare Flussrichtung des Zeitenstroms nicht lenken, aber er kann metaphorisch gesprochen mit seinem Boot auf dem Strom fahren und somit auch bestimmte Ziele ansteuern. Durch diese erweiterte Vorstellung erhält Bismarck die grundlegende Basis für eine politische Handlungsfähigkeit zurück. Außerdem ist anzumerken, dass für Bismarck das Boot, das er steuerte der monarchische Staat ist und dieser somit geschichtstragend.
Die Linearität im Bismarck'schen Geschichtsbild wir auch durch seinen Umgang mit den Veränderungen durch die Revolution von 1848 sichtbar. Zwar war Bismarck als konservativer Monarchist gegen die Errungenschaften der Revolution, dennoch erkannte Bismarck, dass es ihm nicht gelingen würde die Revolution an sich rückgängig zu machen. Für ihn war die Revolution ein Fakt, mit dem man leben musste und den man in seinen politischen Handlungen immer mit beachten musste.[7]
Die nautische Metapher ist allerdings nicht die einzige, die bei der Analyse zu beachten ist. Als eine Metapher für das „politische Spiel“ nahmen Bismarck und seine Zeitgenossen gern das Schachspiel in Anspruch. Clark leitet aus dieser Metapher für Bismarcks Geschichtsbild, richtigerweise, ebenfalls eine Linearität und Steuerbarkeit ab. Allerdings erkennt er auch, dass die Politik aus Momenten der Entscheidungen bestehen, die wie beim Schach den Verlauf der Geschichte/des Spiels beeinflussen können, je nachdem welche Entscheidungen getroffen wurden.[8] Diese Sichtweise auf Politik und somit auch auf Geschichte als Geschichte von Staaten, macht es für das politische Handeln Bismarcks unabdingbar das jeweilige Moment in all seinen möglichen Facetten zu betrachten und zu analysieren und erst dann eine Entscheidung zu treffen. Die Zukunft ist trotz der Fließrichtung der Zeit offen und kann durch Entscheidungen in bestimmten Momenten beeinflusst werden. Um vielleicht die nautische Metapher erneut zu bemühen und zu erweitern: So tun sich vor dem steuernden Bismarck immer wieder Gelegenheiten auf verschieden Abzweigungen des ursprünglichen Stromes zu nehmen. Bismarck müsse sich lediglich für den Kurswechsel entscheiden.
Diese politische Praxis Bismarcks, jeden Moment für sich genommen zu betrachten und die Best mögliche Entscheidung zu treffen sind der Grund für seine überragende politische Handlungsfähigkeit. Hier liegt auch der Grund für die wechselhafte Natur der Politik Bismarcks. So erklärte Bismarck 1881 vor dem Reichstag: „Es gibt Zeiten, in denen man liberal regieren muss, und Zeiten, in denen man diktatorisch regieren muss...“. Auch hier ist wieder ein Aspekt für den politischen Erfolg Bismarcks anzusiedeln.
Clark geht in seiner Monographie noch auf einem Punkt ein, den Helmuth Wolff schon einmal thematisiert hat. Dieser unterscheidet zwischen der „genetischen“ und der „vergleichende“ Dimension des Bismarck'schen historischen Denkens. Die „genetische“ Dimension beinhaltet das Wissen darüber, wie zum Beispiel Nationen zu dem wurden, was sie jetzt sind. Dies lässt sich sehr gut in der Kompetenz Fachwissen aus dem oben erwähnten Politikkompetenzmodell verorten. Also auch bei Bismarck beeinflusst das politisch historische Fachwissen die politische Handlungsfähigkeit. Die „vergleichende“ Dimension hingegen beinhaltet, wie in den Momenten der Entscheidung schon ausgeführt, das Abwägen von Optionen und Möglichkeiten zur Entscheidung.[9]
Schluss
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass es nur scheinbar einen Widerspruch zwischen dem Geschichts- und Zeitkonzept Bismarcks und seiner politischen Handlungsfähigkeit gibt. Im Gegenteil, es ließ sich feststellen, dass diese Bismarcks politische Handlungsfähigkeit, wie sie nach dem vorgestellten Politikkompetenzmodell verstanden wird, noch unterstützten und gar erst zu einem erfolgreichen Politiker machten. Somit lässt sich ebenfalls sagen, dass Geschichte und das Geschichtsbild Bismarcks für sein politisches Handeln von großer Bedeutung waren.
Literatur
Clark, Christopher (2019): Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten. Bonn.
Detjen, Joachim; Massing, Peter; Richter, Dagmar; Weißeno, Georg (2012): Politikkompetenz- ein Modell. Wiesbaden.
Kolb, Eberhard (2014): Otto von Bismarck. Eine Biographie. München.
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1 Kolb, Eberhard (2014): Otto von Bismarck. Eine Biographie. München. S. 175.
2 Detjen, Joachim; Massing, Peter; Richter, Dagmar; Weißeno, Georg (2012): Politikkompetenz- ein Modell. Wiesbaden. S. 12f.
3 Vgl. Ebd. S. 30f.
4 Vgl. Ebd. S. 65f.
5 Clark, Christopher (2019): Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten. Bonn. S. 133.
- Arbeit zitieren
- Florian Baumann (Autor:in), 2024, Steuern im Zeitenstrom? Der Versuch einer Kurzanalyse der politischen Handlungsfähigkeit Bismarcks im Zusammenhang mit seinem Geschichtsbild/ Zeitkonzept, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/1473188