Die Hausarbeit bietet einen Vergleich der beiden Fassungen des Vaterunsers im Neuen Testament sowie eine komplette synchrone und diachrone Analyse der beiden Texte. Zudem werden die beiden Fassungen dieses grundlegenden christlichen Gebets in ihren jüdischen Kontext historisch eingeordnet und theologisch reflektiert. Das Vaterunser ist als ein Grundgebet gleichsam monotheistisch neutral und anschlussfähig.
Für mich ist das Vaterunser seit meiner frühen Kindheit ein ganz vertrautes Gebet, das ich im Gottesdienst und in meiner privaten Gebetspraxis hunderte Male gesprochen habe und das mein Leben begleitet. Es ist für mich als „Gebrauchstext“ zugleich aber auch so selbstverständlich geworden, dass ich kaum noch über seinen Gehalt nachgedacht und es mir selten in seiner Eigenart und Wirkung bewusst gemacht habe. Schon früher ist mir eher ahnungsweise aufgefallen, nachdem ich mich intensiver mit der jüdischen Text- und Schrifttradition beschäftigt habe, dass dieses zentrale Gebet des christlichen Glaubens Formulierungen enthält, die in der jüdisch-biblischen Überlieferung stehen, und dass das Vaterunser gleichsam monotheistisch neutral ist – es fehlt in ihm jedenfalls eine trinitarische Formel und ein zumindest direkter Verweis auf Jesus.
Häufig gestellte Fragen zum Vaterunser: Eine Textanalyse
Was ist der Gegenstand dieser Textanalyse?
Diese Arbeit analysiert das Vaterunser, ein zentrales Gebet im christlichen Glauben, auf strukturierte und professionelle Weise. Sie untersucht die Textgestalt, den Kontext, die Vorgeschichte und die theologische Bedeutung des Gebets, indem sie verschiedene Übersetzungen vergleicht und die Verbindungen zum jüdischen Gebet tradiert. Die Analyse umfasst einen synoptischen Vergleich der Matthäus- und Lukasversion, die Anwendung der Zwei-Quellen-Theorie und eine Betrachtung der historischen Zusammenhänge.
Welche Fassungen des Vaterunsers werden verglichen?
Die Analyse vergleicht hauptsächlich die längere Fassung des Vaterunsers im Matthäusevangelium mit der kürzeren Fassung im Lukasevangelium. Zusätzlich werden vier gängige deutsche Übersetzungen (Lutherbibel, Elberfelder Bibel, Einheitsübersetzung und Zürcher Bibel) sowie eine Interlinearübersetzung des griechischen Urtextes herangezogen. Die Arbeit erwähnt auch die Version in der Didache.
Wie ist das Vaterunser strukturiert?
Das Vaterunser weist in beiden Versionen eine ähnliche Struktur auf. Die Matthäus-Version ist symmetrischer aufgebaut mit drei "Du-Bitten" (theozentrisch, auf Gott bezogen) und drei "Wir-Bitten" (anthropozentrisch, auf die Bedürfnisse der Menschen bezogen). Die Lukas-Version enthält fünf Bitten, wobei die gleiche Grundstruktur erkennbar ist. Die Anrufung Gottes ("Vater") kann als ein zusätzlicher, vorangestellter Teil betrachtet werden.
Welche sprachlichen Besonderheiten werden in der Analyse hervorgehoben?
Die Analyse untersucht den strophischen Charakter des Gebets, den Rhythmus, die grammatikalische Struktur der Bitten (Passivum divinum, Tempusformen), die Verwendung des aramäischen Wortes "abba" und die semantische Bedeutung wichtiger Wörter und Wendungen, insbesondere der Gottesanrede "Vater" und der Bitte "Dein Reich komme".
Welche semantische Bedeutung hat die Gottesanrede "Vater"?
Die Anrede "Vater" (aramäisch "abba") betont die intime und liebevolle Beziehung zwischen Gott und seinen Kindern. Sie deutet auf ein Grundvertrauen hin und verweist auf die familiäre und persönliche Beziehung zu Gott, wie sie auch an anderen Stellen im Neuen Testament zum Ausdruck kommt.
Welche Bedeutung hat die Bitte "Dein Reich komme"?
Die Bitte "Dein Reich komme" bezieht sich auf das Reich Gottes, ein zentrales Thema in Jesu Verkündigung. Sie steht in Verbindung mit der jüdischen messianischen Hoffnung und der Erwartung der endgültigen Durchsetzung von Gottes Herrschaft über die ganze Welt, wobei diese als ein sowohl jenseitiges als auch diesseitiges Geschehen verstanden wird.
Wie wird die Bitte "und führe uns nicht in Versuchung" interpretiert?
Die Analyse betont, dass Gott in dieser Bitte nicht als derjenige dargestellt wird, der selbst zum Bösen verführt. Vielmehr wird Gottes Handeln im Sinne eines Zulassens von Versuchungen interpretiert, die die Freiheit des Menschen zur Entscheidung zwischen Gut und Böse ermöglichen. Gott wird als der Handelnde verstanden, der die Versuchung nicht direkt verursacht, sondern zulässt, um die Möglichkeit der Entscheidung zu ermöglichen.
Was ist die Wirkabsicht des Vaterunsers?
Das Vaterunser wird als Bittgebet und Jüngergebet verstanden, das von Jesus seinen Jüngern als Leitgebet mitgegeben wurde. Es sollte sie im gemeinsamen Gebet unterstützen und sie im Handeln gemäß dem Willen Gottes stärken. Die klare Struktur und die knappen Formulierungen sind auf die vorösterliche Situation und das Bedürfnis nach einem gemeinsamen Gebetsformular zurückzuführen.
Welche Ergebnisse liefert der synoptische Vergleich?
Der synoptische Vergleich der Matthäus- und Lukasversion zeigt sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede. Die Matthäusversion ist länger und detaillierter, während die Lukasversion kürzer und knapper ist. Die unterschiedlichen Einbettungen in den jeweiligen Evangelienkontext werden ebenfalls betrachtet. Unterschiede in Wortwahl und Formulierung der einzelnen Bitten werden ebenfalls detailliert analysiert.
Welche Rolle spielt die Zwei-Quellen-Theorie in dieser Analyse?
Die Zwei-Quellen-Theorie wird angewendet, um die Abhängigkeit der Matthäus- und Lukasversionen von einer hypothetischen Logienquelle (Quelle Q) zu erklären. Die kürzere Lukas-Version wird als älter, die Wortwahl der Matthäus-Version als ursprünglicher angesehen. Die Arbeit betont jedoch auch den Variantenreichtum jüdischer Gebete und die Möglichkeit von Variationen und Ausbauten.
Wie wird die Frage nach der Urheberschaft des Vaterunsers beantwortet?
Die Analyse geht davon aus, dass das Vaterunser von Jesus stammt und eine mündliche Überlieferung widerspiegelt, die direkt auf ihn zurückgeht. Jesus wird sowohl als Lehrer des Gebets als auch als dessen Gebeter dargestellt. Die Analyse unterstreicht die vielfältigen Verbindungen des Vaterunsers zur jüdischen Gebetstradition.
Welche historischen Zusammenhänge werden beleuchtet?
Die Analyse untersucht die Verbindungen des Vaterunsers zur jüdischen Gebetstradition, insbesondere zum Amida-Gebet und zum Kaddisch. Es wird betont, dass das Vaterunser nicht als ein unjüdisches Gebet zu verstehen ist, sondern im Kontext des lebendigen jüdischen Betens seiner Zeit entstand. Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu jüdischen Gebeten werden herausgearbeitet.
Welche theologische Auswertung wird vorgenommen?
Die theologische Auswertung betont die Kürze und Prägnanz des Gebets im Gegensatz zum "Plappern" heidnischer Gebete. Die Theozentrik des Gebets und die Abfolge der Bitten werden im Zusammenhang mit der Heiligung des Namens Gottes, dem Reich Gottes und der eschatologischen Hoffnung gedeutet. Die Arbeit verknüpft das Gebet mit der Lehre Jesu und der Struktur der Zehn Gebote.
Welche Überlegungen zur Auslegung für Predigt oder Bibelarbeit werden angestellt?
Die Arbeit schließt mit Überlegungen zur Auslegung des Vaterunsers im Kontext einer Predigt. Sie stellt die Frage nach der Relevanz des Gebets für die heutige Zeit und betont die Notwendigkeit der Umkehr und der Hinwendung zu Gottes Willen. Die Botschaft des Vaterunsers wird als ein Aufruf zur Verantwortung für die Bewahrung der Schöpfung und zur Überwindung von Ungerechtigkeit und Krieg dargestellt.
Inhaltsverzeichnis
I. Vorbereitende Schritte
1.1. Besinnung auf das Vorverständnis
1.2. Abgrenzung der Perikope und Bestimmung des Kontextes
II. Untersuchung der Textgestalt - synchrone Textanalyse
2.1. Gliederung der Perikope
2.2. Sprachliche Gestalt der Perikope (Textgrammatik)
2.3. Bedeutung der Wörter und Wendungen (Textsemantik)
2.4. WirkabsichtderPerikope(Textpragmatik)
III. Untersuchung der Vorgeschichte der Perikope - diachrone Textanalyse
3.1. l. Synoptischer Vergleich
3.2. 2. AnwendungderZwei-Quellen-Theorie
3.3. 3. RückfragenachJesus
3.4. 4. HistorischeZusammenhänge
IV. ZusammenfassungderErgebnisse
IV. 1. Theologische Auswertung
VI. 2. Überlegungen zur Auslegung im Rahmen einer Predigt oder Bibelarbeit
Literaturverzeichnis
I. Vorbereitende Schritte
1.1. Besinnung auf das Vorverständnis
Für mich ist das Vaterunser1 seit meiner frühen Kindheit ein ganz vertrautes Gebet, das ich im Gottesdienst und in meiner privaten Gebetspraxis hunderte Male gesprochen habe und das mein Leben begleitet. Es ist für mich als „Gebrauchstext“ zugleich aber auch so selbstverständlich geworden, dass ich kaum noch über seinen Gehalt nachgedacht und es mir selten in seiner Eigenart und Wirkung bewusst gemacht habe. Schon früher ist mir eher ahnungsweise aufgefallen, nachdem ich mich intensiver mit der jüdischen Text- und Schrifttradition beschäftigt habe,2 dass dieses zentrale Gebet des christlichen Glaubens Formulierungen enthält, die in der jüdisch-biblischen Überlieferung stehen, und dass das Vaterunser gleichsam monotheistisch neutral ist - es fehlt in ihm jedenfalls eine trinitarische Formel und ein zumindest direkter Verweis auf Jesus. Ich stelle mir vor, dass sowohl Jüdinnen und Juden, aber auch Muslima und Muslime die Zeilen unseres Grundgebets ökumenisch mitsprechen können, ohne damit in Konflikt mit ihrem eigenen Glauben geraten zu müssen.3 Über meine eher oberflächlichen Kenntnisse hinaus habe ich mich für diese Arbeit nun gefragt, wie das Vaterunser genauer mit der jüdisch-biblischen Gebetstradition verbunden ist. Interessiert hat mich schließlich auch die Frage, warum die katholische Kirche Frankreichs 2017 die Zeile „und führe uns nicht in Versuchung“ in die neue Fassung „und lass uns nicht in Versuchung geraten“ umformuliert hat, und wie die damit zusammenhängende Kritik von Papst Franziskus zu bewerten ist, auch die seit Luther üblichen deutschen Übersetzungen dieser Zeile seien nicht passend, da nur der Satan, keinesfalls aber der göttliche Vater zur Sünde verführen könne. Eher intuitiv schien mir, dass solche Umformulierungen und die damit zusammenhängenden theologischen Positionen nicht sach- und schriftgemäß und selbst Ausdruck einer „Versuchung“ sind, nämlich gewissermaßen der dualistischen Versuchung, Gott eine andere, „böse“ Macht entgegenzusetzen und in seiner Handlungsmacht zu begrenzen.
Damit stellt sich die Frage, in welchen Übersetzungen das Vaterunser vorliegt und nach der Angemessenheit der einzelnen Übertragungen - eine Überprüfung kann hier aus Platzgründen nur kursorisch bzw. exemplarisch erfolgen. Grundsätzlich muss angemerkt werden, dass der Urtext des Vaterunsers aller Wahrscheinlichkeit nach in Aramäisch gesprochen wurde und dass die griechische
Übersetzung dieses Originals die Fassung des Neuen Testaments ist.4 Da ich nur über sehr geringe Kenntnisse des Altgriechischen verfüge, habe ich, um dem originalen Wortlaut möglichst nahe zu kommen, zuerst eine Interlinearübersetzung befragt und mich dabei auf die ausführlichere Fassung des Vaterunsers im Matthäusevangelium konzentriert. Ich werde zwei Verse daraus mit vier gängigen Übersetzungen ins Deutsche vergleichen:
- In der Interlinearübersetzung lautet Vers 11: „Unser Brot für den heutigen Tag gib uns heute!“ Dieser Fassung kommen die Luther-Bibel und die Elberfelder Bibel mit leichten Umformulierungen am nächsten, während die Einheitsübersetzung und die Zürcher Bibel anders übersetzen und das „brauchen“ bzw. „nötig haben“ betonen.
- Vers 12 heißt in der Interlinearübersetzung: „Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldigem!“. Die Lutherbibel übernimmt diesen Vers wörtlich, und die Einheitsübersetzung ersetzt das Verb „vergeben“ durch „erlassen“. Die Elberfelder Bibel folgt im Wortlaut der Interlinearübersetzung, variiert aber die Tempusform des zweiten Verbs: „und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir unseren Schuldnern vergeben haben“. Die Zürcher Bibel formuliert den zweiten Teil der Bitte auffällig anders, als die anderen Bibeln: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben haben jenen, die an uns schuldig geworden sind.“
Aufgrund ihrer durchgehenden Worttreue und ihrer weiten Verbreitung im deutschsprachigen Raum (aber auch wegen meiner Vertrautheit mit dieser Übersetzung) werde ich im Folgenden durchgehend aus der Elberfelder Bibel zitieren. Angefügt werden soll noch, dass die Abschlussdoxologie, die in den Gottesdiensten der protestantischen Kirchen am Ende des Vaterunsers gesprochen wird, nur in der Luther-Bibel zu finden ist (bei den anderen Übersetzungen wird darauflediglich in Fußnoten verwiesen) und eine spätere Hinzufügung darstellt (s.u.).
1.2. Abgrenzung der Perikope und Bestimmung des Kontextes
Das Vaterunser ist bei Matthäus in die Bergpredigt (Mt 5,1-7,29) eingearbeitet.5 Im sechsten Kapitel, in dem das Gebet zu finden ist, geht es um die wichtigsten jüdischen Tugenden: das Beten, das Fasten und das Almosengeben. Ab Mt 6,5 wird das Beten eingeleitet, und mit den dem Vaterunser vorausgehenden Versen 7 und 8 findet eine strikte Abgrenzung von den Heiden und ihrer für falsch angesehenen Betpraxis statt. Die darauf folgende Perikope ist durch die Aufforderung „Betet ihr nun so“ erkennbar abgesetzt und zeigt den unmittelbar darauf folgenden Beginn des Gebets an. Auch das Ende der Perikope ist klar abgegrenzt: Die Bitten schließen, und es folgt mit Vers 14 eine Erläuterung, wofür das Vergeben notwendig sei. Nach dem Vaterunser und diesen erläuternden Nachbemerkungen wird dann vom Fasten gesprochen. Das Bittgebet steht somit in der Mitte zwischen dem rechten Almosengeben und dem Fasten sowie überhaupt im Zentrum der Bergpredigt, in der Jesus den in der Tora geoffenbarten Willen Gottes für das Volk neu auslegt.
Im Lukasevangelium beginnt die deutlich kürzere Perikope mit der Angabe, dass Jesus an einem (nicht näher bestimmten) „Ort“ sei und bete, und es ist dann Jesus selbst, der nach der Bitte einer seiner Jünger, er solle sie wie Johannes seine Jünger zu beten lehren, sagt: „Wenn ihr betet, so sprecht:“ (Lk 11,2). Auch bei Lukas ist das Ende des Gebets klar markiert, denn mit Zeile 5 beginnt eine erläuternde und ermahnende Rede Jesu. Auch für Lukas lässt sich sagen, dass das Vaterunser in der Mitte des Evangeliums steht, genauer gesagt im „Reisebericht“ (Lk 9,51 - 19,27; 2. Station) über dem Weg von Galiläa (1. Station) nach Jerusalem (3. und letzte Station). Das Vaterunser folgt auf die „Aussendung der Siebzig“ (Lk 10,1-12), auf die Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) und auf die Erzählung von Marta und Maria (Lk 10,38-42). Nach dem Vaterunser folgen Gleichnisse, Heilungen, die Jesus zunehmend in Konflikt mit den jüdischen Autoritäten bringt, sowie zunehmend Warnungen und Klagerufe, die auf die bevorstehende Passion voraus deuten.
II. Untersuchung der Textgestalt - synchrone Textanalyse
2.1. Gliederung der Perikope
Das Vaterunser liegt uns in einer kürzeren, aus fünfBitten bestehenden Fassung bei Lukas und einer längeren Fassung bei Matthäus mit sechs Bitten vor; trotz ihres unterschiedlichen Umfangs weisen beide Rezensionen eine analoge Struktur bzw. Gliederung auf, die in einer grafischen Gegenüberstellung sichtbar wird:
Abb. in Leseprobe nicht enthalten
Im Vergleich zeigt die Langfassung des Gebets bei Matthäus eine viel deutlicher ausgeprägte symmetrische Entsprechung von zwei Hauptteilen: In einem 1. Teil finden sich drei Du-Bitten (V 9b-10) und in einen 2. Teil drei Wir-Bitten (V 11-13);6 letztere sind aber etwas längerund zweiteilig (dies gilt im Griechischen durch die Stellung des Verbs auch für die Brotbitte in V 11).7 Die ersten drei Bitten bei Matthäus und die beiden ersten Bitten bei Lukas beziehen sich direkt auf Gott, sind also theozentrisch formuliert und gelten der Erfüllung des eschatologischen Heils. Die erste bittet um die Heiligung des Namens Gottes, eine zweite um das Kommen seines Reiches, und bei Matthäus wird noch in einer weiteren, dritten um die Erfüllung seines Willens gebetet. Diesen direkt auf Gott bezogenen Du-Bitten folgen drei Wir-Bitten, in denen die Beterinnen Gott um die Erfüllung der elementarsten Bedürfnisse ihres Lebens bitten und auf die schon gegenwärtige Erfüllung des eschatologischen Geschehens8 sowie auf die Aufhebung der Hindernisse auf dem Weg dorthin hoffen; sie bitten um das tägliche Brot, um die Vergebung der Schuld und schließlich um die Barmherzigkeit Gottes im Angesicht der Versuchung. Den theozentrischen Du-Bitten folgen also „Diesseits“-Bitten,9 und diese Abfolge lässt sich so verstehen, dass die beiden Gruppen von Bitten in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. Erst wenn die Anliegen Gottes zu ihrem Recht gekommen sind, kann Raum für die Wünsche der Menschen entstehen. Die Überleitung von den theozentrischen hin zu den „Diesseits“-Bitten wird durch die Formulierung „wie im Himmel, so auch auf Erden “ markiert.
Man kann nun aber diesen beiden Teilen die Anrufung Gottes in der ersten Zeile des ersten Verses, also „Unser Vater, der du bist in den Himmeln“ bei Matthäus und „Vater“ bei Lukas, voranstellen und als einen ersten von dann drei Teilen abgrenzen. Tut man dies, so lässt sich erkennen, dass die Anrede nicht nur als titelgebende Kopfzeile vor dem ganzen Gebet steht, sondern auch jede der einzelnen fünf oder sechs Bitten einleitet. So herausgehoben wird die Anrufung des Vaters zum zentralen hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis unseres Gebets und insgesamt für das Beten Jesu (s.u.).10
2.2. Sprachliche Gestalt der Perikope (Textgrammatik)
Grundsätzlich kann gesagt werden, dass beide Fassungen des Gebets einen strophischen Charakter aufweisen und die längere Fassung des Vaterunsers bei Matthäus einen noch stärker ausgeprägten Rhythmus zeigt. Wenn wir die im letzten Abschnitt behaupteten drei Teile zugrunde legen, dann lassen sich bestimmte sprachliche Besonderheiten aufzeigen.11 Die Gebetsanrede im 1. Teil enthält keinen Gottesnamen und keine Titulatur, sondern lediglich das Wort „Vater“ (abba), der im Blick nach oben angerufen wird. Bei Lukas kommt „Vater“ sogar ohne ein Possessivpronomen oder ein - suffix aus. Die Du-Bitten (2. Teil) sind knapp formuliert, stimmen in beiden Evangelien in ihrer grammatikalischen Struktur überein und zeigen im Griechischen durch die dreimalige (Matthäus) und zweimalige (Lukas) Verwendung von oov (sou - sein) vermutlich noch Spuren eines Endreims. Die Zeilen beginnen betont mit einem Verb, das in zwei unterschiedlichen Gestalten erscheint. In der ersten Zeile beider Evangelien wird das Passivum divinum, die auf Gott bezogene Passivform verwendet,12 eine alttestamentliche Stilfigur, die eingesetzt wurde, um die Nennung des Namens Gottes zu vermeiden und um seine Andersheit und Unverfügbarkeit zu respektieren.13 Vermieden wird hier (aus später noch weiter theologisch zu erschließenden Gründen - siehe IV. 1.) die direkte Aufforderung an Gott (etwa: „Heilige deinen Namen“) und darum gebeten, die Ausführung der Bitte Gottes eigener Fügung zu überlassen. Das Verb der zweiten (Lukas) sowie der zweiten und dritten (Matthäus) Du-Bitte steht im Imperativ des Aorists Passiv in der 3. Person. Der Aorist ist im biblischen Griechisch eine Zeitform, die die Art und Weise einer Handlung angibt. Ein Imperativ kann im Präsens oder im Aorist formuliert werden. Wenn es darum geht, eine bereits begonnene Handlung weiterzuführen, dann wird das Präsens verwendet. Der Aorist ist hingegen das normale Tempus des Imperativs, wenn, wie im Vaterunser, eine einfache Aufforderung ausgesprochen werden soWjetzt zu beginnen.
Die Sprache der Wir-Bitten ist plastischer und ihre grammatikalische Struktur komplexer sowie weniger einheitlich als die der Du-Bitten. Die Wir-Bitten sind durch das Personalpronomen der 1. Person Plural bestimmt, das allein 7-Mal vorkommt, und die Verben sind durchgehend ins Präsens gesetzt. Die beiden letzten Bitten werden durch eine subordinierende Konjunktion („und“ - Mt 6,12 und 13; Lk 11,4) eingeleitet und sind am längsten. Gott wird nun direkt angesprochen und aufgefordert („gib uns“, „vergib uns“, „führe uns nicht“, „rette uns“). Im Unterschied zu den Du- Bitten stehen die Verben in den Wir-Bitten sowohl am Anfang als auch am Ende der Zeilen. Die zweite Bitte ist durch einen Vergleich erweitert sowie dadurch länger, und die letzte Bitte ist bei Matthäus oppositionell aufgebaut und wird als einzige in ihrem 1. Teil negativ formuliert.
2.3. Bedeutung der Wörter und Wendungen (Textsemantik)
In diesem Abschnitt werde ich mich in der semantischen Analyse auf die Gottesanrede im 1. Vers sowie auf eine sprachliche Wendung in den Du-Bitten und eine in den Wir-Bitten konzentrieren.
Von besonderer Bedeutung für das ganze Gebet in beiden Fassungen ist der Beginn mit dem Wort „Vater“.14 Da die Sprache Jesu und seiner Jünger das Aramäische war, muss der Anfang des Vaterunsers abba (und nicht Griechisch Pater imon oder Hebräisch abinu) gelautet haben. Für diese Annahme gibt es einen indirekten Hinweis. Der Griechisch sprechende und schreibende Paulus verwendet das Wort abba an gleich zwei Stellen. Im Brief an die Römer (8,15) heißt es: „Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, wieder zur Furcht, sondern einen Geist der Sohnschaft habt ihr empfangen, in dem wir rufen: Abba, Vater!“. Und ganz ähnlich lautet eine Stelle im Brief an die Galater (4,6): „Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, der da ruft: Abba, Vater!“ Paulus hätte das aramäische Wort abba in seinen auf Griechisch geschriebenen Briefen wohl kaum eingefügt, wenn diese Anrede nicht unter den Anhängern Jesu vertraut und üblich gewesen wäre. Es wäre darüber hinaus sogar möglich, dass Paulus mit der Nennung des Wortes abba das Vaterunser selbst meinte und seine Jünger damit aufforderte, das Gebet zu sprechen. Das Wort abba war offenbar in seiner aramäischen Form so einmalig und in seinem Bedeutungsgehalt so wichtig, dass es nicht übersetzt und auf Aramäisch weiter tradiert wurde. Abba ist sprachlich so gebildet, dass es an ein frühes Lautieren eines Kindes erinnert; es kann voller Zärtlichkeit gesprochen werden, es verweist auf den Intimbereich der Familie und ein frühes Abhängigkeitsverhältnis. Die sich mit abba ausdrückende liebevolle
Beziehung zwischen Gott und seinen Kindern kündet von einem Grundvertrauen (und schafft und vertieft es zugleich), das es ermöglicht, sich auf sein Wollen und Wirken einzulassen. Wenn Jesus das Gebet spricht und Gott abba nennt, dann tut er dies als sein „Sohn“, und all seine Jünger, die er das Beten lehrt und die ihm nachsprechen, werden ebenfalls zu Gottes geliebten Kindern, die ihren himmlischen Vater anrufen.
Das Verhältnis zwischen Gott und seinen Kindern wird sowohl im Matthäusevangelium als auch im Lukasevangelium an Stellen, die dem Vaterunser vorausgehen, zu einer Liebesbeziehung erklärt. Matthäus erzählt, wie nach der Taufe Jesu der Himmel aufgerissen wird, der Heilige Geist wie eine Taube herabkommt und eine Stimme aus dem Himmel ertönt: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe“ (Mt 3,17; meine Hervorheb.). Lukas formuliert noch direkter in der (gleich doppelten) persönlichen Anrede: „ Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden“ (Lk 3,22; meine Hervorheb.). Doch nicht nur relativ zu Beginn, sondern auch gegen Ende des Matthäusevangeliums bittet Jesus in der Gethsemane-Perikope zweifach sowohl um Verschonung als auch um die Erfüllung des Willens Gottes und knüpft dabei wörtlich an das Vaterunser an. In der zweiten Fassung des Ausspruchs heißt es: „ Mein Vater, wenn dieser (Kelch) nicht vorübergehen kann, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille !“ (Mt 26,42; meine Hervorheb.). Das Vaterunser, das Jesus auf dem Weg von Galiläa nach Jerusalem spricht, steht somit in der Mitte eines Spannungsbogens zwischen der Taufszene am Jordan, die den Beginn von Jesu öffentlichem Wirken einleitet, und der Passion in Jerusalem. Es sei noch angefügt, dass im Markusevangelium, eine der beiden mutmaßlichen Quellen für Matthäus und Lukas, Jesus am Ölberg mit gleichlautenden Formulierungen betet: „Und er sprach: Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir weg! Doch nicht, was ich will, sondern was du willst !“ (Mk 14,36; meine Hervorheb.). Die Verbindung der Anrede Vater / abba mit dem Wunsch, dass sein Wille geschehe, die all die genannten Stellen verbindet, verweist auf einen Gott, der zugleich liebevoll und stark ist; er wird als jemand vorgestellt, der einen bestimmten Heilsplan verfolgt, auf den wir uns einlassen sollen.
Wenn es in der 2. Du-Bitte heißt „dein Reich komme“, so ist damit das Haupt- und Leitwort von Jesu Verkündigung ausgesprochen. Mit dem Reich Gottes ist wörtlich seine Königsherrschaft oder die Gottesherrschaft gemeint, die auf Hebräisch ninba (malkut) und im biblischen Griechisch ßaorksfa tou 9sou (basileia toü theoü) heißt. Die Reich-Gottes-Verkündigung ist tief verwurzelt in der Jüdischen Bibel und findet sich in der Tora, bei den Propheten und in den Psalmen.15 Sie ist aufgespannt zwischen Gottes anfänglicher Herrschaft über die gesamte Schöpfung und der Hoffnung auf die Durchsetzung seines Heilswillens am Ende aller Zeiten. Insbesondere in der Vorstellungswelt der biblischen Prophetie und Apokalyptik ist die Gottesherrschaft als universale Durchsetzung der Tora mit dem Ende aller Gewalt- und Fremdherrschaft, von jeglicher Unterdrückung, dem Endgericht sowie einer vollständigen Verwandlung der Schöpfung verknüpft. Jesu Verkündigung stand von Beginn an im Horizont einer Naherwartung des Kommens des Reiches Gottes: „Von da an begann Jesus zu predigen und zu sagen: ,Tut Buße, denn das Reich der Himmel ist nahe gekommen![4]“ (Mt 4,17; vgl. auch Lk 10,9.11). Der Vers im Vaterunser schließt, wie Lohfink überzeugend zeigen konnte,16 an einen Passus im Danielbuch (7,13-14) an, denn nur dort wird einem „Sohn eines Menschen“ das Königtum über die ganze Erde verliehen, und nur hier ist, wie im Vaterunser, in direkter Verbindung vom „Kommen“ und dem „Königtum“ Gottes die Rede. Daniel, der im 2. vorchristlichen Jahrhundert lebte, schildert in seinem Buch, wie vier große Weltreiche, die jeweils durch ein Tier symbolisiert werden (Löwe: Babylon, Bär: Meder, Leopard: Perser, eine Bestie: hellenistische Reiche), untergehen und sodann vor einem Weltgericht ein fünftes Reich erscheint, das nicht mehr durch ein Tier symbolisiert wird, sondern für das nun der „Menschensohn“ steht. Dieses Reich ist somit die erste menschliche Gesellschaft, die aber zugleich menschlich nicht machbar ist, sondern aus den „Wolken des Himmels“ von Gott her geschenkt wird. Gott ist somit kein König dieser Welt, sondern der einzig wahrere König, der dem Machtwillen der Weltmächte entzogen bleibt. Wie im Vaterunser ist das Reich deshalb aber kein bloß jenseitiges, sondern wird in seiner Verwirklichung einer umfassenden Gerechtigkeit und Barmherzigkeit ganz irdisch („wie im Himmel, so auch auf Erden!“). Für Jesus beginnt das Königtum Gottes jetzt und nicht irgendwann, und mit dem Vaterunser beten er und seine Jünger für einen radikalen Herrschaftswechsel.
In allen Wir-Bitten ist Gott der Handelnde - und dies gilt auch für die dritte Bitte: „und führe uns nicht in Versuchung“.17 Wiederholt ist der Versuch unternommen worden, diese Bitte im Sinne einer bloßen Zulassung umzuformulieren („Lass nicht zu, dass wir in Versuchung geraten.“ - s.o.). Doch solche Versuche schwächen Gottes Handeln ab und sind deshalb fragwürdig. Zur sachgerechten Klärung ist zu fragen, wie sich die Bitte des Vaterunsers biblisch deuten lässt. Wichtig ist zuerst die Beachtung der genauen Formulierung. Es heißt nicht „Versuche uns nicht“, sondern „führe uns nicht in Versuchung “. Das Funktionsverb „führen“ sichert, dass Gott der Handelnde ist, und zugleich wird verhindert, dass er selbst das Böse tut - es wird das Substantiv „Versuchung“ gewählt, so dass offen bleiben kann, wer der ,Versucher‘ ist. Dies erinnert an Abraham, der von Gott „auf die Probe“ gestellt wurde (Gen 22,1), und es ist aufschlussreich, dass die Septuaginta hier das Wort ¿Ksipa^sv (epeirazen) einsetzt, das das Verb zum Substantiv rcsrpaopöv (peirasmos) ist, welches wiederum in der griechischen Fassung der Vaterunserbitte steht. Auch Jesus wird nach seiner Taufe vom Heiligen Geist für 40 Tage in die Wüste getrieben (und wiederholt damit die 40 Jahre dauernde Wüstenwanderung Israels nach dem Exodus), um dort gezielt „versucht“ (Mt 4,1) zu werden. Gott lässt es also durchaus zu, dass wir in Versuchung geraten, schafft sogar derartige Situationen und damit die Möglichkeit, dass wir uns gegen Gott und für das Böse oder aber für Gott und das Gute entscheiden können. Die Versuchung ist damit, wie es im 1. Korintherbrief (10,13) heißt, eine „nur menschliche“, die nicht Gott zugerechnet werden kann und mit unserer Freiheit der Entscheidung zwischen gut und böse zu tun hat. Paulus fügt in demselben Vers noch an, dass Gott uns Menschen „nicht versuchen lässt über eure Kraft, sondern macht, dass die Versuchung so ein Ende nimmt, dass ihr’s ertragen könnt“ - und auch dieser Vers verdeutlicht, dass es Gott nicht um das Tun des Bösen geht.
2.4. Wirkabsicht der Perikope (Textpragmatik)
Am besten bestimmt man das Vaterunser als ein „Bittgebet“ und als ein „Jüngergebet“ des jüdischen „Christentums“ in Galiläa und Judäa, das gerade in seiner umfangreicheren matthäischen Gestalt von dem Gottesdienst und der Liturgie der Gemeinde Jesu inspiriert ist. Diese vorösterliche Gemeinde war erst im Entstehen begriffen, und die Jünger waren sich unsicher, was und wie sie beten sollten - sie benötigten Jesu Beistand und Unterstützung in Form eines Leitgebets. Jesus gab ihnen einen hochverdichteten Text an die Hand, der gezielt nur Bitten (und keinen Lobpreis) enthält und ausdrücklich für ein gemeinschaftliches Beten bestimmt war (stets wird im 2. Teil das Personalpronomen der 1. Person Plural verwendet). Dieser grundlegende Charakter des Gebets hat mit dem gespannten Zeithorizont zu tun, in der Jünger und Gemeinde standen. Jesus verkündete durch die Austreibung der Dämonen (Mk 12,28 par. Lk 11,20), durch die Heilung der Kranken (Lk 9,2) und durch die Vergebung der Sünden (Mt 16,19), dass das Reich Gottes nah und eigentlich schon angebrochen sei. Zugleich aber war die Gottesherrschaft noch nicht gekommen, und es war in der Perspektive Jesu entscheidend wichtig, dass alles für seine Verwirklichung getan wird. Die Jünger, die Jesus aussendete (Mt 10,7; Lk 10,9.11; Mk 1,15), waren beauftragt, diese Botschaft zu verkünden und wurden selbst mit dem Vaterunser ausgerüstet, in dessen Geist sie bitten und handeln sollten. Mit ihm baten sie, dass Gott sich seines Volkes annehme, es aus der Zerstreuung sammele, es zu einem Volk mache, ihm ein neues Herz gebe und mit heiligem Geist erfülle, damit das Reich Gottes zum Ende seiner Vollendung gelange.
III. Untersuchung der Vorgeschichte der Perikope - diachrone Textanalyse
3.1.l. Synoptischer Vergleich
Zusammenfassend und anknüpfend an die bisherige Analyse lässt sich zur Textgestalt sagen, dass die beiden Perikopen deutliche Gemeinsamkeiten aufweisen und sich bis in Formulierungen hinein gleichen. Es sind aber auch charakteristische Unterschiede nachweisbar: Die Fassung bei Matthäus ist deutlich länger, umfasst eine längere Anrede, zwei weitere Du-Bitten sowie eine oppositionell aufgebaute letzte Wir-Bitte. Die Brotbitte unterscheidet sich bei Matthäus und bei Lukas in der Stellung sowie in der Verwendung der Wörter. Auch die Bitte um Vergebung wird in beiden Evangelien unterschiedlich formuliert: Lukas spricht von „Sünde“ und verwendet das Präsens, Matthäus redet von „Schulden“ und setzt die Formulierung in eine Vergangenheitsform.
Berücksichtigen wir den weiteren Kontext, so fällt vor allem eine andere Einbettung der jeweiligen Perikope auf. Die beiden Evangelisten unterscheiden sich darin, wie sie die Anweisung an die Jünger zum rechten Beten gestalten. Matthäus stellt das Vaterunser den Gebeten der Heiden sowie ihrem „Plappern“ antithetisch gegenüber (Mt 6,7-9) und benennt keine Situation für die Übergabe des Gebets. Dagegen wird bei Lukas ein „Ort“ (Lk 11,1), an dem Jesus betet, und die Bitte einer seiner Jünger benannt, sie das Beten zu lehren, wie auch Johannes seine Jünger das Beten gelehrt habe. Dadurch wird Jesu Beten zum Vorbild. Wie Johannes soll auch Jesus durch seine Art zu Beten seine Jünger zu Jesusjüngern machen. Jesus kommt dieser Bitte nach, und Lukas legt Jesus die Formulierung „Wenn ihr betet, so sprecht“ in den Mund, die noch stärker an eine Gebetsformel erinnert, als die Entsprechung bei Matthäus („Darum sollt ihr so beten“ - Mt 6,9a).18
Abschließend soll kurz darauf hingewiesen werden, dass es noch eine weitere, aber nichtsynoptische und nicht-neutestamentliche Überlieferung des Vaterunsers gibt, die im 8. Kapitel („Belehrung über Fasten und Gebet“) der Didache (Did 8,2), der Zwölfapostellehre aus dem 1. Jahrhundert, zu finden ist, die die wohl früheste christliche Kirchenordnung enthält. Die Fassung in der Didache ist der Langfassung bei Matthäus verwandt, Textunterschiede betreffen lediglich die Gebetsanrede und die 5. Bitte. Was in den Evangelientexten als Gebetsanweisung Jesu in der vorösterlichen Situation erscheint, wird nun zum „Leitgebet“ der Gemeinde und zum Gebetsformular. Um das Vaterunser liturgiefähig zu machen, wurde es mit der Abschlussdoxologie versehen - es bleibt aber Bittgebet und wird dadurch nicht zum Hymnus oder Lobpreis.19
3.2.2. Anwendung der Zwei-Quellen-Theorie
Der relevante literar- bzw. quellenkritische Befund lautet in Bezug auf das Vaterunser wie folgt: Die Perikope kommt in den synoptischen Evangelien nur bei Matthäus sowie bei Lukas vor - Markus hat das Gebet nicht, kennt aber Anklänge daran in der Gethsemane-Perikope (Mk 26,36-46; s.o.). Nach der Zwei-Quellen-Theorie liegt in diesem Fall ein indirektes Abhängigkeitsverhältnis vor. Matthäus und Lukas sind demnach zwar nicht voneinander, aber beide von einer identischen dritten, einer Spruchtradition entstammenden Quelle abhängig, nämlich der so genannten Logien- oder Spruchquelle Q, die nicht überliefert ist und abgeleitet werden muss (siehe I.2.) - die Unterschiede verweisen damit auf das jeweilige Sondergut der Evangelien. Daraus ist nun 1. zu schlussfolgern, dass die Logienquelle der Ursprungs’text’ für das Vaterunser in beiden Evangelien ist. Die 2. Schlussfolgerung ergibt sich aus einem der Schlüsselprinzipien der biblischen Textkritik, nämlich aus dem Leitsatz lectio brevior potior (die kürzere Lesung ist stärker). Man geht bei diesem Grundsatz davon aus, dass die „Autorinnen“ stärker zu Ergänzungen der vorliegenden Texte geneigt haben, als zu Streichungen. Wenn man also zwei oder mehr Manuskripte desselben Textes vergleicht, wird angenommen, dass die kürzeren Lesungen dem Original näher stehen.20 Daraus folgt in unserem Falle, dass die kürzere Fassung des Vaterunsers bei Lukas älter ist als die bei Matthäus. Dies lässt sich indirekt auch an der Erweiterung der Vateranrede durch Matthäus nachzeichnen. Nicht nur Lukas, sondern auch Markus (14,36) und Johannes (17,1) verwenden kurze Vateranreden. Darüber hinaus wird aber angenommen, dass zwar die lukanische Fassung in der Zahl der Bitten bzw. im Umfang sowie in der Gottesanrede älter, dass aber der Wortlaut bei Matthäus ursprünglicher ist.21
All diese durchaus plausiblen, aber oft theorielastigen Überlegungen finden eine Grenze in dem Umstand, dass die jüdischen Gebete, von denen das Vaterunser vielfältig abhängt und mit denen es in Verbindung steht (s.u.), einen großen Variantenreichtum aufweisen, oft verändert wurden und nicht als fertige Gebetsformulare vorlagen. Es ist deshalb auch ein Trugschluss, zu meinen, die Kurzversion bei Lukas sei ursprünglich jesuanisch, die längere bei Matthäus dagegen aber sekundär und ,kirchlich‘. Die Kurzversion könnte vielmehr einen Kern dokumentieren, der variiert und ausgebaut werden sollte und erst später fixiert wurde. Einen Nachklang dieses variablen Verständnisses der Gebete findet sich im Babylonischen Talmud, in dem die Offenheit des Betens für neue Formulierungen regelmäßig betont wird. So heißt es im Traktat Berakhot (29b; meine Hervorheb.): „R Eliezer sagt: Wer sein Gebet als etwas Obligatorisches betrachtet. Was heißt ‘Obligatorisches’? [...] Rabba und R. Joseph erklärten beide: Wenn man darin nichts Neues einzuschalten weiß.“
3.3.3. Rückfrage nach Jesus
Luz formuliert kurz und bündig: „Das Unservater stammt von Jesus. Diese Annahme wird von den meisten Forschern geteilt“.22 Durchaus anders als bei anderen Perikopen lässt sich für das Vaterunser relativ sicher eine mündliche Überlieferung annehmen, die direkt auf Jesus zurückgeht. Bei Matthäus erscheint, wie Wiefel anführt, mit der Einfügung des Vaterunsers in die Bergpredigt ein von Jesus selbst gelehrtes Gebet.23 Bei Lukas wird noch stärker das Vorbild Jesu herausgestellt, an dem sich die Jünger orientieren können - er erscheint als Lehrer und Vermittler. Darüber hinaus ist anzunehmen, dass Jesus mit dem Vaterunser nicht nur den Jüngern ein Gebet für den Gebrauch in der Gemeinde vorgesprochen hat, sondern dass er selbst das Vaterunser gebetet hat. Wenn dem so sein sollte, so drückt das Gebet nicht nur die Lehre Jesu aus, sondern vermittelt einen wichtigen Einblick in seine Beziehung zu Gott, den er als Sohn zärtlich als seinen Vater anredet. In nahezu allen Kommentaren wird darauf hingewiesen, dass das Vaterunser in vielfältiger (und im einzelnen zeitlich und sachlich zu klärender) Verbindung zu den jüdischen Gebeten und Traditionen der Zeit Jesu steht, was im nächsten Abschnitt genauer nachgezeichnet werden soll.
3.4.4. Historische Zusammenhänge
Lange Zeit galt das Vaterunser als paradigmatisches Gebet des „neuen Bundes“ und damit als geradezu unjüdisch. Erst mit der genaueren Kenntnis der jüdischen Texttradition und nach der Shoah setzte ein gegenläufiger Trend ein und man entdeckte es als als ein genuin jüdisches Gebet.24 Man geht nun davon aus, dass insbesondere der Grundstock des jüdischen Hauptgebetes, das Achtzehn- oder Amida -Gebet, bereits feststand und Jesus damit vertraut war.25 Aber auch das Kaddisch, ein anderes Kernstück synagogalen Betens, lässt sich im Vaterunser (vor allem in den Du-Bitten) vielfältig finden. Mit folgender tabellarischer Übersicht sollen diese Verbindungen veranschaulicht werden:26
Abb. in Leseprobe nicht enthalten
Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die Formulierung und frühe Überlieferung des Vaterunsers in einem Raum geschah, in dem die Grenzen zwischen „Judentum“ und „Christentum“ noch sehr fließend waren und diese als festgefügte religiös-kulturelle Entitäten noch gar nicht existierten (und deshalb stellen diese Bezeichnungen einen Anachronismus dar). Erst langsam vollzog sich das, was das „Auseinandergehen der Wege“ genannt wurde.27 Man darf davon ausgehen, dass Jesus sein Gebet im Kontext eines lebendigen jüdischen Betens gesprochen hat, das vielfach variiert wurde (s.o.) Freilich können wir das Vaterunser nicht schlicht aus einem der jüdischen Gebete herleiten (es ist sogar möglich, dass das Vaterunser umgekehrt die „jüdischen“ Gebete beeinflusst hat), aber es darf von der jüdischen Gebetstradition auch nicht isoliert werden.28 So weist Ben-Chorin etwa daraufhin, dass die Formel „Vater im Himmel“ (vgl. auch Ez 36,25) bei den Pharisäern in der Periode des Zweiten Tempels aufkam (und weder bei den Sadduzäern noch in den Rollen der Essener zu finden ist), und Navon und Söding betonen, dass die jüdische Anrede Awinu sche-ba Schamajim („Vater unser, der im Himmel ist“) in der mündlichen Tora, genauer gesagt in der Mischna (Sota 9,15) auftaucht.29 Dies lässt eine Verbindung der Lehre Jesu zum pharisäischen und rabbinisch-talmudischen Judentum aufscheinen, die lange Zeit nicht gesehen werden konnte.
Es lassen sich aber auch Unterschiede herausarbeiten. So hat etwa das Kaddisch einen eher doxologischen als bittenden Charakter und gehört mit seiner respondierenden Form einem anderen Gebetstypus an. Jesus hat mit dem ausgesprochenen Bittcharakter des Vaterunsers sein Gebet in die spezifische Situation seiner Gemeinde und Verkündigung gestellt. Man kann auch von einem besonderen Gottesverständnis Jesu sprechen, das sich im Vaterunser ausdrückt: die Nähe und Liebe Gottes, die sich in der Schlichtheit der Anrede ausspricht und mit einer Heilszusage an seine Kinder verbunden ist, sowie im weiteren Kontext die besondere Zuwendung zu den Armen, den Deklassierten und den Sündern. Doch man sollte diese Besonderheit, wie Luz betont, „nicht mit einem unjüdischen Gottesverständnis verwechseln“.30
Das Vaterunser weist nicht nur Parallelen und Übereinstimmungen mit anderen jüdischen Gebeten auf, sondern in der Komposition der Bitten spiegelt sich die Struktur der Zehn Gebote bzw., wie es in der jüdischen Tradition heißt, der Zehn Worte erstaunlich genau wider. Dazu muss vorab erläuternd gesagt werden, dass im Judentum die Gebote anders gezählt werden, als in den verschiedenen christlichen Denominationen. In der katholischen und der lutherischen Kirche etwa werden, um das trinitarische Gottesverständnisses zu betonen, nur die ersten drei Gebote auf der ersten Tafel angebracht, und die restlichen sieben befinden sich auf der zweiten Tafel. Im Judentum werden die Gebote 5 + 5 auf die Tafeln verteilt: Die Gebote I-V ordnen das Verhältnis zwischen Mensch und Gott, die Gebote VI-X das Verhältnis zu den Mitmenschen.31 Und genau diese Struktur findet sich in der ebenfalls symmetrischen Aufteilung der Bitten im Vaterunser. Die ersten drei Bitten beziehen sich auf das Beziehungsverhältnis zwischen Gott und Mensch, die zweiten drei Bitten im Lichte Gottes auf die Beziehung zwischen Mensch und Mitmensch. Beide Texte sind auf diese Weise von einer Theozentrik geprägt, die eine vorrangige Bewegung von Gott zum Menschen und dann sowohl vom Menschen zum Mitmenschen als auch zurück zu Gott stiftet, die maßgeblich sowohl für das Judentum als auch das Christentum ist. Auch die hier angesprochene Parallele soll mit einer grafischen Darstellung verdeutlicht werden (mit einer zusätzlichen Erwähnung des Schma Jisrael):32
1. Tafel
Abb. in Leseprobe nicht enthalten
IV. Zusammenfassung der Ergebnisse
IV.1. Theologische Auswertung
Der Kirchenvater Tertullian (nach 150- nach 220 n.Chr.) hat das Vaterunser in einer berühmten und treffenden Formulierung eine „Kurzfassung des gesamten Evangeliums“ (Breviarum totius Evangelii) genannt.33 Es fasst jedoch nicht nur die Verkündigung Jesu knapp zusammen, sondern stellt zugleich auch, wie der letzte Abschnitt zeigen sollte, eine geraffte Zusammenstellung der überlieferten jüdischen Gebete dar. Dieses Gebet kommt mit wenigen wohlgesetzten Worten aus.
Im Gegensatz zu dem weitschweifigen „Plappern“ der „Heiden“ (und nicht nur der Heiden) formuliert es die Essenz desjesuanischen Kerygmas in einer hoch verdichteten Form. Die „Heiden“ müssen schon deshalb so viel „plappern“, weil sie es mit vielen Göttern zu tun haben und weil sie diese durch komplizierte und aufwändige Verrichtungen beeinflussen wollen. Für das Vaterunser gilt all dies nicht. Es nimmt eine Entwicklung vorweg, die sich sowohl im Judentum als auch im Christentum nach der Zerstörung des (Zweiten) Tempels vollends durchsetzen sollte. An die Stelle der Opfer und des Tempelkults trat nun (neben der Schriftpflege) das Gebet, das nicht als magischer Vollzug funktioniert, sondern als eine Anrufung Gottes, die ohne viele Worte auskommen kann. Doch die Kürze des Vaterunsers erklärt sich nicht dadurch, dass nun ein Gott und nicht mehr viele Götter angebetet wurden. Der Unterschied zwischen dem heidnischen Polytheismus und dem biblischen Monotheismus (der kein Henotheismus ist) ist kein bloß numerischer, sondern drückt sich in der Theozentrik des Vaterunsers aus. An erster Stelle stehen die Du-Bitten und die Einsicht, dass - noch bevor es um unsere Wünsche gehen kann - Gottes Name geheiligt werden und dass sein Reich kommen sowie sein Wille geschehen muss. Wir können darum bitten und darauf inständig hoffen - und Jesus tut dies mit der intimen und familiären Anrede abba -, aber dass wir bitten und hoffen, anerkennt schon die Transzendenz („Vater unser im Himmel“) sowie die Unverfügbarkeit Gottes. Alle drei Bitten betonen etwas, was menschlich grundsätzlich nicht machbar ist - keine magische Verrichtung und letztlich auch kein Opferdienst kann das herstellen, worauf wir angewiesen sind, weil es unbedingt von Gottes Zuwendung abhängig ist. Erst wenn dieser Vorrang akzeptiert ist, kann es dann darum gehen, Gott um die Erfüllung unserer Wünsche zu bitten - und es wird auch mit den Wir-Bitten in lakonischer Kürze um das Wichtigste gebeten, nämlich um die Befriedigung der elementarsten (mit-)menschlichen Wünsche und jedenfalls nicht um gewissermaßen narzisstischer Wünsche nach Macht oder Reichtum. Erst die Theozentrik des Gebets, die eine strukturelle Entsprechung zu den Zehn Geboten bzw. Zehn Worten aufweist, schafft jene Einstellung, die notwendig ist für die Vollendung des Reiches Gottes, das mit Jesu Verkündigung schon begonnen hat. Nur durch sie kann die endliche Herstellung von Gerechtigkeit und Frieden erreicht werden. Doch was ist vorrangig dafür im Verständnis Jesu notwendig?
Betrachten wir dafür die erste Bitte des Vaterunsers: „geheiligt werde dein Name“ genauer. Warum beginnt das Gebet gerade mit dieser Bitte? Um diese Frage sinnvoll beantworten zu können, ist es hilfreich, sich ihre wichtigste biblische Referenzstelle zu vergegenwärtigen. Die in dieser Gebetszeile verwendete eigentümlich passivische Formulierung (es handelt sich, wie gehört, um das Passivum divinum), die letztlich Gott als handelndes Subjekt hat und darum bittet, dass Gott selbst in endzeitlicher Selbstmanifestation seinen Namen heiligen solle, taucht in dieser Wendung nur noch bei Ezechiel, dem großen Schriftpropheten des babylonischen Exils (Ez 36, 17-28) auf.34 Dazu muss erläuternd gesagt werden, dass die Heiligung des Namens (qiddusch haschschem), in der der Mensch bzw. das Volk Israel das Subjekt ist, in den alttestamentlichen Schriften vielfach, die jetzt gemeinte Stelle aber nur einmal auftaucht. Ezechiel schildert eindrücklich eine Situation, in der das Volk Israel in dem Land wohnte, das Gott ihm gegeben hatte, es dort aber nicht nach seiner Rechtsund Sozialordnung lebte. Es betrieb Götzendienst und entheiligte so den Namen Gottes. Gott musste ein solches Volk zerstreuen, denn, so dürfen wir schlussfolgern, eine Gesellschaft, die auf Dauer gegen Gottes Ordnung lebt, zerstört sich selbst. Das gilt erst recht für Gottes Volk, das seiner besonderen Berufung folgen sollte, aber das „gelobte Land“ zerstört hat. Doch die Zerstreuung konnte nicht das letzte Wort Gottes sein, denn sie widersprach Gottes unbedingter Zusage und machte die Lage nur noch schlimmer. Gott musste die Verächtlichmachung seines Namens beenden, und nun heißt es: „Und ich werde meinen großen, unter den Nationen entweihten Namen heiligen, den ihr mitten unter ihnen entweiht habt“ (Ez 36, 23). Diese Heiligung, die Ausdruck der unverbrüchlichen Treue Gottes zu seinem Volk ist, geschieht dadurch, dass er es erneut sammelt, es zurückführt, es von den Götzen befreit und vor allem dadurch, dass er seinen Kindern ein „neues Herz“ und einen „neuen Geist“ gibt.
Mit dem impliziten Verweis auf diese Schriftverse verdeutlichte Jesus, dass das Volk Israel erneut und vielleicht in der Zeit der römischen Fremdherrschaft und der scharfen innerjüdischen Konflikte noch mehr einer solchen Zuwendung Gottes bedurfte. Das Vaterunser erwähnt das „Volk Israel“ aber nicht explizit, vermutlich, um jede nationalistische Zuspitzung zu vermeiden (wie sie zu Jesu Zeit etwa die Zeloten betrieben, die die Römer gewaltsam besiegen und gleichsam selbstermächtigt eine theokratische Herrschaft in Jerusalem errichten wollten). Es ging Jesus ohne nationalistische Verengung um die endzeitliche bzw. eschatologische Sammlung und Wiederherstellung des gesamten Gottesvolkes durch friedliche Umkehr und eine neue Gerechtigkeit, die letztlich Gottes Vergebung entspringt und wesentlich von ihm und seiner Zuwendung abhängt. Dafür bedurfte es zuallererst der Heiligung des geschändeten Namens Gottes. Ohne diesen Akt ist alles Menschenwerk nicht ausreichend und letztlich hinfällig. Das Reich Gottes, das das Vaterunser gleich in der nächsten Zeile erwähnt, ist ein Reich, das nicht mit den weltlichen Mächten verwechselt werden darf; es „kommt“ von Gott und will die ganze Welt zum Guten verwandeln. Um dieses Ziel erreichen zu können, bedurfte es in einem zweiten Schritt in besonderer Weise der Jünger sowie überhaupt der Gemeinde und der „Kirche“ Jesu. Das Vaterunser ist zuallererst an sie gerichtet und für sie gedacht, denn ohne, dass sie sich um die Verwirklichung der göttlichen Rechtsordnung und um die Vollendung von Gottes Schöpfungswerk mit der Verwirklichung der
Wir-Bitten in ihren Reihen bemühten, konnte es kein übergreifendes Reich Gottes geben. Das Reich Gottes hängt entscheidend von seiner Verwirklichung in der Gemeinde Gottes bzw. Jesu ab.
IV.2. Überlegungen zur Auslegung im Rahmen einer Predigt oder Bibelarbeit
Anknüpfend an die zuletzt angestellten Überlegungen würde ich gerne eine Predigt über das Vaterunser halten, das etwa am Sonntag Rogate (Betet!) in der Perikopenordnung im IV. Jahrgang in der Gestalt des Lukasevangeliums Predigttext ist. Die Frage, die sich dringend stellt, ist, ob wir uns heute nicht in einer vergleichbar zugespitzten Lage befinden und ohne Gottes Hilfe weder in der Lage sind, die wahre Not der Welt zu erkennen, noch fähig zur Umkehr. Jesu Botschaft lautet, dass diese unsere Welt schon der Ort des aufscheinenden Reich Gottes sein könnte, dass wir aber permanent Gottes Heilswillen zur Herstellung seines Reiches zunichte machen. Seine Schöpfung, die uns anvertraut ist, und damit sein Name, sind zutiefst beschädigt: Obwohl es möglich wäre, eine Welt ohne Hunger, Ausbeutung von Mensch und Natur, sowie ohne Kriege und Gewaltherrschaft zu schaffen, ist diese Welt weiterhin ein Ort, an dem das Gegenteil geschieht. Wir heiligen auf ihr nicht Gottes Namen, sondern unseren eigenen und wollen die Herren der Schöpfung sein. Wir begreifen unser Leben oft nicht mehr als geschenkt von Gott, sondern als etwas, das beliebig manipulierbar ist und ganz in unserer Verfügung steht. Das „Herrengebet“ gemahnt uns hingegen, wer der „Herr“ dieser Welt ist und es sein sollte. In seiner ursprünglichen Gestalt endete das Vaterunser ohne die uns heute so vertraute Abschlussdoxologie und deshalb eigentlich mit einem Schrei über das Böse, für das wir verantwortlich sind, sowie die sich immer weiter auftürmende Schuld, die wir auf uns laden. In der Predigt sollte deutlich werden, wie sehr wir durch das Vaterunser, wenn wir es denn neu hören können, dazu aufgerufen sind, unruhig zu werden und umzukehren. Diese Botschaft ergeht auch heute an das Volk Gottes und seine Kirche, die aufgerufen ist, die Bitten und Schreie des Vaterunsers aufzunehmen. Sie will aber nicht nur aufrütteln, sondern auch eine ungeheure Zuversicht vermitteln. Wenn wir uns mehr bemühen, die Gebote Gottes zu halten, seine Schöpfung zu bewahren, Not, Umweltzerstörung und Krieg abzuwenden und einander zu vergeben lernen, wie groß muss dann erst seine Zuwendung und sein Erbarmen sein.
Literaturverzeichnis
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[...]
1 Luz, Matthäus, 434, weist darauf hin, dass die lutherisch und katholisch übliche Bezeichnung „Vater unser“, die aus der Vulgata übernommen wurde, sprachlich nicht korrekt ist und nur die „reformierte“ Wendung „unser Vater“, wie sie z.B. in der Zürcher Bibel zu finden ist, dem ursprünglichen Wortlaut entspricht.
2 Hegener, Heilige Texte.
3 So schreibt SchalomBen-Chorin, BetendesJudentum, 214: „Ist das Fremdheitsgefühl hübenund drüben überwunden, dann wird auch der Jude keine Hemmung mehr empfinden, das Gebet Jesu, das /Unser Vater im HimmeF, mit seiner Gemeinde zu beten, denn es enthält nichts, was mit demjüdischen Glauben unvereinbar wäre.“
4 Vgl. dazu Luz, Matthäus, 437-438. Luz diskutiert auch die Möglichkeit, dass die Ursprache des Gebets Hebräisch gewesen ist, verwirft diese Hypothesejedoch nach Abwägung aller Argumente. Vergleichbar argumentiert auch Bovon, Kommentar, 121-122, für das Lukasevangelium.
5 Vgl. dazu Kirchner, Vater unser, 4-5.
6 Teilweise wurde die Position vertreten, die matthäischen Gestalt des Vaterunsers enthalte vier (und nicht drei) Wir- Bitten, da der Vers 13 aus zwei Bitten bestehe. Dagegen spricht aber die zusammengehörige antithetische Struktur des Verses, die durch eine Konjunktion („sondern“) verbunden ist.
7 Siehe dazu Luz, Matthäus, 435.
8 Ich folge hier Philonenkos, Vaterunser, 23, der davon ausgeht, dass alle, also auch die auf das Diesseits bezogenen Wir-Bitten des Gebets einen eschatologischen Charakter und Inhalt haben.
9 Vgl. dazu Wiefel, Matthäus, 131.
10 Siehe dazu Gnilka, Matthäusevangelium, 212 sowie auch Navon und Söding, Gemeinsam zu Gott beten, 38.
11 Vgl. zu den folgenden Ausführungen, falls nicht noch weitere Literatur angegeben wird: Luz, Matthäus, 435 sowie Gnilka, Matthäusevangelium, 212.
12 Lohse, Vaterunser, 43.
13 Jeremias, Neutestamentliche Theologie, 20-24.
14 Ich folge in diesem Absatz in Teilen den instruktiven Überlegungen von Navon und Söding, Gemeinsam zu Gott beten, 68-74, und Lohfink, Vaterunser, 29-34.
15 Siehe dazu Ström et al., Herrschaft Gottes /Reich Gottes.
16 Lohfink, Vaterunser, 43-54.
17 Zurfolgenden Analyse siehe auchLohfink, Vaterunser, 78-88.
18 Vgl. Schneider, Lukas, 256.
19 Gnilka, Matthäusevangelium,228.
20 Siehe dazu Conzelmann und Lindemann, Arbeitsbuch, 33.
21 Siehe dazu etwa Luz, Matthäus, 436. Auch Wiefel, Matthäus, 130, argumentiert in dieser Weise.
22 Luz, Matthäus,438.
23 Wiefel, Matthäus, 130. Dazu passt auch das häufige Vorkommen des Vaternamens für Gott in der Bergpredigt (Mt 5,16.45.48; 6,1.4.6.8.15.18.26.32; 7,11.2).
24 Vgl. Luz, Matthäus, 440.
25 Vgl. Wiefel, Matthäus, 132.
26 Ich verwende und variiere damit die Übersicht bei Navon und Söding, Vaterunser, 17-19.
27 Vgl. dazu die ausgezeichnete Studie von Boyarin, Abgrenzungen.
28 Vgl. dazu Frankemölle, Vater unser, der die Bitten in der Fassung von Matthäus minutiös nach Übereinstimmungen und Unterschieden zu weiteren Gebeten der Bibel undjüdischer Gruppen der damaligen Zeit befragt.
29 Ben-Chorin, Bruder Jesus, 92, und Navon und Söding, Vaterunser, 33.
30 Luz, Matthäus,443.
31 Köckert, Zehn Gebote, 28-35. Das Gebot, die Eltern zu ehren, steht in derjüdischen Tradition auf der 1., das Verhältnis zu Gott betreffenden Tafel, da, so die Argumentation, nur die- oder derjenige, die oder der die eigenen Eltern ehrt, auch Gott ehrt.
32 Vgl. Davonund Söding, Vaterunser, 55-56.
33 Tertullianus, De oratione, 1,6: „Neque enim propria tantum orationis officia complexa est, uel uenerationem Dei, aut hominis petitionem, sed omnem paene sermonem Domini, omnem commemorationem disciplinae, ut reuera in oratione breviarium totius euangelii comprehendatur“.
34 Vgl. dazu Gnilka, Matthäusevangelium, 218, und Lohfink, Vaterunser, 35-42.
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- Wolfgang Hegener (Autor:in), 2023, Eine vergleichende Exegese des Vaterunsers bei Matthäus und Lukas, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/1466020