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Magisterarbeit, 2009
101 Seiten, Note: 1,0
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 ADHS: aktueller Stand der Forschung – Terminologie und Symptomatik
2.1 Begriffsdefinition von ADHS
2.1.1 Begriffe im Wandel - historische Entwicklung
2.1.2 ADHS heute
2.2 Symptomatik und klinisches Bild des ADHS
2.2.1 Symptomatik
2.2.2 Diagnostik und Klassifizierungssysteme
2.2.3 Differenzialdiagnostik – systematische, allgemeine und ergänzende Diagnostik
2.2.4 Prävalenz
2.2.5 Verlauf
2.3 Ätiologie – Pathogenese (Ursachenhypothesen)
2.3.1 Biomedizinische Faktoren
2.3.2 Psychodynamische Faktoren
2.3.3 Kulturelle Faktoren
2.4 Therapeutische Interventionen
3 Zum biologisch-medizinischen Verständnis von Verhaltensstörungen/-auffälligkeiten am Beispiel ADHS aus psychosozialer Sicht
3.1 Zum Problem der biologisch-medizinischen Ursachenklärung
3.1.1 Kritik am biologisch-medizinischen Modell
3.1.1.1 Problematik der Diagnostik
3.1.1.2 Problematik der Behandlung
3.2 Biologistisch konstituierte Normalität
3.2.1 Normalitätsbegriff - Konstituierung eines `normalen´ (Bewegungs-)Verhaltens
3.2.1.1 Auswirkungen und Folgen einer biologistisch konstituierten Normalität
3.3 Bewegungs“störung“ als Beobachtungs- konstruktion
4 ADHS vor dem Hintergrund des Verstehenden Ansatzes in der Psychomotorik/ Motologie
4.1 Psychomotorik/Motologie als Schnittstelle zwischen (Bewegungs-)Pädagogik, Psychologie und Therapie
4.1.1 Zur Entstehung und Entwicklung von Psychomotorik
4.1.2 Unterschiedliche Ansätze in der Psychomotorik
4.1.2.1 Kompetenzorientierter Ansatz nach Schilling
4.1.2.2 Kindzentrierter Ansatz nach Zimmer 52
4.1.2.3 Verstehender Ansatz nach Seewald
4.2 Der Verstehende Ansatz in der Psychomotorik/ Motologie
4.2.1 Zur Vorgeschichte und Entwicklung
4.2.2 Anthropologische Grundlagen
4.2.2.1 Menschenbilder
4.2.2.2 Körper- und Bewegungsmodelle
4.2.3 Grundlagen des Verstehens und die Bedeutung für den Verstehenden Ansatz
4.2.3.1 Hermeneutisches Verstehen
4.2.3.2 (Leib)Phänomenologisches Verstehen
4.2.3.3 Tiefenhermeneutisches/psychoanalytisches
Verstehen
4.2.3.4 Verstehen vor einem entwicklungs- und gesellschaftstheoretischen Hintergrund
4.3 Die Bedeutung des Verstehens für ADHS
5 Praktische/therapeutische Konsequenzen vor dem Hintergrund des Verstehenden Ansatzes in der Psychomotorik/Motologie
5.1 Die Bedeutung des Verstehens für die Praxis
5.2 Orientierungen für die praktische Arbeit mit hyperaktiven Kindern
5.3 Grenzen der praktischen Arbeit
6 Zusammenfassende Überlegungen/ Ausblick
7 Literaturverzeichnis
8 Anhang
Abb. 1: Die Architektur des Verstehenden Ansatzes (Seewald 2007)
Abb. 2: Prozess des psychomotorischen Verstehens und Begleitens (Eckert 2004)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Hyperaktive Kinder fallen auf: sie sind ständig in Bewegung, sie passen sich nicht an, sie werfen um, werden beobachtet, gedeutet und von ihrer Umgebung als störend identifiziert. Nicht selten lösen sie Hilflosigkeit bei den Betroffenen aus. Die einschlägige Diagnose dazu lautet dann meist „ADHS“ (Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitätssyndrom) oder „HKS“ (Hyperkinetisches Syndrom). Mit dieser Stigmatisierung werden die Kinder oft in eine therapeutische „Norm-Schublade“ gesteckt, um sie (und das Problem) dann vielleicht besser handhaben zu können (vgl. Passolt 2003, S. 7).
HKS und ADHS sind nur zwei der zahlreichen Begrifflichkeiten, die zur Beschreibung dieser Verhaltensweisen verwendet werden. Betrachtet man sich weitere Begriffe, die in diesem Zusammenhang bereits Verwendung fanden, wie ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, bzw. englisch ADD „attention deficit disorder“), ADHD („attention deficit hyperactivity disorder“), MCD (Minimale Cerebrale Dysfunktion, bzw. englisch MBD „minimal brain damage“), POS (psychoorganisches Syndrom), leichte frühkindliche Hirnschädigung, Teilleistungsschwäche bzw. -störung oder neurogene Lernschwäche wird deutlich, dass mit manchen Bezeichnungen mehr auf eine organische Ursache, mit anderen eher auf eine psychische Verursachung hingewiesen wird. Während die Medizin entsprechend ihrem Verständnis von Verhal-tensauffälligkeiten als Krankheiten nach organischen Ursachen sucht, richten Psychologie und Pädagogik ihr Augenmerk auf äußere Einflüsse in der Umwelt und innere Erlebens- und Beziehungsstrukturen des Kindes, die es möglicherweise unruhig werden lassen.
Das Phänomen Hyperaktivität/Aufmerksamkeitsstörung ist ein Paradebeispiel für die unterschiedlichen und stark divergierenden Sichtweisen, welche die naturwissenschaftlich orientierte Medizin und die sozialwissenschaftlichen Fächer (Psychologie, Pädagogik, Soziale Arbeit) an Entwicklungsprobleme von Kindern herantragen.
Schaut man sich den Diskurs über die Ursachentheorien genauer an, zeichnen sich, wie oben bereits erwähnt wurde, zwei Hauptstränge ab. Zum einen ein rein biologisch-medizinisches Erklärungsmodell, das geprägt ist durch ein substantielles Menschenbild. Zum anderen die psychologisch und sozialwissenschaftlich geprägten Konkurrenzhypothesen mit der Grundlage eines relationalen Menschenbildes1.
In der biologisch-medizinischen Ursachenforschung werden zum heutigen Stand der Forschung vor allem die Theorien einer Störung des Neurotransmitterhaushaltes, einer Hirnfunktionsstörung sowie einer genetischen Disposition als Auslöser favorisiert (vgl. Wohnhas-Baggert 2003, S. 49).
Mattner (2004) kritisiert ein rein biologistisches Modell, da es sich lediglich auf das Kind und seine Verhaltens`störung´ reduziert und zudem paradigmatisch mögliche andere verursachende Faktoren ausklammert. Spezifische Verhaltensbesonderheiten werden dabei als anormal und bedeutungslos, also damit ohne Sinn abgestempelt. Auch Ahrbeck und Henning (2004) kritisieren eine zunehmende „Biologisierung“, bei der die menschliche Entwicklung lediglich aus dem Blick organischer Bedingtheit betrachtet wird und dementsprechend psychologische sowie soziale Verursachungstheorien in den Hintergrund geraten.
Weg von einem linearen, monokausalen Erklärungsmodell (Ursache – Symptom – Behandlung – Wirkung) fragen die Vertreter eines sinnhaft-hermeneutischen (phänomenologischen) und psychodynamischen (pädagogischen) Erklärungsansatzes nach Gründen für bestimmte Verhaltensweisen bzw. suchen nach Prozessen und Problemen, die den verschiedenen Symptomen, die unter der Abkürzung ADHS zusammengefasst werden, zugrunde liegen (vgl. Wenke 2008).
Diese Situation hat Folgen, wenn es um die Frage nach der effektivsten Therapieform geht. Die traditionellen therapeutischen Interventionen (Medikation und Verhaltenstherapie) liegen in den Händen von Ärzten und Psychologen. Allerdings zeigen die unterschiedlichen Therapieansätze in ihrer Wirkung häufig schwache Effekte oder führen teilweise zu einer Verschärfung der Problematik durch Entwicklung von Sekundärproblemen (vgl. Wohnhas-Baggert 2003, S. 50ff).
Eine mögliche Lösung könnte die Veränderung des Fokus sein. Inwieweit eine Sichtweise, die weniger die Auffälligkeiten, als vielmehr das Kind in seiner gesamten Entwicklung in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, zu einer kindgerechteren und `effektiveren´ Entwicklungsbegleitung führen kann, soll in dieser Arbeit diskutiert werden. In Anlehnung an Seewalds „Verstehenden Ansatz in der Psychomotorik/Motologie“ (2007) sollen Beweg-Gründe von hyperaktiven Kindern abseits des medizinischen `Mainstreams´ aufgezeigt und vor allem eine Grundlage geschaffen werden, diese zu verstehen. Zudem werden daraus mögliche therapeutische/praktische Konsequenzen für das motologisch-verstehende Arbeiten abgeleitet.
Die Arbeit ist so aufgebaut, dass zunächst in Kapitel 2 der aktuelle Stand der Forschung zum Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitätssyndrom vorgestellt wird. Es werden die unterschiedlichen Ursachenhypothesen und die bekannten therapeutischen Interventionsversuche dargestellt.
In Kapitel 3 wird das Thema ADHS aus psychosozialer Sicht betrachtet und die biologisch-medizinische Sichtweise kritisch beleuchtet.
Schließlich wird in Kapitel 4 mit dem Verstehenden Ansatz in der Psychomotorik/Motologie eine mögliche Behandlungsalternative theoretisch vorgestellt, um dann daraus in Kapitel 5 therapeutische/praktische Konsequenzen für das motologisch-verstehende Arbeiten aufzuzeigen.
Aus Gründen des flüssigen Schreibstils und der besseren Lesbarkeit wird ausschließlich die männliche Form des Geschlechts verwendet. Diese ist selbstverständlich wertneutral und bezieht die weibliche Form genauso mit ein.
In nahe zu allen Veröffentlichungen über das Thema ADHS wird das Buch „Der Struwwelpeter“ des Frankfurter Nervenarztes Dr. Heinrich Hoffmann (1844) als erste Beschreibung des Phänomens der „Zappelphilippe“ als Störenfriede im familiären und sozialen Raum genannt. Daher soll es auch an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Verfolgt man die historische Entwicklung weiter, stößt man als nächstes auf Friedrich Scholz (1831-1907), der im Kapitel „Das unruhige Kind“ in seinem Buch „Die Charakterfehler des Kindes“ (1891) bereits eine frühe Psychopathologie des hyperkinetischen Syndroms beschrieb. „Diese motorischen Unruhezustände nähern sich nicht bloß der Krankheit“, sondern sind zweifellos schon krankhaft. Jedoch müsse man bei lebhaften Kindern noch nicht gleich an eine Krankheit denken, „aber es gebe eine Grenze“ (vgl. Nissen 2005, S. 355f.).
1926 entwarf der Heidelberger Kinderpsychiater August Homburger (1873-1930) modellhaft ein komplettes Erscheinungsbild des heutigen ADHS. In seinem Lehrbuch „Psychopathologie des Kindesalters“2 rechnete er die psychomotorisch unruhigen Kinder zu den „psychopathischen Konstitutionen“. Er beschrieb sie darin als die „Nervösen“: unruhige, nervenschwache, konzentrationsschwache, labile Kinder, denen eine instinktsichere Selbststeuerung fehlt, die leicht ermüden und schwer beeindruckbar sind. Das Zustandsbild dieser Kinder sei „ungemein beweglich und unterscheide zwar das hastige, unmotivierte eckige in den Bewegungen sie von den lebendigen Muskelbewegungen kräftiger und gesunder Kinder“ (vgl. Nissen 2005, S. 395).
Die Berliner Psychiater Franz Kramer und Hans Pollnow, nach denen später das Syndrom benannt wurde, beschrieben 1932 „ein wohl jedem bekanntes Symptombild“, das bei abnormen Kindern vorkomme und durch eine erstaunliche Bewegungsunruhe mit plötzlich auftretenden starken und zunehmenden motorischen Unruhezuständen gekennzeichnet sei (vgl. Heinemann/Hopf 2006, S. 9, Nissen 2005, S. 474f.).
Den in der alten psychiatrischen Literatur beschriebenen „Unruhezuständen der Kinder“ wird so gut wie immer ein organischer Defekt, meist als Folge von Krankheiten des zentralen Nervensystems als Ursache zugrunde gelegt.
In den vierziger Jahren wurde in den USA das „hyperkinetische Verhalten“ von postenzephalitischen Kindern beschrieben und erstmals die motorische Unruhe mit einer „minimalen Hirnschädigung“ in Verbindung gebracht. Strauss und Lethinen schufen 1947 das Konzept der „minimal brain damage“, nachdem hypostasierte, jedoch morphologisch nicht nachweisbare Hirnschädigungen als Ursache für motorische Unruhe und kindliche Neurosen vermutet wurden (vgl. Heinemann/Hopf 2006, S. 9).
Da der eindeutige Nachweis einer mit der Symptomatik korrelierenden Hirnschädigung nicht erbracht werden konnte, vollzog man 1966 einen Begriffswechsel: „damage“ bzw. Schädigung wurde in „dysfunction“ bzw. Dysfunktion umgewandelt. So entstanden die Begriffe der „minimal cerebral dysfunction“ bzw. der „minimalen cerebralen Dysfunktion“ oder kurz „MCD“. In diesem Zusammenhang kam auch die Bezeichnung des „psychoorganischen Syndroms“ (POS) auf (vgl. Mattner 2003, S. 41).
Der Begriff MCD wurde später meist synonym zum „hyperkinetischen Syndrom“ verwendet und beinhaltete die Annahme, dass eine nicht näher lokalisierbare und unterhalb einer klinischen Nachweisgrenze liegende cerebrale Beeinträchtigung im Sinne einer „organischen Irritation“ bzw. einer „Hirnfunktionsstörung“ vorliegt und diese Auswirkungen wie die Hyperkinese sowie andere Symptome im Verhaltens-, Leistungs- und Lernbereich zur Folge hat. Mit diesem „Verhaltenssyndrom“ umging man den Nachweis einer Hirnschädigung und konnte dennoch auf die organische Primärursache verweisen und damit am medizinischen Krankheitswert des „Syndroms“ festhalten (vgl. Mattner 2003, S. 41).
Trotz der fehlenden Beweise und der Unzulänglichkeit des MCD – Konzepts wurde bis in die 1980er Jahre auffälligem kindlichem Verhalten im motorischen, emotionalen, sozialen und schulischen Bereich zuallererst eine hirnorganische Ursache zugeordnet. Das MCD – Syndrom soll angeblich bei bis zu einem Fünftel aller Kinder vorgelegen haben und wurde von kinderpsychotherapeutischer Seite schon früh als „Mythos“ kritisiert. Doch auch hier fehlte der zwingende Beweis. Auf Seiten der Kritiker gelang es nicht, mittels logischer Argumentation „die Nichtexistenz von etwas Nichtexistierendem nachzuweisen“ (vgl. Amft 2004, S. 59).
Eine epidemiologische Untersuchung von Schmidt et al. (1984) brachte letztendlich Klarheit. Die Ergebnisse zeigten, dass ca. 75% der Kinder mit nachweislicher cerebraler Dysfunktion psychiatrisch unauffällig waren. Bei ca. 80% der psychiatrischen Auffälligkeiten konnte keine Hirnfunktionsstörung nachgewiesen werden. Damit ist das MCD – Konzept nicht widerlegt, aber die empirischen Befunde weisen auf die Seltenheit eines solchen Syndroms hin. Verschiedene Autoren (vgl. Nissen 2005, S. 445, Amft 2004, S. 60) gehen nach neueren Ergebnissen von einer Prävalenz einer Hirnfunktionsstörung (als Syndrom) von 1 – 2% aus.
Hirnschädigungen bzw. -funktionsstörungen sind als mögliche Ursache von kindlichen Verhaltensauffälligkeiten eindeutig nachweisbar, aber genauso lassen sich auch andere mögliche Ursachen für dieses Verhalten nachweisen (vgl. Amft 2004, S. 60).
Das bedeutet, dass aus der Symptomatik einer bestimmten Verhaltensauffälligkeit niemals eine bestimmte Ursache für diese Verhaltensauf-fälligkeit abgeleitet werden kann. (Amft 2004, S. 60)
Nissen (2005, S. 445) schreibt über das Ende der Diagnose MCD, dass die „unzulässig überdehnte, ubiquitäre Diagnose“ schließlich überfällig wurde, „weil sie mit Prävalenzraten von 10 – 30% in einem definitorischen Gegensatz zum Begriff Normalität geriet“.
Die Diagnose MCD wurde schließlich aus der Diagnosepraxis zurückgezogen. Allerdings lässt sich der Prozess der Überdehnung einer Diagnose sowie der monokausale (biologisch-medizinische) Erklärungsversuch heutzutage bei der Diagnose ADHS wiederum beobachten, wenn teilweise von Prävalenzraten von über 10% gesprochen wird (vgl. Heinemann/Hopf 2006, S. 10).
Das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom (AD(H)S) bzw. die Hyperkinetische Störung (HKS) mit den Kernmerkmalen der motorischen Unruhe (Hyperaktivität), Unaufmerksamkeit und Impulsivität wurde als Diagnose in den letzten Jahren in einem kaum zu fassenden und noch wachsenden Ausmaß immer mehr Kindern und Jugendlichen zugeschrieben. Mittlerweile gehört sie zu den häufigsten Diagnosen im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich. „Eine Generation wird krankgeschrieben“, so beschreibt DeGrandpre (2005) diese besorgniserregende Entwicklung.
Nicht zu übersehen ist diese Entwicklung auch anhand der zahlreichen Publikationen von Ratgebern, den dazugehörigen Berichten, Analysen und Reportagen in den Medien, die wiederum die Ratlosigkeit der Eltern, Erzieher und Lehrer angesichts dieses Phänomens widerspiegeln. Sucht man im Internet nach dem Begriff „ADHS“ bekommt man über 2 Millionen Seiten angezeigt, von denen allerdings nur ein geringer Teil der Kategorie „wissenschaftlich fundiert“ zugeordnet werden kann.
Die öffentliche Diskussion über die „Zappelphilippe“ und darüber, wie man ihnen am besten helfen kann, scheint sich immer stärker auszuweiten. Verzweifelte Eltern, Erzieher und Lehrer suchen Rat und Hilfe bei allen, die sich als problemlösende Experten anbieten. Dort können sie von einer Seite hören, das Kind hätte eine Störung im Gehirn und brauche deshalb ein Medikament. Andere behaupten, die Ursache sei eine falsche Ernährung oder eine Nahrungsmittelunverträglichkeit und empfehlen eine spezielle Diät. Weitere Meinungen sind wiederum, dass das Kind einfach nur falsch erzogen sei oder die aktuellen Lebensverhältnisse, unter denen ein Kind heutzutage aufwachse, seien schuld. In einem Punkt sind sich aber alle einig und zwar, dass es einen Grund dafür geben muss, warum es so viele Kinder gibt, die nicht oder nicht mehr still sitzen, sich auf eine Aufgabe konzentrieren oder ihre Impulse mit der entsprechenden Selbstbeherrschung kontrollieren können.
Allerdings scheint es in dieser Diskussion über die unterschiedlichen Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten keinen gemeinsamen Nenner oder Lösungsweg zu geben. Die Anhänger der verschiedenen Theorie scheinen sich unversöhnlich gegenüber zu stehen, so dass letztendlich die betroffenen Kinder, ihre Eltern und alle, denen diese Kinder am Herzen liegen, zwischen die Fronten geraten.
Ein Ausweg lässt sich wohl nur dann finden, wenn die einzelnen Parteien aufeinander zugehen und in einer sachlichen Argumentation ihre unterschiedlichen Auffassungen austauschen und dabei das Wohl der Kinder nicht aus den Augen verlieren.
Zu Beginn dieses Kapitels soll anhand eines Fallbeispiels dargestellt werden, wie sich das Verhaltensproblem, das sich scheinbar in Institutionen wie Kindergärten und Schulen besonders gravierend auszuwirken scheint, konkret zeigt.
Der 8-jährige Felix besucht die zweite Grundschulklasse und fragt sich, warum das ganze Leben so „blöd“ ist und ob es nicht viel besser wäre, niemals geboren worden zu sein. In der Familie sei alles nur „blöd“. Der jüngere Bruder werde mehr geliebt und dürfe alles, er dagegen nichts. Die Mama habe ihn eh nicht lieb und der Papa habe nie Zeit für ihn. Am liebsten ginge er auch nicht in die Schule, weil dort alle nur gegen ihn seien. Er werde ungerechterweise von den Lehrerinnen immer beschuldigt, an allem schuld zu sein. Und ständig werde er von anderen Kindern so provoziert, dass er nur noch wie wild um sich schlage. Er wisse gar nicht, was mit ihm los sei.
Die Lehrerinnen sehen Felix als Klassenkasper, der sich ständig in den Vordergrund spielen muss. Besonders montags sei er kaum zu bremsen und störe massiv den Unterricht durch Zwischenrufe und Umherlaufen. Auf Grund seiner niedrigen Frustrationsgrenze sei der Junge ständig in Streitereien und Schlägereien verwickelt. Seine Leistungen seien schwankend und tagesformabhängig. Sein Schriftbild müsste Felix dringend verbessern und er müsste mehr Ordnung halten. Erstaunlicherweise sei der Junge in der Zweiersituation wie verwandelt und sehr zugänglich. Die Lehrerinnen sind der Auffassung, dass die Eltern ihren Sohn nicht richtig erzögen. Felix müsse einfach lernen, motivierter und ehrgeiziger zu sein.
Vor allem die Mutter ist verzweifelt. Sie hat das Gefühl, dass ihr der ältere Sohn entgleitet und auf Grund der zahlreichen Klagen aus der Schule befürchtet sie ein massives Schulversagen. Von der Schule habe Felix eine sehr schlechte Meinung, alle Lehrerinnen seien „blöd“, „doof“ und ungerecht. Keine verstehe ihn. Oft müsse er Strafarbeiten erledigen, die seinen Hass auf die Schule noch verstärken. Zudem attackiere Felix ständig seinen kleinern Bruder. Seine Unruhe und Zerstreutheit habe er kaum unter Kontrolle und er fühle sich bereits bei der kleinsten Kritik grundsätzlich in Frage gestellt. Seine Essmanieren ließen sehr zu wünschen übrig, es falle immer etwas auf den Boden. Von ihrem Mann fühlt sich Felix´ Mutter nicht sehr verstanden und unterstützt. Er vertritt die Auffassung, dass Felix ein wilder Junge sei, der sich „die Hörner noch abstoße“. (www.schuleundgesundheit.hessen.de)
Nach einem Besuch bei einem Facharzt und psychologischer Testung sowie medizinischer Untersuchung wird die Diagnose ADHS mit ausgeprägter Hyperaktivität, Impulsivität und einer daraus resultierenden Aufmerksamkeitsstörung gestellt.
Steinhausen (2002, S. 92) gibt für ADHS folgende zentrale Merkmale an:
- Hyperaktivität: ziellose Aktivität, kann nicht still sitzen, ständig in Bewegung, Zappeligkeit, starker Rededrang
- Aufmerksamkeitsstörung: kurze Konzentration, wenig Ausdauer in Arbeit und Spiel, schneller Wechsel der Beschäftigung, leicht ablenkbar, hört nicht genügend zu
- Impulsivität: unvorhersehbares Verhalten, mangelnde Steuerung des Verhaltens im häuslichen und schulischen Bereich
- Erregbarkeit/Irritierbarkeit: unvorhersehbare Affektschwankungen, Wutanfälle aus relativ unbedeutendem
Anlass, empfindlich gegenüber Kritik, niedrige Frustrationstoleranz, Störanfälligkeit
- Emotionale Störungen: geringes Selbstwertgefühl, häufiges Weinen, Verleugnen von Schwierigkeiten
- Dissoziales Verhalten: Destruktivität, Unbeliebtheit, Streitigkeiten, Schlägereien, Necken, Disziplinschwierigkeiten in Haus und Schule, Lügen
- Lernstörungen: schlechte Leistungen in der Schule, isolierte Lernstörungen im Rechnen, Lesen und Schreiben
Die Diagnose ADHS zu stellen, ist nicht immer einfach, da sich die Definition dieses Syndroms in den letzten Jahrzehnten immer wieder verändert hat und die Symptome ein sehr breites Feld umfassen.
Neueste Kriterien findet man in den diagnostischen Standardklassifizierungssystemen DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual der American Psychiatric Association, 1994) und ICD-10 (International Classification of Diseases der WHO, 1990). Diese zwei Manuale werden heute zur Diagnose von psychischen Krankheiten herangezogen.
Um die Diagnose einer HKS (Hyperkinetischen Störung) nach ICD-10 bzw. des ADS/ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom) nach DSM-IV zu stellen, müssen verschiedene Verhaltensweisen/Kriterien aus den Bereichen Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität vorliegen (vgl. Tabelle 1, S. 93f.). Die Leitsymptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität müssen bei beiden Klassifikationssystemen in einem für den Entwicklungsstand des Betroffenen abnormen Ausmaß situationsübergreifend auftreten.
Im ICD-10 müssen diese drei Kriterien als gemeinsames Störungsbild auftreten, während im DSM-IV entweder die Symptome der Unaufmerksamkeit oder der Hyperaktivität/Impulsivität zur Diagnosestellung genügen. Wenn eine festgelegte Anzahl von Symptomen erfüllt ist, wird die Diagnose gestellt.
Nach der ICD-10 Klassifizierung, die in Europa bzw. Deutschland am häufigsten angewandt wird, müssen mindestens sechs der neun Symptome von Unaufmerksamkeit, mindestens drei der fünf Symptome von Hyperaktivität und mindestens eines der vier Symptome von Impulsivität situationsübergreifend vorliegen, zudem eine erkennbare Beeinträchtigung der sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsfähigkeit. Dabei wird eine „einfache Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung“ (F 90.0) von einer „Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens“ (F 90.1) unterschieden, wobei zusätzliche Kriterien für eine Störung des Sozialverhaltens erfüllt sein müssen (vgl. Knölker 2001, S. 12).
Die DSM-IV Klassifizierung sieht eine etwas breitere Definition vor und legt fest, dass mindestens sechs der neun diagnostischen Kriterien für Unaufmerksamkeit und/oder mindestens sechs der neun Kriterien für Hyperaktivität und Impulsivität vorliegen müssen. Dabei wird eine Definition sogenannter Subtypen je nach dominierender Symptomatik ermöglicht. DSM-IV unterscheidet einen „vorwiegend unaufmerksamen Typ“ (314.0), einen „vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Typ“ (314.1) und einen „Mischtyp“ (314.2) (vgl. Knölker 2001, S. 14f.).
Diagnostische Leitlinien, die nach beiden Diagnosesystemen weitgehend übereinstimmend vorliegen müssen, sind:
- Die Symptome treten mindestens sechs Monate in einem, mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht vereinbaren, unangemessenem Ausmaß auf.
- Einige Symptome treten bereits vor dem 7. Lebensjahr auf.
- Die Beeinträchtigungen liegen in zwei oder mehr Lebensbereichen (Familie, Schule, Kindergarten, usw.) vor.
- Die Symptome verursachen deutliches Leiden oder Beeinträchtigungen der sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsfähigkeit.
- Eine tiefgreifende Entwicklungsstörung und andere zugrunde liegenden möglichen Störungsbilder (siehe Kap. 2.2.3) müssen ausgeschlossen werden.
Obwohl beide Klassifikationssystem voraussetzen, dass die hyperkinetischen Symptome in mehreren Lebensbereichen auftreten, können die Auffälligkeiten in den verschiedenen Bereichen unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Typischerweise treten die Symptome stärker in solchen Situationen auf, in denen den Kindern und Jugendlichen eine längere Aufmerksamkeitsspanne abverlangt wird, beispielsweise im Unterricht, bei den Hausaufgaben oder beim Essen. Symptome können in sehr geringem Maße oder gar nicht auftreten, wenn sich das Kind in einer neuen Umgebung befindet, wenn es nur mit einem Gegenüber konfrontiert ist oder mit seiner Lieblingsaktivität beschäftigt ist, selbst wenn diese in vermehrtem Maße Aufmerksamkeit „erfordert“ (z.B. beim Computerspielen oder Fernsehschauen).
Gemäß der Leitlinien zur Diagnostik von psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter ist der Kern der spezifischen Diagnostik von hyperkinetischen Störungen die Exploration der Eltern, des Kindes/Jugendlichen und der Erzieher/Lehrer. Dazu sollte auch eine Verhaltensbeobachtung des Kindes/Jugendlichen während der Exploration und während anderen Untersuchungen gehören. Ohne diese Informationen ist die Diagnose einer hyperkinetischen Störung nicht möglich. Weitere diagnostische Maßnahmen sind optional, wie z.B. standardisierte Fragebögen, die eine Exploration ergänzen oder erleichtern können. Auch testpsychologische Untersuchungen der Intelligenz oder des Entwicklungsstandes, der schulischen Leistungsfähigkeit oder der Aufmerksamkeitsleistung können indiziert sein. In den deutschen Leitlinien zur Diagnostik wird zudem darauf hingewiesen, dass eine körperliche und neurologische Untersuchung sowie eine Anamnese der körperlichen Erkrankungen durchgeführt werden sollte (vgl. Döpfner et al. 2000, S. 38).
Eine systematische allgemeine Diagnostik psychischer Störungen sowie eine ergänzende Diagnostik anderer spezifischer Auffälligkeiten ist bei Kindern und Jugendlichen mit Hinweisen auf ADHS meist deshalb notwendig, weil einerseits eine differenzialdiagnostische Abgrenzung zu anderen psychischen Störungen indiziert ist und andererseits die Mehrzahl der Kinder mit gesichertem ADHS zusätzlich komorbide Störungen, vor allem oppositionell-aggressive Störungen des Sozialverhaltens, depressive Störungen, Angststörungen, Entwicklungs- und Lernstörungen, emotionale Störungen sowie Tic-Störungen aufweist3.
Insbesondere sind folgende Differenzialdiagnosen zu beachten (vgl. Döpfner et al. 2000, S. 11ff):
- Altersgemäße Verhaltensweisen bei aktiven Kindern: Vor allem bei jüngeren Kindern sind die Grenzen zwischen einem noch altersgemäßen Bewegungsdrang und hyperaktivem Verhalten oder leichten Konzentrationsproblemen und Aufmerksamkeitsstörungen oft nur schwer zu ziehen.
- Durch Medikamente oder durch neurologische Störungen bedingte ADHS-Symptomatik: ADHS-Symptome können durch Medikamente (z. B. Antikonvulsiva) oder auch durch eindeutige neurologische Erkrankungen (z. B. Schädel-Hirn-Trauma) ausgelöst werden.
- ADHS-Symptome bei Intelligenzminderung: Vor allem Symptome der Aufmerksamkeitsschwäche, aber auch erhöhte Unruhe und Impulsivität treten bei Kindern mit Intelligenzminderung auf. Dennoch kann auch bei lernbehinderten Kindern ein ADHS diagnostiziert werden. Die Symptome müssen in diesen Fällen jedoch deutlich stärker ausgeprägt sein als bei Kindern gleicher Intelligenz.
- ADHS-Symptome bei schulischer Überforderung: Kinder, die schulisch überfordert sind, können im Unterricht als leicht ablenkbar, konzentrationsschwach und unruhig auftreten. Daher ist eine Intelligenzdiagnostik bei hyperkinetisch wirkenden Kindern mit Schulleistungsschwäche unabdingbar. Schulleistungsschwächen können auch als komorbide Störungen auftreten.
- ADHS-Symptome bei schulischer Unterforderung: Bei weit überdurchschnittlich begabten Schülern, die schulisch unterfordert sind, können auch Symptome eines ADHS auftreten. Bei Steigerung der schulischen Anforderungen verschwinden die Symptome jedoch rasch.
- ADHS-Symptome als Folge chaotischer psychosozialer Bedingungen: In extrem desorganisierten Familien können Kinder hyperkinetische Symptome entwickeln, die sich jedoch nicht zeigen, wenn sie sich in strukturierter Umgebung aufhalten.
- Oppositionelle Verhaltensweisen: Kinder mit oppositionellen Verhaltensauffälligkeiten können gegen Arbeiten oder schulische Aufgaben, die Anstrengung und Aufmerksamkeit verlangen, Widerstand leisten, da sie nicht gewillt sind sich den Forderungen anderer anzupassen. Häufig treten diese Verhaltensweisen auch als komorbide Störungen bei Kindern mit hyperkinetischen Störungen auf.
- Psychomotorische Erregung und Konzentrationsstörungen bei affektiven Störungen und Angststörungen: Diese Symptome lassen sich manchmal nur schwer von der Hyperaktivität und den Aufmerksamkeitsstörungen einer hyperkinetischen Störung unterscheiden. Ein Unterscheidungsmerkmal kann der Verlauf sein: Im Gegensatz zum kontinuierlichen Verlauf des ADHS mit Beginn im Vorschulalter, treten affektive Störungen und Angststörungen meist später auf und verlaufen üblicherweise weniger kontinuierlich. Bei Angststörungen treten die Symptome in der Regel ausschließlich in den beängstigenden Situationen (z. B. Klassenarbeiten) auf.
- Autismus, Schizophrenie und Manie: Bei autistischen Störungen sind im Kindesalter häufig auch hyperkinetische Symptome zu beobachten. Schizophrene Störungen und Manie treten fast ausschließlich im Jugendalter auf und gehen häufig auch mit Symptomen von Unruhe sowie Impulsivität und Aufmerksamkeitsstörungen einher.
[...]
1 Zur Definition der Menschenbilder vgl. Seewald 1998
2 Homburger beschreibt in seinem Buch in 49 Kapiteln ausführlich und unverändert aktuell, die damals wie heute häufigsten psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters sowie besonders eindrucksvoll und ausführlich die Entwicklung der kindlichen Motorik und ihre Störungen (vgl. Nissen 2005, S. 395).
3 Die Komorbidität wird in der Literatur auf Werte von 30-90% geschätzt, d. h. mehrere psychische Störungen treten gemeinsam auf.