Die Ergebnisse der neutestamentlichen Exegese werden im Leben und der Verkündigung der Kirchen immer noch weitgehend ignoriert. Vor allem in der katholischen Theologie ist dies eine Folge des ungeklärten Verhältnisses zwischen der durch die Jahrhunderte gewachsenen Lehrverkündigung und der einfachen und konkreten Predigt Jesu. Dabei wird übersehen, dass das Ringen um den Impuls, den Jesus mit seiner Botschaft vom Reich Gottes gesetzt hat, die neutestamentliche Schriften und die gesamte Kirchengeschichte durchdringt und – wenn auch oft "im Untergrund" – immer wieder zu Widerstand und Neu-Aufbrüchen motiviert hat. Gerade für die gegenwärtige Glaubenskrise ist es unverzichtbar, kirchliche Traditionen und Strukturen einer "Generalrevision" zu unterziehen und sich ohne Einschränkungen an der bedingungslosen Humanität der Botschaft Jesu zu orientieren.
Autor
Armin Schmidt studierte Katholische Theologie an der Universität Bamberg und der Theologischen Hochschule der Pallottiner in Vallendar. Mit der neutestamentlichen Exegese beschäftigte er sich bei Paul Hoffmann, dessen Forschungsschwerpunkt die Logienquelle Q bildet, und Alfons Weiser, der mit seiner wissenschaftlichen Arbeit immer den Anspruch verbunden hat, die Ergebnisse der Exegese für den reflektierten Glauben und das Leben der Gemeinde nutzbar zu machen. In seiner Diplomarbeit - im Fach Fundamentaltheologie bei Ignacio Escribano-Alberca - beschäftigte er sich unter dem Titel „Außerhalb der Kirche kein Heil?“ mit der Frage des interreligösen Dialogs.
Einleitung:
Die Reich-Gottes-Botschaft Jesu
Jesus wollte keine Religion stiften. Er hat sich nicht selbst verkündet, sondern er hat sich entschieden und mit aller Konsequenz für einen Gott eingesetzt, der keine Priester und keinen Opferkult braucht, der vielmehr bedingungslos auf der Seite der Menschen steht und sich mitten im Leben entdecken lässt. Diese Botschaft wird nach seinem Tod immer stärker vom Bekenntnis zu Jesus als dem Christus überlagert: Der Prediger wird selbst zum Gegenstand der Predigt. Sein Leben und seine Botschaft bekommen ihre Bedeutung jetzt aus der Rückschau zugeschrieben: Weil er der Sohn Gottes ist, werden seine Worte überliefert - und in den Zusammenhang unterschiedlicher christologischer Vorstellungen gebracht.
Für das Grundthema des historischen Jesus ergibt sich daraus eine widersprüchliche Wirkung: Zum einen wird die Botschaft Jesu damit in das Gottesbild integriert, so dass von Gott folgerichtig nicht mehr gesprochen werden kann, ohne das Leben Jesu und seine Verkündigung einzubeziehen. Zum anderen aber wird der Kern seiner Botschaft dem Bekenntnis zur Gottheit Jesu und den Aussagen zu Sühnetod, Einsetzung in Macht und Wiederkunft in Herrlichkeit untergeordnet. Gott erscheint dadurch wieder als Richter, als Adressat von Opferkult und Askese - und damit auch als überirdische Ordnungsinstanz, mit der sich Machtstrukturen und sogar die Ausübung von Gewalt rechtfertigen lassen.
Mit der Bezeichnung „Reich Gottes“ (= basileia tou theou) hat Jesus seine persönliche Gotteserfahrung zusammengefasst. Die Basileia ist der Kern- und Schlüsselbegriff seiner Predigt. Er erzählt von einem Gott, der kein „unbewegliches Gegenüber“ ist, sondern ein Gott der liebevoll begleitet, ermutigt und ermöglicht, tröstet und ermahnt. Dieser Gott muss nicht rituell und ängstlich als „höchste Herrschaft“ (=Adonai) umschrieben werden, sondern er lässt sich die vertrauliche Anrede „Abba“ (= du lieber Vater) gefallen.
Jede formelhafte und abstrakte Rede von Gott steht in der Gefahr, ihn zu missbrauchen und zu verfehlen. Beglaubigt wird der Gott, den Jesus verkündet hat, durch befreiende und Mut machende Begegnungen. Und so setzt Jesus auch auf die Dynamik, die dann entsteht, wenn sich Menschen aufeinander und auf die Wirklichkeit Gottes einlassen.
In dieser Arbeit soll auf der Grundlage der neutestamentlichen Exegese die Basileia als Bezugspunkt und Korrektiv für den Gauben, die Theologie und das durch sie begründete Handeln wiedergewonnen werden. Dabei wird u.a. deutlich, dass der „jesuanische Impuls“ nicht notwendig auf die Gründung einer Kirche hinausläuft, dass vielmehr sehr unterschiedliche Formen und Akzente hierfür möglich sind - und dass Kirchen sich nur dann auf Jesus berufen können, wenn sie vor seiner Botschaft der bedingungslosen Liebe Gottes und einer daraus resultierenden uneingeschränkten Humanität bestehen können.
Um dies zu begründen, werden exemplarisch die Ergebnisse einer historischkritischen Betrachtung der Evangelien skizziert (Absatz 1) und diese dann auf die Interpretation einiger Stellen aus dem Matthäus-Evangelium bezogen (Absatz 2). Auf dieser Grundlage kann dann die Botschaft des „historischen Jesus“ dargestellt werden (Absatz 3) . Unter der Überschrift „Die Botschaft Jesu und die Kirche“ wird das Verhältnis der Botschaft Jesu zu kirchlichen Strukturen (Absatz 4) und zur traditionellen Theologie (Absatz 5) thematisiert. „Ansätze einer Theologie der Basileia“ sollen die traditionelle Glaubenslehre darauf hin befragt werden, wie sie sich zur Basileia-Verkündigung des historischen Jesus verhält (Absatz 6) . Die notwendigen Akzentverschiebungen bieten damit zugleich Anregungen dafür, theologische Fragestellungen neu von der Basileia her zu denken und weiterzuentwickeln. Wie sich die Orientierung an der Reich-Gottes-Botschaft als Lebens- und Glaubenshaltung umsetzen lässt, wird unter der Überschrift „Spiritualität der Basileia“ (Absatz 7) skizziert.
1. Gottes Wort im Menschenwort
Beim Versuch, Jesus als geschichtliche Person in den Blick zu bekommen, war die „Leben Jesu Forschung“ Mitte des 19. Jahrhunderts an ihre Grenzen gestoßen. Man musste einsehen, dass die Texte der Evangelien nicht einheitlich sind, dass sie unterschiedliche Traditionsstufen, verschiedene literarische Gattungen und zahlreiche Spuren von Überarbeitungen aufweisen. Und es wurde deutlich, dass die Evangelien zwar geschichtliche Fakten voraussetzen, dass es darin aber nicht um die Wiedergabe historischer Tatsachen geht, sondern um Glaubensaussagen und Verkündigung. Das Bemühen, die Evangelien als Texte von ganz eigenem Charakter zu begreifen und ihren historischen Hintergrund und die Bedingungen ihrer Entstehung zu verstehen, führte zur Herausbildung der „historisch-kritischen Methode“.
Das bedeutet: Was Jesus wirklich wollte und was er tatsächlich verkündet hat, muss in den Schriften des Neuen Testamtes erst entdeckt, rekonstruiert oder hergeleitet werden. Es gibt zwar Jesus-Worte, die als authentisch gelten. Aber sehr oft haben die Verfasser der ersten Sammlungen - und vor allem die Redakteure der Evangelien - vorgefundene Quellen bearbeitet, ergänzt und den eigenen theologischen Zielsetzungen angepasst.
Neben zahlreichen Ergebnissen der „Literarkritik“, die sich auf Textfassungen „kleiner Einheiten“ vor der Aufnahme in die Evangelien beziehen, hat die Entdeckung der „Zwei-Quellen-Theorie“ und die damit verbundene 8 Erschließung der frühen Spruchsammlung (Logienquelle Q) wissenschaftliche und theologische Bedeutung. Durch diese Erkenntnisse war es möglich, unterschiedliche Stufen der neutestamentlichen Überlieferung zu unterscheiden und die Kriterien für die Rückfrage nach dem historischen Jesus zu definieren.
Die „Zwei-Quellen-Theorie“
Ein Vergleich der ersten drei Evangelien zeigt ein sehr widersprüchliches Bild. Es gibt viele erstaunliche Übereinstimmungen: So beginnt bei allen drei Evangelien die Verkündigung Jesu nach der Gefangennahme des Täufers, er wirkt vor allem in Galiläa und macht sich dann auf den Weg nach Jerusalem, um dort sein Wirken zu beenden. Das Messias-Bekenntnis des Petrus bildet in allen drei Evangelien eine wichtige Zäsur. Manche Episoden sind in allen drei Evangelien fast wörtlich gleich erzählt. Redeabschnitte Jesu sind bei Matthäus fast buchstäblich und bis zu sprachlichen Auffälligkeiten wie im LukasEvangelium wiedergegeben - und dies, obwohl Jesus aramäisch gesprochen hat.
Daneben gibt es aber auch große Verschiedenheiten: Gemeinsame Stücke sind im Hinblick auf die zeitliche Einordnung und die Abfolge des Erzählens unterschiedlich angeordnet - so steht die Ablehnung Jesu in Nazareth bei Lukas am Anfang des Wirkens Jesu, bei Markus und Matthäus in der Mitte. Sprachliche Verschiedenheiten in gleichen Zusammenhängen reichen von einfachen Variationen bis zu Gegensätzen, die sich ausschließen.
Die Erscheinungen des Auferstandenen vollziehen sich bei Lukas in und bei Jerusalem, bei Matthäus in Galiläa. Als Wohnort der Eltern Jesu nennt Lukas Nazareth, Matthäus Bethlehem. Die Aufzählung der Vorfahren Jesu bei Matthäus stimmt nicht mit der bei Lukas überein.
Zur Erklärung der auffälligen Übereinstimmungen und gravierenden Unterschiede wurde schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts die „ZweiQuellen-Theorie“ formuliert. Sie geht davon aus, dass Matthäus und Lukas das Markus-Evangelium als Vorlage zur Verfügung stand. Dies erklärt die zahlreichen Übereinstimmungen aller drei Evangelien und lässt zugleich die redaktionellen Absichten der Evangelisten erkennen, wenn z.B. Matthäus die Vorlage aus Markus unverändert übernimmt, Lukas sie aber nur stark bearbeitet in sein Evangelium einfügt. Die Textteile, die Matthäus und Lukas gemeinsam haben, die bei Markus aber fehlen, werden - da sie vor allem Redeteile und Spruchbildungen enthalten - als „Logienquelle Q“ bezeichnet. Ihre geschichtliche Situation lässt sich als die beiden Jahrzehnte vor dem jüdischen Krieg (66 n. Chr.) bestimmen, ihre Theologie versucht, aus dem Glauben an die Wiederkunft des „Menschensohnes“ Wegweisung und Trost für diese krisenhafte Zeit zu gewinnen.
Theologie und Situation in der Logienquelle
Die Logienquelle Q interpretiert die Botschaft Jesu für eine konkrete geschichtliche Situation und kommt dabei zu einem eigenen theologischen Entwurf: In der Zeit vor dem jüdischen Krieg (40 bis 66 n.Christus) ist die Gesellschaft in Palästina geprägt von Verarmung und Unterdrückung. Der Bewegung, die zum Aufstand gegen die römische Besatzung aufruft, stehen die gegenüber, die sich mit den Römern - auch aus eigenem Interesse - weiterhin arrangieren wollen.
Die Q-Gruppe (als frühe „Jesus-Gemeinde“) befindet sich zwischen den beiden Lagern: Sie geht davon aus, dass das Ende der Welt unmittelbar bevorsteht und Jesus im bevorstehenden Weltgericht als „der Menschensohn“ über Heil oder Verdammnis entscheiden wird. In der Konzeption von Q kündet Johannes der Täufer daher nicht den irdischen Jesus an, sondern Jesus als den kommenden „Menschensohn“, der als „Feuertäufer“ das Gericht vollziehen wird ... Die aufgeheizte Krisensituation, die schließlich auf den „jüdischen Krieg“ zulaufen wird, führt also dazu, dass sich die Vorstellung entwickelt: Gott schafft - durch Jesus als den Menschensohn - ein für alle Mal Ordnung, übt Vergeltung und gewährt den Getreuen Schutz.
Für die Träger der Q-Überlieferung ist „jetzt“ die Zeit der Entscheidung. Ihr Einsatz für den Frieden ist für die Adressaten die letzte Gelegenheit, sich zu „bekehren“, der Gewalt abzuschwören, sich Gott zu überlassen und sich zum „Menschensohn“ zu bekennen, der Gewalt abzuschwören und sich solidarisch und selbstlos zu begegnen. Wer die Predigt der Q-Gruppe nicht annimmt, wird vor dem Gericht des Menschensohnes nicht bestehen (vgl. z.B. die „Aussendungsrede“ Lk 10, 1-12 par).
Im Vergleich zum historischen Jesus findet schon hier eine Akzentverschiebung statt. Der Botschaft Jesu entspricht aber der unbedingte Friedenswille, das klare Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit, die Aufforderung zur uneingeschränkten Solidarität und das Festhalten daran, dass die Wirklichkeit Gottes, weil sie alles Irdische übersteigt, auch gegen jeden Augenschein als Zusage gültig bleibt.
Die Rückfrage nach dem „historischen Jesus“
Die ersten drei Evangelien wurden ungefähr 40 Jahre nach dem Tod Jesu in die heute vorliegende Form gebracht. Die Arbeit der Evangelisten lässt sich dabei mit der Tätigkeit von Redakteuren vergleichen. Vorgefunden haben sie Traditionen von unterschiedlichem Alter und vielfältiger Herkunft. Die Evangelisten haben als „End-Redakteure“ das Überlieferungsgut gesammelt, geordnet, interpretiert, bearbeitet und in einen Zusammenhang gebracht, der das je eigene theologische Konzept widerspiegelt. Textabschnitte werden dabei - je nach der Aussageabsicht - auch erweitert, umgeformt oder neu gebildet. Die Hoheitstitel, die Jesus zugeschrieben werden - wie etwa „der Christus“ bzw. „der Messias“, der „Sohn Gottes“, der „erhöhte Herr“ oder „der Menschensohn“ - zeigen deutlich, dass für die Traditionsstufe der Evangelien, aber auch schon für die früheren Textsammlungen, Jesus immer schon als der erhöhte Herr gesehen wird. Dieser Glaube soll bewahrt, auf die aktuelle Situation der Adressaten übertragen und verbreitet werden. Um trotz dieser vielstimmigen Ausgangslage möglichst nah an Jesus als historische Person heranzukommen, haben sich in der neutestamentlichen Exegese diese Kriterien herausgebildet:
- Als historisch kann vermutet werden, wenn die überlieferten Fakten und Worte für die spätere Gemeinde anstößig oder bei der Mission hinderlich waren.
- Bei den Texten, die der Verkündigung dienen, können jene Fakten als historisch vermutet werden, die als unbedingte Voraussetzung dafür gelten können, dass überhaupt erzählt werden kann.
- Das in den Texten oder im Wort Jesu vorausgesetzte Milieu muss dem historisch fassbaren Milieu der Zeit Jesu entsprechen.
- Als historisch kann das angesehen werden, was weder aus dem Judentum abgeleitet noch der urchristlichen Gemeinde zugeschrieben werden kann, speziell dann, wenn die frühe judenchristliche Gemeinde die Tradition abgemildert oder uminterpretiert hat.
- Ein Hinweis auf Historizität ist es, wenn ähnliche Überlieferungen in unterschiedlichen Traditionssträngen zu finden sind.
- Als Einzelkriterien können sprachliche Eigenheiten wie etwa das Sprechen in Gleichnissen, die Amen-Einleitung, die Abba-Anrede, die Verwendung von Paradoxien oder das Stilmittel der Seligpreisungen gelten.
- Nicht zuletzt gilt aber die „präsentische Eschatologie“, die Jesus mit dem Schlüsselbegriff des Reich Gottes verbindet, als Kriterium für die historische Botschaft Jesu.
2. Exegetische Beobachtungen am Matthäus-Evangelium
Die wissenschaftliche Betrachtung der Evangelien - hier vor allem die „Redaktionskritik“ - hat dazu geführt, dass die Evangelisten als „Schriftsteller“ mit eigenen Akzenten und theologischen Absichten deutlich wurden: Sie haben vorgefundene Texte und frühe Sammlungen nicht nur neu geordnet und in einen fortlaufenden Zusammenhang gebracht, sondern ihre Quellen auch bearbeitet, angepasst, abgeändert und teilweise durch eigenständige Bildungen erweitert. Im Hinblick auf seine aus dem Judentum kommende Gemeinde ist es Matthäus vor allem wichtig, Jesus als den Messias darzustellen, mit dem die „messianische Heilszeit“ beginnt, der das „Gesetz und die Propheten“ nicht nur erfüllt, sondern überbietet, und der das „Heil“ zunächst dem Volk Israel bringt, das dann auch den „Heiden“ den Weg zum Heil ermöglicht. - An einigen Beispielen soll die „Redaktionstätigkeit“ des Matthäus dargestellt und mit der Botschaft des historischen Jesus verglichen werden.
Matthäus und das „Himmelreich“ (Mt 3,2)
Im Unterschied zu den anderen Evangelisten verwendet Matthäus fast durchgehend den Begriff „Reich der Himmel“, wenn es um die Botschaft Jesu vom „Reich Gottes“ gehen soll.
Die naheliegende Erklärung, dass er mit dieser Umschreibung die Nennung des Gottesnamens vermeidet, überzeugt aber nicht (zumal die Bezeichnung „Reich Gottes“ dann doch an zwei Stellen zu finden ist).
Wichtiger ist aber die Beobachtung, dass im theologischen Konzept des Matthäus die Polarität von „Erde und Himmel“, die durch Christus neu verbunden sind, eine zentrale Bedeutung erhält.
Dabei ist bei Matthäus hier vor allem an „Herrschaftsbereiche“ gedacht, die durchaus auch räumlich zu verstehen sind. Er schildert Jesus als den „Messias des Vaters im Himmel“ - und als solcher öffnet - oder verschließt - er für die Menschen das „Himmelreich“. In die Gerichtspredigt des Täufers fügt Matthäus die Ankündigung des „Himmelreiches“ ein (Mt 3,2) und stellt in der Folge Jesus als den dar, der die Verkündigung des Täufers aufgreift. Die Drohpredigt des Johannes wird damit nicht aufgehoben, sondern in zentralen Punkten fortgeführt. Bei Matthäus fordert Jesus dazu auf, sich mit aller Kraft darum zu bemühen, in das Himmelreich eingelassen zu werden. Denn immer besteht die Gefahr, den Zugang verwehrt zu bekommen und in die Finsternis geworfen zu werden, wo „Heulen und Zähneknirschen“ sind. Gleich sechsmal verwendet Matthäus diese Warnung (vgl. Mt 13,42 u.a.). Und weil Jesus den Aposteln schon auf Erden Anteil an seiner Vollmacht gegeben hat, ist ihnen nach Jesu Tod die Verfügungsgewalt über Heil und Unheil übertragen.
Die ursprüngliche Botschaft Jesu vom Reich Gottes als dem „Augenblick der Gottesnähe“, der schon jetzt das Leben verändert und das Heil nahe bringt, ist in dieser Konzeption nicht wiederzuerkennen.
Die Stärke der Gewaltlosen (Mt 5,1ff)
Die klaren Ansagen Jesu - wie sie in der Logienquelle zu erschließen sind - werden in der Fassung bei Matthäus (Mt 5,1ff) ins Fromme und Unkonkrete verkehrt: Nicht die Armen, sondern „die Armen vor Gott“, nicht die Hungernden, sondern „die Hungernden nach der Gerechtigkeit“ etc. werden „selig“ genannt. Bei Lukas ist der Wortlaut ursprünglicher erhalten: „Selig ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes. Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen. Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet satt werden“ (vgl. Lk 6,20ff).Wenn Jesus sich als der Bote versteht, der die „Endzeit“ nicht nur verkündet, sondern durch sein Wirken herbeiführt (vgl. Jes 61,1f); wenn das angesagte Reich Gottes „schon jetzt“ die Regeln verändert, dann ist die bedingungslose Zuwendung Gottes zu den Armen, Weinenden und Hungernden nicht Vertröstung, sondern Proklamation: Gott macht sich das Schicksal der Leidenden zu eigen. Zu Gott findet, wer den Hunger der Hungernden stillt, die Tränen trocknet und die Nähe Gottes in die Armut trägt ...Jesus verkündet die „Umwertung aller Werte“ durch die Macht der Anteilnahme und Solidarität.
Die Frage nach dem Fasten (Mt 6,16-19)
Jesus hat sich von der Gerichtsbotschaft des Täufers und der Aufforderung zu strenger Askese abgewandt. Seine Botschaft vom Reich Gottes versteht die Gegenwart als eine Zeit, die von der Nähe Gottes erfüllt ist: Die Gastmähler Jesu sind Zeichen dafür, dass Gott jetzt dazu einlädt, seine bedingungslose Zuwendung zu feiern - unabhängig von religiösen Leistungen und moralischen Vorbedingungen.
Die Überlieferung in Q verschweigt nicht, dass Jesus deswegen der Vorwurf trifft, er sei ein „Fresser und Weinsäufer“ (vgl. Mt 11,19 par) und hält daran fest, dass zur Botschaft Jesu nicht Furcht, Schrecken und Askese, sondern hochzeitlicher Jubel gehört.
Allerdings ist dieser Jubel nach dem Tod Jesu und trotz der Ostererfahrung nicht durchzuhalten. Die geschichtliche Situation ist von gesellschaftlicher Zerrissenheit, religiösen Anfeindungen, drohenden kriegerischen Auseinandersetzungen und der Erwartung des Weltendes geprägt. In dieser Lage wird offensichtlich das Fasten auch für die junge Gemeinde wieder aktuell.
Und so dient es wohl nicht nur der Verteidigung gegen die Johannes-Jünger, sondern auch der Rechtfertigung der Gemeindepraxis, wenn Jesus die Worte zugeschrieben werden: „Es werden Tage kommen, da wird ihnen der Bräutigam genommen sein, dann werden sie fasten“ (vgl. Mt 9,15 par).
Findet sich dieses „Jesus-Wort“ sinngemäß bei allen drei synoptischen Evangelien, so ist es doch Matthäus, bei dem das Fasten neben anderen Frömmigkeitsübungen bereits fest etabliert ist: „Lohn“ für das Fasten hat nur der zu erwarten, der sich die Überwindung nicht anmerken lässt, die es kostet, sondern dem es genügt, dass Gott seine Bemühungen sieht (vgl. Mt 6,16-19).
Die Rückkehr zur asketischen Haltung des Fastens hat den christlichen Glauben schließlich in seiner Geschichte nachhaltiger geprägt als die Gastmähler Jesu, die schon seinen Gegnern so verdächtig waren.
Tradition und Machtanspruch (Mt 16,19)
Wohl kaum eine Stelle im Matthäus-Evangelium hat für die Entwicklung der christlichen Religion eine so fatale Rolle gespielt, wie der Spruch vom „Binden und Lösen“ in Verbindung mit der „Einsetzung des Petrus-Amtes“:
Wollte Matthäus damit ursprünglich - wenn auch massiv - den jüdischen Autoritäten ein „christliches“ Gegengewicht entgegensetzen, so begründet dieser Spruch doch die verhängnisvolle Verknüpfung der christlichen Botschaft mit einem absoluten Machtanspruch - nicht nur in dieser Welt, sondern bis in alle Ewigkeit. Die Drohung mit der „ewigen Verdammnis“, die Überheblichkeit von Instanzen, die über „Gott“ nach Gutdünken verfügen, und die durch Jahrhunderte geschürte Angst vor dem Gericht Gottes - man kann die Botschaft des historischen Jesus nicht drastischer in ihr absolutes Gegenteil verkehren!
3. Botschaft und Wirken des „historischen Jesus“ „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“ (Lk 10,18)
Über die Grundaussagen einer historisch-kritischen Betrachtung der Evangelien herrscht bei den Exegeten weitgehend Einigkeit. Soll aber die ursprüngliche Botschaft des Jesus von Nazareth beschrieben werden, gehen - wenn überhaupt der Versuch unternommen wird - die Meinungen auseinander. Konsens besteht allenfalls darin, dass dem „Reich Gottes“ als Schlüsselbegriff dabei die entscheidende Rolle zukommt. Hier wird der historisch-kritische Befund in Grundzügen skizziert und am Beispiel der Gleichnisse danach gefragt, welche Rückschlüsse sich daraus auf den besonderen Charakter der Reich-Gottes-Botschaft Jesu ergeben.
Ergebnisse der historisch-kritischen Exegese
Die Texte der Evangelien bieten starke Indizien dafür, dass Jesus ursprünglich im Umkreis des Täufers zu finden war. Er hat sich von Johannes taufen lassen und sich so zu seiner Botschaft bekannt. Die Kernaussagen des Täufers waren: Gottes Zorn ist nicht mehr aufzuhalten, sein Gericht steht unmittelbar bevor; durch den, der „mit Feuer tauft“, wird Gott Ordnung schaffen, ohne Rücksicht auf religiöse Gewissheiten und Verdienste; es bleibt nur, sich durch Selbstaufgabe und strenge Askese dem Gericht zu unterwerfen, um vielleicht doch noch - völlig unverdient - Gnade zu finden.
Die Botschaft, mit der Jesus dann sein Wirken beginnt, könnte dazu nicht gegensätzlicher sein. Auch er hält daran fest, dass jetzt die Zeit der Entscheidung ist; und auch nach seiner Überzeugung stehen radikale Veränderungen an. Aber er begründet dies nicht mit dem Zorn Gottes, sondern damit, dass Gott das Heil für die Menschen will und dass jetzt die Zeit gekommen ist, in der Gott seinen Heilswillen durchsetzen wird.
Als Auslöser für diese geänderte Position liefert wohl die Vision Jesu vom „Himmelssturz des Satans“(Lk 10, 18) eine Erklärung: Der Satan fällt wie ein Blitz vom Himmel, seine Macht ist in der Sphäre des Himmels bereits gebrochen. Dort hat Gott bereits gesiegt. Auf der Erde wird Gott jetzt sein Reich errichten und den Sieg über den Satan vollenden.
Wenn Jesus später „mit dem Finger Gottes“ Dämonen austreibt (vgl. Lk 11,18), dann ist das für ihn der Beleg dafür, dass der Satan im Grunde schon besiegt ist und „ein Stärkerer“ ihm „alle seine Waffen“ wegnimmt und „die Beute verteilt“ (vgl. Lk 11,22).
Für die synoptischen Evangelien schließt die Programmatik des Wirkens Jesu direkt an die Botschaft des (Deutero-) Jesaja an: „Wie willkommen sind auf den Bergen die Schritte des Freudenboten, der Frieden ankündigt, der eine frohe Botschaft bringt und Rettung verheißt, der zu Zion sagt: Dein Gott ist König“ (Jes 52,7). So ist naheliegend, dass sich Jesus selbst in dieser Tradition als der „endzeitliche Bote“ verstanden hat, dessen Auftreten die Königsherrschaft Gottes anzeigt und herbeiführt.
Der Anbruch der „Königsherrschaft Gottes“ ist die Zusage unverdienter Gnade. Gleichzeitig stellt sie alle bisher geltenden Regeln auf den Kopf. Sie ist eine ständige Provokation - vor allem für die Frommen, Gerechten und Gesetzestreuen. Die wütende Ablehnung, die Jesus gerade bei der religiösen und gesellschaftlichen Elite seiner Zeit damit hervorruft, wird zusätzlich dadurch gesteigert, dass Jesus aus dem Bewusstsein einer besonderen Gottesnähe handelt und für sein Wirken die Autorität Gottes in Anspruch nimmt.
In der nachösterlichen Verkündigung wird aus der Botschaft Jesu vom Reich Gottes die Botschaft vom „Menschensohn“ (so vor allem in der Logienquelle) bzw. vom „erhöhten Herrn“, der als Retter und Richter das Ende dieser Weltzeit herbeiführen und das Reich Gottes in Macht vollenden wird. Der Glaube an die Gegenwart der angebrochenen Gottesherrschaft wird so zum Glauben an Jesus, der als „der Christus“ das Reich Gottes repräsentiert. Die Verzögerung der Wiederkunft Jesu führt schließlich dazu, dass das Reich Gottes als „Himmelreich“ immer stärker als das „ewige Leben bei Gott“ verstanden wird, das Jesus den Gläubigen zugänglich gemacht hat.
Das Evangelium vom „Reich Gottes“
Gleichnisse stellen eine bevorzugte Form der Verkündigung Jesu dar. Um sie zu verstehen, geht es nicht darum, möglichst viele der erzählten Sachverhalte in ein Deutungsmuster zu bringen. Ihr Sinn erschließt sich vielmehr aus einem zentralen Vergleichspunkt, der ein neues Licht auf die damit angesprochene Wirklichkeit wirft. Da Jesus davon ausgeht, dass das Reich Gottes schon im Augenblick wirksam ist, dort aber erst entdeckt werden muss, sind die Gleichnisse oft im Alltäglich-Bekannten angesiedelt und entwickeln dort im Kontrast dazu ihre eigentliche Aussage. Dieses „provokative Element“, das oft durch die redaktionelle Interpretation in den Evangelien und der traditionellen Lesart umgedeutet wird, bietet als Kriterium die Chance dafür, der ursprünglichen Brisanz der Reich-Gottes-Botschaft auf die Spur zu kommen.
Das Reich Gottes ist „mitten unter euch“ (vgl. Lk 17,21)
In dieser Perspektive zeigt sich z.B. beim „Gleichnis vom Sämann“ (Mk 4,3ff par), dass es dabei nicht um eine Betrachtung Jesu über den wechselhaften Erfolg seiner Predigt geht. Der „Sämann“ steht dabei gar nicht im Mittelpunkt. Ursprünglich ist es vielmehr das „Gleichnis vom Saatgut, das eine gute Ernte garantiert“. Unter den kargen Bedingungen Palästinas ist der leichtsinnige Umgang des Sämanns mit dem Saatgut ein empörendes Ärgernis. Wer sich aber auf das Reich Gottes einlässt - so die eigentliche Aussageabsicht - muss nicht ängstlich und nicht kleinlich sein, der kann „aus dem Vollen“ säen und darf vertrauen, dass die Ernte dennoch seine Erwartungen übertreffen wird.
Auf die „göttliche Eigendynamik“ der Gottesherrschaft zielen dann auch die Gleichnisse von der „selbst wachsenden Saat“ (Mk 4,26 ff) bzw. die Gleichnisse, die am Beispiel unscheinbarer Anfänge die Entwicklung zur vollen Größe und Entfaltung darstellen (vgl. Mk 4,30ff et.al). Gleichzeitig kommt damit auch die endzeitliche Perspektive der Gottesherrschaft in den Blick: Das Reich Gottes ist schon jetzt die wirksame Präsenz Gottes in der Welt, und das nah bevorstehende Ende der Zeit wird die Gegenwart Gottes in der Welt offensichtlich machen und die neue Welt Gottes herbeiführen.
Für Jesus ist jetzt die Zeit der Entscheidung. Jetzt kann alles gewonnen oder verspielt werden. Das Reich Gottes fordert zu Zustimmung oder Widerstand heraus. Und da es nicht einfach auf der Hand liegt, dieser Botschaft zu vertrauen, und da sie sich nicht aus der „Alltagsvernunft“ herleiten lässt, bedeutet es ein gewisses Wagnis, sich darauf einzulassen.
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