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Hausarbeit (Hauptseminar), 2023
13 Seiten, Note: 1,3
1. Zu Jürgen Habermas
2. Die Theorie des kommunikativen Handelns
3. System und Lebenswelt
3.1 Die Kolonialisierung der Lebenswelt
3.2 Protestpotentiale
4. Gesellschaftliche Spaltungen durch die Corona-Pandemie
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
Jürgen Habermas studierte ab 1949 Philosophie, Geschichte, Psychologie und Deutsche Literaturwissenschaft in Göttingen, Zürich und Bonn, er habilitierte an der Universität Marburg, war Direktor am Max-Planck-Institut in Starnberg und von 1983 bis 1994 Professor für Philosophie und Soziologie in Frankfurt a.M. (vgl. Heming 2007: 57). Habermas wird mit der Frankfurter Schule in Verbindung gebracht. Bekannt ist er für seine Weiterentwicklung der kritischen Gesellschaftstheorie von Horkheimer und Adorno in Form der „Kritischen Theorie“, und dem daraus resultierenden Theoriestreit mit Niklas Luhmann, wobei Habermas das Ziel verfolgte die beständige, gesellschaftliche Stabilität, trotz allgegenwärtiger Konflikte zu verstehen (vgl. Bohnacker 1996: 97). Diese Arbeit setzt sich im Kern mit der von Jürgen Habermas formulierten Theorie des kommunikativen Handelns, und dem darin formulierten Konstrukt des Systems und der Lebenswelt, auseinander. Ebenfalls wird das Kernproblem des Systems und der Lebenswelt, nämlich die Kolonialisierung der Lebenswelt durch das System behandelt, und anschließend auf das derzeitige gesellschaftliche Konfliktpotential in der Corona-Pandemie angewendet.
Habermas wahrscheinlich bekanntestes Werk aus dem Jahre 1981, die „Theorie des kommunikativen Handelns“, welches in zwei Bänden veröffentlicht wurde, ist Grundlage dieser Ausarbeitung seiner Ideen. Hier entwirft er einerseits eine soziologische Handlungstheorie und andererseits eine Gesellschaftstheorie, die sich mit dem Konflikt zwischen System und Lebenswelt beschäftigt (vgl. Müller-Jentsch 2014: 551). In dieser Arbeit liegt der Schwerpunkt auf zweiterem.
Habermas Theorie des kommunikativen Handelns lässt ich als eine Art Konzept verstehen, welches beschreibt unter welchen Bedingungen und zu welchem Zweck, Handlungen zwischen einzelnen Akteuren vollzogen werden. Mithilfe intersubjektiv nachvollziehbarer Normen können Personen, im Falle eines Konflikts ein Einverständnis erzielen. Hierzu müssen zunächst einige von Habermas genannten Geltungsansprüchen gegeben sein.
Sie schaffen die Grundlage dafür, eine kontraproduktive Auseinandersetzung zu vermeiden (vgl. ebd.: 552) und ein Einverständnis dadurch zu erzielen, „daß sich eine der Argumentationen als tragfahiger erweist“ (Bohnacker 1996: 99). Vorausgesetzt wird, dass es sich um Auseinandersetzungen oder „Dissense“ handelt, die trotz gemeinsamer Überzeugungen und intersubjektiv nachvollziehbarer Erfahrungen entstehen. Denn erst wenn es keine grundlegenden oder existentiellen Unstimmigkeiten zwischen zwei Individuen gibt, können Konflikte kommunikativ gelöst werden (vgl. ebd.: 99). Unter den Geltungsansprüchen verstehen sich Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit. Habermas fügt dem noch einen weiteren Geltungsanspruch hinzu, der besagt, dass falls im Rahmen eines kommunikativen Dissenses ein Einverständnis erzielt werden soll, wir uns verständlich ausdrücken und ggfs. unsere Ausdrucksweise erklären der korrigieren müssen. Diesen Geltungsanspruch formuliert er als „Verständlichkeit“ (ebd.: 99). Des Weiteren beschreibt Habermas den, als Folge eines kommunikativen Dissenses, auftretenden Verständigungsprozess, worin er Voraussetzungen für die „ideale Sprechsituation“ nennt. Die Sprechsituation darf nicht gestört sein, und es muss eine allgemeine Verständigungsbereitschaft bestehen. Dazu sollte eine allgemeine Chancengleichheit zu argumentieren bestehen und jede sprechende Partei, sowie ihre Argumente sollten anerkannt werden (vgl. ebd.: 99f). Kurzgefasst, rundet Habermas seine Theorie durch die Feststellung ab, dass wenn nur lange genug diskutiert wird, sich Konflikte, durch das Finden der besten Argumentation, lösen lassen können (vgl. ebd.: 100).
Die gesellschaftliche Reproduktion, also das Bestehen der Gesellschaft in ihrer speziellen Form verläuft nach Habermas in zwei verschiedenen Bereichen. Diese zwei Bereiche, oder auch Sphären, betrachtet er aus der Sicht des sozial handelnden Individuums, wobei das „System“ die Sphäre ist, in der zweckrational und erfolgsorientiert gehandelt wird, wohingegen die „Lebenswelt“ die Sphäre ist, in der verständigungsorientiert und kommunikativ gehandelt wird (vgl. ebd.: 98f). System und Lebenswelt sind zwei leittragende Begriffe in der Theorie des kommunikativen Handelns, mit ihnen versucht Habermas die zeitgenössische Sicht auf die Gesellschaft und ihren Wandel zu ordnen, und seine eigene Perspektive auf das Krisenpotential der Gegenwartsgesellschaft zu schildern.
Die Lebenswelt ist der Bereich in dem Bürger: innen ihre Privatsphäre finden, es ist der Ort an dem Konflikte interpersonal ausgetragen werden. Es ist der Bereich in dem Normen, Werte, sowie verständigungsorientierte soziale Verkehrsformen und kommunikative Praktiken erfasst werden (vgl. Heming 2007: 58). Habermas formuliert die Lebenswelt auch als den Ort der „symbolischen Reproduktion“, hier ist die Sprache das Instrument zur Koordinierung von Handlungen, denn Individuen nutzen keine Medien, um miteinander zu interagieren, und somit ist soziales Handeln ein rein sprachliches Handeln (vgl. Bohnacker 1996: 99).
Das System ist der Raum in dem zweckrational, strategisch und erfolgsorientiert gehandelt wird. Hier wird nicht wie in der Lebenswelt sprachlich, sondern mediengestützt gehandelt. Präziser lässt sich dieser Handlungsraum in zwei weitere Subsysteme unterteilen, zum einen das ökonomische Subsystem wo mit dem Medium Geld ein interessegeleitetes Wirtschaftshandeln stattfindet. Dies geschieht genauer durch „systemische Handlungskontexte“, diese wären beispielsweise der Kauf von Waren. Zum anderen fungiert das System im politischen Subsystem, wo das zugehörige Medium Macht die systemischen Handlungskontexte orientiert. Diese wären zum Beispiel jede Form von politischen Wahlen. Diese beiden Subsysteme sind institutionalisiert und in Form von Staat und Markt in unserer Gesellschaft vorhanden (vgl. ebd.: 98).
Der Einsatz strategischer Mittel, um die Argumente des Gegenübers zu neutralisieren, oftmals sogar im Hintergrund der direkten Konfrontation, ist was das System grundlegend von der Lebenswelt unterscheidet. Lebensweltliche Konflikte werden mit sprachlichen Mitteln (ebd.: 98), von Angesicht zu Angesicht ausgetragen und sind, wie bereits erwähnt, prinzipiell immer lösbar. Habermas argumentiert auch dass in modernen Gesellschaften nicht nur lebensweltliche Konflikte zwischen zwei Individuen immer lösbar sind, sondern sogar auf gesamtgesellschaftlicher Ebene diese Möglichkeit besteht. Hierzu muss eine eingebettete Umgangssprache bestehen und es können Konflikte durch Abstimmungsprozesse und Selbstverständnisdebatten gelöst werden (vgl. Heming 2007: 62).
Das Kernproblem von Habermas Theorie, welches beide Sphären zur Grundlage nimmt, besteht in der Wechselbeziehung zwischen System und Lebenswelt.
Eine ausbalancierte und stabile Beziehung kann praktisch nicht existieren, da die Lebenswelt eine spezielle Abhängigkeit vom System hat. Laut Habermas muss die Lebenswelt zunehmend rationalisiert werden, um Modernisierungsprozesse stattfinden zu lassen (vgl. Bohnacker 1996: 460). Ein Wirtschafts- und Verwaltungssystem, zur Realisation dieser Modernisierungsprozesse, kann erst dann ausdifferenziert werden, wenn die Steuerungsmedien Geld und Macht in die Lebenswelt integriert werden. Habermas bezeichnet die Ökonomie und die Politik anders auch als „Konfliktregulierungsmechanismen“, da diese das Konkurrenzhandeln zwischen Individuen kontrollieren und steuern (ebd.: 101). Da diese Konflikte jedoch erfolgsorientiert gelöst werden und nicht verständigungsorientiert, bezweifelt Habermas die Wirksamkeit solch einer Problemlösung bei wirklich großen sozialen Konflikten (vgl. ebd.: 101). Schlussendlich ist es so, dass erst wenn dieses Konstrukt aus Institutionen und systemischen Instrumenten zum Eingriff in die Lebenswelt besteht, moderne Gesellschaften entstehen können.
Die Austauschbeziehungen zwischen System und Lebenswelt entlasten die Lebenswelt durch die materielle Reproduktion, da die administrativen und marktwirtschaftlichen Subsysteme immer autonomer agieren und sogar zunehmend lebensweltliche Krisen lösen. Diese Entlastung führt zwar dazu, dass die Lebenswelt sich in ihrer kulturellen Form weiter ausdifferenzieren und entwickeln kann. Ebenso sind die „Konflikte der Klassengesellschaft“, die aus dem Konflikt zwischen Kapital und Arbeit bestehen, entschärft (ebd.: 102). Jedoch führt die wechselseitige Beziehung zwischen System und Lebenswelt im Laufe der Entwicklung moderner Gesellschaften zunehmend dazu, dass lebensweltliche Kontexte kaum unbeeinflusst bleiben (vgl. Heming 2007: 60). Was heißt, dass Privatsphäre und Öffentlichkeit einerseits von institutionellen Entscheidungen beeinflusst, und andererseits auch von den monetären und administrativen Systemimperativen kontrolliert werden (vgl. ebd.: 60). Kurz gefasst besagt dieser Vorgang „daß die Subsysteme Wirtschaft und Staat...in die symbolische Reproduktion der Lebenswelt eindringen“ (Bohnacker 1996: 102). Habermas nennt diesen Prozess „die innergesellschaftliche Kolonialisierung der Lebenswelt“ (ebd.: 102).
Die Sozialintegration spielt in dieser Problematik eine große Rolle, Habermas geht nämlich davon aus, dass systemintegrative Leistungen niemals die immerzu beständig gebliebene Sozialintegration ersetzen könne. Denn es ist das „Gewebe“ aus kommunikativen Handlungen das die Integration der Gesellschaft sichert und nicht systemische Mechanismen (vgl. Heming 2007: 59).
Die systemischen Eingriffe in die Lebenswelt sorgen nicht nur für Komplikationen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, sondern beeinflussen auch das Leben des einzelnen Individuums. Das geschieht durch eine systemisch geschaffene, funktionalistische Vernunft und die Unterordnung des Individuums unter diese. Einfacher gesagt, werden Bürger: innen der vollständig lebensweltlichen Alltagspraxis entzogen und werden zu „Beschäftigten, Konsumenten, Klienten und Staatsbürgern“. Ihr kommunikativer Umgang mit alltäglichen Problemlagen scheint völlig verloren zu gehen und ihre Selbstbestimmungspraxis wird „systematisch“ unterdrückt. Das System entzieht ihnen zur eigenen Gunst, nämlich dem Fortbestand einer funktionalistischen Stabilität, ihre Mündigkeit (vgl. Bohnacker 1996: 103).
Nun kann man stark davon ausgehen, dass nicht jeder oder jede Bürger: in mit diesen systemischen Eingriffen einverstanden ist. Es entwickelt sich also folglich aus der Unterdrückung der Selbstbestimmungspraxis eine aufstrebende Gegenbewegung. Der parallel ablaufende Alltag zwischen System und Lebenswelt ruft verschiedenste Protestbewegungen hervor, diese entstehen nicht explizit in der Lebenswelt, also möglicherweise im privaten Haushalt, oder explizit im System, sondern genauer am Schnittpunkt zwischen System und Lebenswelt, an dem Punkt, wo das System in die Lebenswelt einbricht, die Alltagspraxis verdrängt und Systemimperative die private und öffentliche Sphäre kontrollieren (vgl. ebd.: 473).
Die bereits erwähnten Rollen, in die die einzelnen Individuen schlüpfen, wie Beschäftigte und Konsumenten werden zunehmend aufgelöst und dies führt laut Habermas dazu, dass sich Gegeninstitutionen aufstellen, diese Institutionen lassen sich als kollektive Identitäten verstehen, die gemeinsam gegen die, die Lebenswelt dominierende, Eigendynamik der Subsysteme des Staates und des Marktes angehen und begrenzen zu versuchen (vgl. ebd. 473).
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