Rezension zum „Jahrbuch Friedenskultur 2006“. Das „Jahrbuch Friedenskultur 2006“, herausgegeben vom „Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik“ der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, beschäftigt sich mit drei inhaltlichen Schwerpunkten: Friedensforschung und Friedenspolitik, Kultur des Friedens sowie Friedenspädagogik. Das „Jahrbuch Friedenskultur“ versteht sich als ein vielfältiger wissenschaftlicher Diskussionsbeitrag zu Friedensstudien und setzt mit der Nennung der „Friedenskultur“ einen spezifischen Schwerpunkt, der innerhalb der Friedensforschung bislang zu wenig repräsentiert war.
Gedanken zu einer „Kultur des Friedens“
Das „Jahrbuch Friedenskultur 2006“, herausgegeben vom „Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik“ der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, beschäftigt sich mit drei inhaltlichen Schwerpunkten: Friedensforschung und Friedenspolitik, Kultur des Friedens sowie Friedenspädagogik. Das „Jahrbuch Friedenskultur“ versteht sich als ein vielfältiger wissenschaftlicher Diskussionsbeitrag zu Friedensstudien und setzt mit der Nennung der „Friedenskultur“ einen spezifischen Schwerpunkt, der innerhalb der Friedensforschung bislang zu wenig repräsentiert war.
Der erste Themenbereich des Jahrbuches beginnt mit dem Beitrag von Brigitte Hipfl, in dem sie anhand des internationalen Projektes „1000 Women Across the Globe“ die Friedensarbeit von Frauen aus einer feministischen und kulturwissenschaftlichen Perspektive thematisiert, da immer mehr Feministinnen eine Einbeziehung der Geschlechterperspektive in die Auseinandersetzung mit dem Thema „Krieg und Frieden“ fordern und vor traditionellen Geschlechterbildern warnen, die von wesensmäßigen Unterschieden zwischen Mann und Frau ausgehen und somit zur Aufrechterhaltung der Dichotomie Krieg/Frieden beitragen. Drei Ausrichtungen werden hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses unterschieden: die Betonung der Gleichheit von Frau und Mann („Gleichheitsansatz“), die Betonung der Differenz von Frau und Mann („Differenzansatz“) sowie das Verständnis von Geschlecht als kulturelle Konstruktion („Genderansatz“).
Die Autorin stellt die Vorstellung von der „friedfertigen“ Frau, die im „Differenzansatz“ am stärksten verankert ist, in Frage, da nicht nur Männer, sondern auch vermehrt Frauen in kriegerischen Aktivitäten verwickelt sind. Zwischen feministischer Wissenschaft und Friedensforschung gibt es viele Parallelen: So ist bei beiden das Erkenntnisinteresse darauf ausgerichtet, Gewaltverhältnisse aufzudecken, beide sind mit einer sozialen Bewegung verbunden und verstehen sich als kritisch-politische Forschung. Aus der Perspektive der kulturellen Konstruktion von Geschlecht bedingt die Betonung der „friedfertigen“ Frau als ihren Gegenpol den „kriegerischen“ Mann und trägt somit zu einer Festschreibung der patriarchalen Strukturen bei, die diesem Geschlechterdualismus zugrunde liegen. Die Autorin fordert unter anderem die Auflösung dieses Geschlechterdualismus und demnach auch solcher traditionellen Zuschreibungen wie die der „friedfertigen“ Frau. Gerade im Rahmen des Projektes „1000 Women Across the Globe“ durchbrechen die Frauen als „Akteurinnen des Friedens“ das vorherrschende Bild von Frauen als Opfer von Kriegen, dessen Intention es ist, die Arbeit von Frauen gegen Ungerechtigkeit, Diskriminierung, Unterdrückung und Gewalt sichtbar zu machen. Auf diese Weise soll ein Beitrag zum Friedensjournalismus, wie er von Johan Galtung, der zwei Formen der medialen Berichterstattung über Krisen unterscheidet, gefordert wird, geleistet werden, denn Medien sind laut Autorin dominiert vom Kriegsjournalismus, da sie in wirtschaftlicher Hinsicht immer von Berichten über Konflikte und Kriege profitieren. So soll dieses Projekt vor Augen führen, dass jede Person dazu beitragen kann, Frieden herzustellen und aufrechtzuerhalten, denn „Friede ist nicht ein Ereignis, das plötzlich eintritt, sondern ein Prozess, an dem ständig gearbeitet werden muss“ (S. 31).
In ihrem Beitrag befasst sich Bettina Gruber mit der Minderheitenfrage in Kärnten und skizziert ein „Friedensprojekt Europa“, das ihrer Meinung nach eine der großen Aufgaben der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sein wird. Das Ziel dieses Friedensprojektes sollte die Schaffung einer europäischen Identität, die Förderung eines integrativen Ansatzes in der Migrationsfrage und die Weiterführung einer Sozialpolitik für den Ausgleich zwischen Arm und Reich in Richtung sozialer Frieden sein. Anhand des Umganges mit Minderheitenfragen in Österreich, im speziellen in Kärnten, schlägt die Autorin ein nachhaltiges Konfliktlösungsmodell für Kärnten vor und nennt konkrete Vorschläge für Maßnahmen, Aktionen und Projekte, für welche die Alpen-Adria-Universität Klagenfurt aufgrund ihrer vielfältigen interdisziplinären Kompetenzen die Analyse-, Prozessberatungs-, Anleitungs- sowie Moderationsfunktionen übernehmen könnte.
In diesem Kontext unterbreitet das „Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik“ der Alpen-Adria-Universität einen Vorschlag für ein „friedensfähiges Kärnten“ in einem „zukunftsfähigen Europa“, indem der „Minderheitenkonflikt“ als Chance für das „Friedensprojekt Europa“ und ein konstruktives Zusammenleben der beiden Volksgruppen im Lande als der Schlüssel für den Aufschwung der ganzen Alpen-Adria-Region gesehen wird: „Kultur und Bildung können zum Motor der Gesamtentwicklung des Landes werden, wenn sie uns befähigen, historische Vorurteile zu überwinden und eine neue Kultur der Zusammenarbeit zu schaffen.“ (S. 49). Die Vorschläge reichen von kommunalen und regionalen über grenzüberschreitenden gesellschaftspolitischen Projekten bis zu grenzüberschreitenden Bildungsprogrammen im schulischen wie außerschulischen Bereich. Außerdem appelliert Werner Wintersteiner an die politisch Verantwortlichen in Österreich im Rahmen der österreichischen Ratspräsidentschaft das „Friedensprojekt Europa“ wieder auf die Agenda zu setzen, das tatsächlich zum Leitmotiv der EU nach innen und nach außen werden sollte. Er macht drei realistische Vorschläge: erstens ein klares Statement gegen die weitere Militarisierung der EU, zweitens praktische Schritte in der Stärkung der zivilen Sicherheitspolitik in der EU, und drittens die Einrichtung einer „Europäischen Friedensuniversität“ als ein praktisches und symbolisches Zeichen für die Aufwertung von Friedenspolitik in der EU. Damit könnte sich laut Autor das neutrale Österreich in Europa profilieren.
Wilfried Graf behandelt in seinem Beitrag zunächst Defizite ziviler Konfliktbearbeitung, die John Paul Lederach aufgezeigt hat, um anschließend einige Prämissen und Leitideen des sog. „Transcend-Verfahrens“ zu skizzieren. Nach Lederach werden drei konzeptuelle Defizite ziviler Konfliktbearbeitung unterschieden: das Interdependenz-Defizit, das für eine wirksame Verbreitung und Vertiefung entscheidend ist; das Gerechtigkeits-Defizit, das auf Kosten der Verringerung von Gewalt die soziale Gerechtigkeit vernachlässigt; und das Prozess-Struktur-Defizit, das Frieden weder als Prozess noch als Struktur, sondern als beides betrachtet. Im „Transcend-Verfahren“ werden Konflikte grundsätzlich dialogisch, interaktiv und gemeinsam mit den Konfliktparteien bearbeitet, das sowohl akteurs- als auch struktur- und kulturorientierte Methoden kombiniert. Dieses Verfahren stellt laut Autor Konflikte in einen Konfliktbogen von Gewaltprävention über Konflikttransformation bis zu Friedensaufbau und Versöhnung: „Dabei geht es nicht nur um die Vermeidung und den Abbau der verschiedenen Formen von Gewalt, sondern auch um den Aufbau einer Kultur von Gewaltfreiheit, Empathie und Kreativität.“ (S. 58). Es wird nicht bei Vermittlung, Verhandlung oder Mediation angesetzt, sondern bei den strukturellen und kulturellen Ursachen der Gewalt, wobei auf die Notwendigkeit gleichberechtigter und problembezogener Kommunikation zwischen verschiedenen sozialen Gruppen, Klassen, Nationen und Zivilisationen abgezielt wird.
Die meisten anderen Verfahren ziviler Konfliktbearbeitung beschränken sich vor allem auf die Ebene der direkten Gewalt, d.h. es wird zwar ein Kompromiss zur Beendigung direkter Gewalt ausgehandelt, aber von einem dauerhaften Frieden kann dabei nicht gesprochen werden. „Transcend“ ist eine komplexe Methodik, die eine Lösungsperspektive zu finden versucht, die über einen bloßen Kompromiss hinausgeht. Daher muss das „Transcend-Verfahren“ idealtypisch vier Ebenen berücksichtigen und bearbeiten: die bewusst verfolgten Strategien der Konfliktparteien, die sozialpsychologische Ebene der Beziehungen der Konfliktparteien, das individuelle Vor- und Unbewusste sowie das kollektive Vor- und Unbewusste der Konfliktparteien. So wird laut Autor auf der Ebene der direkten, strukturellen und kulturellen Gewalt versucht, durch Förderung von Gewaltfreiheit, Kreativität und Empathie gegenüber den Anderen viele verschiedene Lösungsperspektiven anzuregen.
Barbara Preitler beschreibt in ihrem Beitrag das nach der Tsunamikatastrophe 2004 in Sri Lanka gestartete Projekt „Trauma Counselling Programm“, das von der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt in Zusammenarbeit mit Psychologen und Psychologinnen vor Ort initiiert wurde. Mit weiteren interessierten und engagierten Kooperationspartnern wie z.B. die „Diakonie Österreich“ konnte im Februar 2005 in der Stadt Ampara das „Center for Psychosocial Care“ gegründet werden, und zugleich wurde aktiv mit der Arbeit mit den Opfern des Tsunamis in der Küstenregion begonnen. Nach 20 Jahren Bürgerkrieg war Trauma in Sri Lanka ein allgegenwärtiges Thema, über das aber nicht offen gesprochen werden konnte. Seit der Naturkatastrophe änderte sich die Situation grundlegend und „Trauma Counselling“ wurde nun massiv als Hilfe für die Opfer der Naturkatastrophe eingefordert.
In Ampara, im Osten der Insel gelegen, leben Angehörige aller drei großen ethnischen Gruppen (Singhalesen, Tamilen und Moslems) und es war eine besondere Herausforderung, alle Gruppen in das Programm für „Trauma Counselling“ einzubeziehen. Der Wunsch, die Reaktionen der Menschen nach der Katastrophe besser zu verstehen und Hilfe anbieten zu können, war stärker als die Distanz der verschiedenen ethnischen Zugehörigkeit. So konnte bereits zwei Monate nach der Tsunamikatastrophe mit dem Pilotprojekt gestartet werden, wobei die Trainingsprogramme nur einen Teil des Projektes darstellten. Den Großteil der Zeit verbrachten die Auszubildenden in den Flüchtlingslagern, wo sie in Teams dreimal wöchentlich ihre Hilfe anboten. Neben der psychosozialen Hilfestellung, die das „Center for Psychosocial Care“ anbietet, „ist das Team junger Frauen und Männer aus allen drei ethnischen Gruppen ein Symbol für die Möglichkeit des Zusammenlebens und der Zusammenarbeit“ (S. 73). Die Autorin resümiert über ihre Arbeit mit traumatisierten Menschen in Sri Lanka, dass man als außenstehende Person bereit sein muss, „etwas vom schlechten Geschmack der Traumatisierung und dem schwierigen Leben danach zu teilen, damit Beziehung und Verständnis möglich werden können“ (S. 74).
„Mediation und Frieden wirken. Idealerweise in engem, gegenseitig förderlichem Zusammenhang“, meint Gerhard Falk, der in seinem Beitrag „diese Kombination und vor allem ihre wesentlichen Unterscheidungsmerkmale“ behandelt (S. 75). Das Ziel der Mediation ist eine außergerichtlich einvernehmliche Vereinbarung, die den gegenständlichen, aktuellen Streit beenden soll, und der Weg dahin ist ein sozialer Kommunikationsprozess. Der Begriff „Frieden“ hingegen ist laut Autor abstrakter und schwerer definierbar, der assoziativ zunächst weniger die Vorstellung eines Prozesses, als vielmehr eines statischen Zustandes auslöst: „Näher besehen und über längere Zeiträume betrachtet, ist die Verwirklichung einer Friedenskultur sehr wohl ebenfalls ein Prozess.“ (S. 76). Die Delegation von Streitentscheidungen an den Gerichtsprozess gilt als eine der größten Kulturleistungen der Menschheitsgeschichte, dennoch entwickelten sich in den letzten Jahrzehnten formell definierte Verfahren, die den Konsensfindungsprozess im Vorfeld von Gerichtsverfahren teilweise an die Eigenverantwortung der Betroffenen redelegieren. Friedensarbeit ist zu Parteilichkeit und Wertung verpflichtet, während man bei Mediationsverfahren dem Inhalt und dem Ergebnisse gegenüber wertfrei sein muss. Indem Friedensarbeit erlaubte Gewalt toleriert, ist sie erst in der Lage, Rahmenbedingungen zu fördern und zu schaffen, die mediative Konfliktregelung ermöglichen. So nehmen Mediatoren, die sich für Friedensziele einsetzen, eine parteiliche Rolle ein, die mit eigentlicher mediatorischer Arbeit unvereinbar ist und von ihr klar getrennt werden muss. Durch diese Unvereinbarkeit kann es leicht zu Zielkonflikten zwischen Mediation und Frieden kommen.
Aus der Sicht des Autors kann die Friedenswissenschaft eine höchst bedeutsame Rolle für den Kontext der Mediation einnehmen, da Mediation als ein Transportmittel in die Welt der Friedenswissenschaft angesehen werden kann. So haben sich in Österreich in den 1990er Jahren ein Mediationsgesetz samt Ausbildungsverordnung und damit einhergehend ein eigener Berufsstand entwickelt. Damit wurde Mediation zur wertvollen Einstiegshilfe zugunsten der Botschaften der Friedensforschung, insbesondere für klassische Beratungsberufe, aber auch für die Politik. Nach William Ury gibt es drei Möglichkeiten der Konfliktregelung, nämlich über Macht, Recht oder Interesse. Mediation verhandelt letzere und fördert somit den sozialen Frieden zwischen den Streitparteien, da Konflikte als Chance gesehen werden für eine künftige Weiterentwicklung ihrer Beziehungen. Laut Autor zeichnet sich Mediation durch Einfachheit und Effizienz, Diskretion, Aufrechterhaltung von Beziehungen sowie durch höhere Wahrscheinlichkeit der Umsetzung und Nachhaltigkeit ihrer Ergebnisse aus. So werden vereinfachende Verfahren wie eben Mediation weltweit immer öfter eingesetzt, da einerseits die Kosten von langwierigen Gerichts- und Verwaltungsverfahren stetig zunehmen, andererseits die Friedensbewegung ständig im Wachsen begriffen ist. Außerdem ist die Tendenz, Mediation sogar vorzuschreiben, bevor ein Gericht überhaupt angerufen werden darf, bereits international und auch in Österreich zu beobachten. Der Autor rekapituliert, dass sich Friedenswissenschaft und Mediation nur in einem demokratischen Rechtsrahmen entfalten können, der sie auch erlaubt und gebietet: „Gleichheit, Berechtigung zu Kritik (Protest, Streik etc.) sowie Gestaltungsspielraum, der Eingriffen standhält, sind dafür unabdingbar.“ (S. 81). Somit kann eine gelungene Konfliktbearbeitung zu einer „Gesundung“ der „kranken“ gesellschaftlichen Strukturen und vielleicht sogar zu einem nachhaltigen Frieden beitragen.
Ester Schmidt widmet sich in ihrem abstrakt-theoretischen Beitrag der Multikulturalität und der Frage, wie ein gemeinsames Band aussehen könnte, das sich nicht einfach über Verständigung herstellt. Auf die Begegnung von Fremden umgemünzt scheint es naheliegend, dieses Band in der Vielheit selbst zu sehen: „Jeder Einzelne, jede Gruppierung gehört zugleich vielen Systemen und Gruppierungen an, die weder auf eine sichere Identität, noch auf einen feststehenden gemeinsamen Nenner zählen können.“ (S. 84). Wenn es gelingt, diese Vielheit im gleichzeitigen Bewusstsein politisch zu organisieren, könnte ein gemeinsames Band entstehen. Der Begriff des Fremden wird entweder in eine Welt der Vielheit aufgelöst, oder erscheint dort, wo die eigene Toleranz an Grenzen stößt. Die Affirmation des Fremden könnte in der Affirmation der absoluten Differenz in der gleichzeitigen Überquerung eines unüberwindlichen Abstands aufrechterhalten werden. Was in Differenz zu allen Bestimmungen steht, kann aber selbst nicht inhaltlich bestimmt sein. Die Differenz ist leer und daher „ist der Mensch ein unbestimmtes und offenes Differenzwesen. Die leere Differenz ist gleichzeitig das gemeinsame Band.“ (S. 85).
Dieses Konzept ist laut Autorin aber nicht eins zu eins auf die Begegnung mit Fremden übertragbar, da das Fremde einerseits leer, andererseits weniger leer als die leere Differenz ist. Der Prozess der Begegnung von Fremden muss als Bewegung, als Geschehen begriffen werden, der letztlich nur als Prozess des Neu-Werdens gedacht werden kann. Für das Problem der Gestaltung der Begegnung ist zu bedenken, dass Gestaltung nicht Gestaltung der Vielheit, sondern Organisation dieser Offenheit ist. Aber einer Gestaltung ins Offene ist kein offener Ort gegeben: „Zum einen ist der Raum durch die Interessen und Urteile der Beheimateten besetzt, also voll und nicht offen. Zum anderen werden Fremde, die zum Beispiel als Flüchtlinge ankommen, in einen Raum entlassen, der sowohl unstrukturiert – rechtlos und ohne Versorgung – als auch voll von alltäglichen intellektuellen, politischen, ökonomischen Zwängen ist.“ (S. 86). Als Beispiel für einen wirklich öffentlichen Raum nennt die Autorin die Tischgesellschaft, da der Tisch einen Zwischenraum verkörpert, der gleichzeitig trennt und verbindet. Wer zu Tisch sitzt, nimmt jeweils einen von den anderen verschiedenen Platz ein, wobei die Plätze in ihrer Vielheit voneinander geschieden sind, wenn sie um einen Tisch angeordnet sind. Somit wäre die Tischgesellschaft als eine Bewegung der Begegnung begreifbar, die Gleichheit, Ähnlichkeit und Verschiedenheit umgreift. So umfasst das tätige Leben drei menschliche Grundtätigkeiten: das Arbeiten, das Herstellen und das Handeln, wobei letzteres sich grundlegend vom Arbeiten und Herstellen unterscheidet, da es an die Bedingung des Anfangens gebunden ist und einer Pluralität bedarf, die sich über Gleichheit und Verschiedenheit manifestiert. Die Menschen haben die Fähigkeit, die Verschiedenheit aktiv zum Ausdruck zu bringen, sich selbst von Anderen zu unterscheiden und der Welt sich selbst mitzuteilen. Dadurch werden im Menschen die Besonderheit, die er mit allem Seienden teilt, und die Verschiedenheit, die er mit allem Lebendigen teilt, zur Einzigartigkeit, die sich im Sprechen und Handeln darstellt. Durch die Geburt, also im Anfang selbst, kommt man als Fremder zur Welt, und dieses Fremd-Sein wird durch Handeln in Weltlichkeit transformiert: „In diesem ursprünglichsten und allgemeinsten Sinne ist Handeln und etwas Neues Anfangen dasselbe.“ (S. 88).
Laut Autorin wäre ein Band dieser Pluralität der Begriff der glücklichen Hochzeit, mit dem eine sowohl existenzielle als auch politische Figur der Begegnung entworfen ist. Wenn Begegnungen zustoßen, in die man hineingezogen wird, dann konkretisiert die „Hochzeit“ das Bewusstsein der Wahl, die man nun inmitten der Begegnung hat. Demnach ist der Begriff „Begegnung von Fremden“ ein politischer Begriff, der das Nachdenken politisiert und eine politische Praxis zu denken gibt, die inmitten von Begegnungen neue und lebbare Zusammensetzungen erfindet. So kommt für konkrete Hinweise, die eine politische Praxis betreffen, zunächst nur der Begriff „Haltung“ in Frage, nämlich die Haltung der Akzeptanz: „Es ginge zu allererst um eine Akzeptanz der Offenheit und Prozessualität von Konflikten, die sich dem Wunsch nach der schnellen und endgültigen Lösung immer wieder neu verweigert.“ (S. 89). Damit wird Begegnung als radikal gegenwärtiges Geschehen akzeptiert und daraus folgt die Akzeptanz des Faktums, dass es keinen allgemein richtigen und objektiven Umgang mit Begegnungen von Fremden geben kann. Haltungen brauchen Orte, um wirklich zu werden, und daher müssen Organisationsstrukturen den politischen Haltungen entsprechen, in denen Störungen, Konflikte und Angst akzeptiert und ausgetragen werden können, sozusagen eine „Gestaltung ins Offene“. Abschließend plädiert die Autorin für Maßnahmen im Bildungsbereich wie die Schaffung von Schulfächern und Hochschullehrgängen, in denen die dafür notwendige „Konfliktkompetenz“ als soziale und politische Haltung erworben werden kann.
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- Arbeit zitieren
- Fabian Prilasnig (Autor:in), 2023, Gedanken zu einer "Kultur des Friedens". Rezension zum "Jahrbuch Friedenskultur 2006", München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/1344531