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Seminararbeit, 2012
38 Seiten
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Textanalyse: Indiánský běh – Indianerlauf
2.1 Textbeschreibung
2.2 Erzähltheorie: Zeit / Modus / Stimme
2.2.1 Suche nach dem Wasser
2.2.2 Stadt – Land
2.2.3 Suche nach Liebe
2.2.4 Moralpredigt
2.2.5 Suche nach dem Baby
2.3 Autobiographischer Text oder Autobiographie
2.3.1 Suche nach dem Vater
2.3.2 Liebesbekenntnis
3 Schluss
4 Literaturverzeichnis
Abbildung 1: Einstein oder Badenixen?
Abbildung 2: Boučkovás Welt: Harmonie, Glaube, Wunder, Gesundheit, Staat, Familie, Moral und Leben mit Hoffnung und Zukunft
Tereza Boučková (geborene Kohoutová) wurde am 24. Mai 1957 als Tochter des berühmten Schriftstellers und ehemaligen Politikers Pavel Kohout und Anna Kohoutovás (*1932 geborene Cornová) in Prag geboren.
Tereza BoučkovásProsawerk „Indiánský běh“ – „Indianerlauf“ wurde zwei Jahre nach der Wende 1989, im Jahr 19911 offiziell publiziert. Die Erstausgabe war sofort vergriffen. 1992 kam die zweite erweiterte Auflage hinzu, welche ich zur Textinterpretation bzw. Textbeschreibung verwenden werde. Ihr Erstlingswerk „Indiánský běh“ veröffentlichte die tschechische Schriftstellerin und Prosaikerin aber zuerst im Samisdat, in der Edition Expedice (1988) und ein Jahr darauf in den Kulturmagazinen Revolver Revue und Host. Für diese Novelle erhielt die Autorin 1989 den Jiří-Orten-Preis. 1993 erschien die deutsche Version im Rowohlt Berlin Verlag mit dem gleichnamigen Titel „ Indianerlauf “, übersetzt von Kathrin Liedtke und Eva Profousová. Die deutsche Ausgabe umfasst 157 Seiten – also gleich viele Seiten wie die tschechische Originalversion (1992). Ondřej Kohout, Terezas Bruder, verzierte diese Edition mit einigen Illustrationen. Das kleine Büchlein ist in vier Teile unterteilt: erstens, in „Indiánský běh“ – „Indianerlauf“, zweitens, in „Žena zokolí týru“ – „Das Weib aus der Gegend von Tyrus“, drittens, in „Končiny štěstí, končiny ticha“ – „ Gegenden des Glücks, Gegenden der Stille“ und viertens, in „Krok, sun, krok ... epilog“ – „Vor, rück, Wechselschritt ... Epilog“.
Die vier Erzählungen können als selbständige Teile oder als einzelne Fragmente betrachtet werden. Die Texte lassen sich aber auch gut untereinander kombinieren, wie ein „dynamisches Ganzes“. Denn ein dynamisches Ganzes ist ein System, welches aus Teilen besteht, die so miteinander verknüpft sind, dass kein Teil unabhängig von den anderen ist und das Verhalten des Ganzen vom Zusammenwirken aller Teile beeinflusst wird.2 Diese Kombination, die vier Teile als Gesamtheit zu betrachten, macht diesen autobiographischen Text umso interessanter. Deshalb werde ich von Teilen anstelle von Erzählungen sprechen. Ich werde hauptsächlich auf die Erzähltheorie von Gérard Genette, wie erzählt wird und auf die Suche nach dem gewissen Etwas eingehen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Einstein oder Badenixen? (Haken/Haken-Krell, 1992, S. 196).
Ein Teil, zwei Teile, drei Teile oder vier Teile?
Die Nase von Einsteins Gesicht ist mehr als nur ein Teil, als eine Nase. Sie gehört zum integrierten ganzen männlichen Gesicht.
In der Zeit des kommunistischen Regimes gab es drei Zweige der tschechischen Literatur: die offizielle und öffentliche heimische Literatur, die verbotene Untergrundliteratur, welche zuerst im Samisdat erschien und die Exilliteratur, welche im Ausland veröffentlicht wurde. Im Samisdat erschien zuerst nur der erste Teil des Indianerlaufs. Nach der Wende 1989 konnte auch Boučkovás Gesamtwerk „Indiánský běh“ schliesslich publiziert werden. Danach folgten die weiteren „ Kapitel “, also die anderen zwei Teile (1991) bzw. drei Teile (1992). In der zeitgenössischen tschechischen Literatur spricht man von einer Tochter Literatur, weil Tereza Boučková über ihren Vater – Pavel Kohout (*20.7.1928 in Prag), den Indianer, schreibt. Das Büchlein wurde speziell für ihn konzipiert und ihm gewidmet. Dies geht einerseits aus dem Titel „Indiánský běh“, andererseits aus der Widmung „Indiánovi, Alfě a Valčíkovi ...“ des Klappentextes und dem Witz hervor. Die Tochter und Protagonistin beschreibt darin ihre Erinnerungen aus der Kindheit, ihr Leiden in einer „ zerbrochenen “ Familie, ihr Erwachsensein, intime Frauenprobleme, wie ihre Schwangerschaft und Fehlgeburten und auch die schwierigen Zeiten ihrer alleinerziehenden Mutter. Sie schreibt über Probleme der Familie, über Probleme der Adoptionen ihrer Kinder, über die Problematik ihrer Berufsausübung und über gesundheitliche Probleme. Die unterschiedlichen Liebesaffären, wie auch die Schikanen [Ausweisentzüge, Festnahmen, Verhöre], die insbesondere die Zurückgebliebenen im kommunistischen System über sich ergehen lassen mussten, werden erzählt und beschrieben. Zu den Hauptthemen zählen die Mutterschaft, die Liebe und die Suche nach …
Die Suche nach dem biologischen Vater, die Suche nach einem Ersatzvater, die Suche nach einem Kind, die Suche nach Heilung und die Suche nach dem Wasser des Lebens.
Der erste Teil – Vaterteil (tsch. Version S. 9-57; dt. Version S. 7-71) beginnt mit dem Alphalauf3 auf der Entbindungsstation und ist dem Hauptthema Vater, dem Titelhelden, gewidmet. Eine Familie wird durch den Weggang des Vaters zerrissen. Unter dessen Abwesenheit leidet vor allem die Ich-Erzählerin. Zusammen mit ihren Geschwistern beschliesst sie, einen neuen Vater bzw. einen neuen Mann für ihre Mutter Alpha, eine Tschechin aus Bulgarien, zu suchen. Schwierige Zeiten künden sich an, politische sowie private Ereignisse werden vereint. Panzer des Warschauer Paktes dringen in die Tschechoslowakei ein. Der Indianer nimmt an politischen Unruhen des Prager Frühlings teil. Als Tochter eines Dissidenten markiert, hat die Erzählerin Schwierigkeiten aufs Gymnasium zu kommen. Ihre Zukunfts- und Studienpläne werden ihr praktisch unmöglich gemacht. Als Unterzeichnerin der Charta 77 kann sie nur noch als Putzfrau arbeiten. Die Koffer werden gepackt. 1978 verlässt der Vater mit seiner neuen, geliebten Muse das Land. Nach der Ausbildung zum Bühnenbildner verlässt ihr Bruder Sonnenstrahl ebenfalls das Land und zieht mit seiner Frau Mapl und seinem Sohn Větrník, wie der Indianer, nach Österreich um. Ihre Schwester Luna, welche nach dem Abitur zuerst als Kassiererin in der Küche eines Prager Hotels gearbeitet hatte, zügelte4 in die Schweiz, um dort die Hotelfachschule in Luzern zu besuchen. So bleibt die Ich-Erzählerin mit ihrer Mutter allein zurück. Später heiratet Gummi5 ihren ersten Ehemann, den Irrtum, reicht aber bald die Scheidung ein und lernt den Walzer kennen, mit dem sie aufs Land zieht. Jedoch, der letzte Gedanke im ersten Teil geht wiederum an ihren Vater zurück und sie schreibt ihm einen Brief, als ihre Grossmutter plötzlich im Krankenhaus stirbt.
Im zweiten Teil – Dem Vertrauen einer nicht-jüdischen Frau (tsch. Version S. 61-95; dt. Version S. 73-101) ist die Hauptproblematik die Suche nach dem Wasser, nach dem Leben und nach einem Adoptivkind. Als die Ich-Erzählerin mit Walzer, ihrem zweiten Ehemann, aufs Land zieht, soll in ihrem Garten hinter der Datscha ein Brunnen gegraben werden. Es folgt eine etliche Jahre andauernde Erzählung und Beschreibung, wie sie nach dem kostbaren Wasser suchen. Zuerst hilft ein Nachbar graben, später gräbt Walzer mit seinen Landfreunden weiter. Es werden auch Brunnenbauer, Wünschelrutengänger und sogar Sprengmeister beauftragt, die den Brunnenschacht immer tiefer und tiefer mit Presslufthammern ausgraben. Es wird gesprengt, gebohrt und gegraben. Zehn Meter, siebzehn Meter … Am Schluss des zweiten Teils beschliesst das Paar, einen Jungen zu adoptieren.
Der dritte Teil – Mutterteil (tsch. Version S. 99-135; dt. Version S. 103-129) beschäftigt sich mit der schwierigen Problematik der menschlichen Moral, der Suche nach dem Glück bzw. nach einem Mann und der Suche nach Liebe. Die Erzählung fängt mit einer Telegrammbotschaft aus Russland an, um die Authentizitätsillusion des Erzählten zu steigern. Dieser dritte, gefühlsbetonte Teil, betont Traumata (Erlebnisse) der Mutter, welche ihrem Ex-Mann nachtrauert und nicht erträgt, dass er sie für eine andere, jüngere Frau verlassen hat. Sie nimmt Schlaftabletten, wütet gegen sich selbst und spielt die Wahnsinnige, so wie es Hamlet in seinem Monolog tut. Diese Dame, welche sehr unsicher ist, geht mit drei unterschiedlichen Männern Liebesbeziehungen ein. Die erste Liebesbeziehung pflegt sie zu einem schwarzhaarigen Mann, welcher gerne Koteletts mag. Die zweite Liebesaffäre pflegt sie zu einem circa zwanzig Jahre jüngeren Mann. Die dritte verrückte Liebesbeziehung führt sie mit einem bereits verheirateten Mann. Es wird still, als die Kinder wegziehen und ihr Geliebter eingesperrt wird. So nimmt sie ihre Eltern bei sich auf, als sich die Krankheit ihrer Mutter rapide verschlimmert. Sie kauft ihren Eltern zu Weihnachten einen Farbfernseher. Als sie keine Mutter mehr hat und sie in Rente geht, besucht sie ihre älteren Kinder im Ausland, der Schweiz und Österreich. Heimgekehrt, feiert sie mit all ihren Ex-Liebhabern das freie Neue Jahr. Am Schluss des dritten Teils ist auch ihr Vater an Alzheimer erkrankt und sie kümmert sich um ihren kranken, langsam verrücktwerdenden Vater.
Der letzte Teil – Paartanz (tsch. Version S. 139-157; dt. Version S. 131-157) ist dem Walzer gewidmet, dem Ingenieur, als auch dem Paar und den werdenden Eltern. Das Paar ist glücklich über das erste Adoptivkind Dárek (Geschenk), welches auf allen Vieren vor- und rückwärtszulaufen anfängt. Das Paar adoptiert noch einen zweiten Roma-Jungen namens Párek (Würstchen). Alpha wird selber krebskrank, wird in der Schweiz operiert und kann deshalb nicht mehr ihren dementen Vater pflegen, so dass er im Irrenhaus an Hunger und Durst stirbt. Alpha besiegt ihren Brustkrebs, Gummi ihre Unfruchtbarkeit und die samtene Revolution siegt über das kommunistische System. Am Schluss des vierten Teils, als die Ich-Erzählerin durch Zufall im Brunnen Wasser erblickt, wird sie doch noch schwanger von ihrem Ehemann Walzer.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Boučkovás Welt: Harmonie, Glaube, Wunder, Gesundheit, Staat, Familie, Moral und Leben mit Hoffnung und Zukunft6
In Rückblenden schildert die Erzählerin rund 33 Jahre ihres Familiendramas. Es wird dem Leser eine Familiengeschichte mit autobiographischen Zügen in der Zeit des Totalitarismus berichtet. Die Tochter erzählt rückblickend ihre Erinnerungen aus den Kinderjahren, der Adoleszenzzeit, aus der Zeit ihres Erwachsenseins und auch von ihren eigenen Irrtümern. Die Erzählzeit der tschechischen Ausgabe beträgt 157 Seiten. Die erzählte Zeit, der Zeitraum in welchem die Erzählungen stattfinden, ist circa ab der Vorgeburt der Ich-Erzählerin (1957), während der kommunistischen Ära (1948-1989) bis etwa zum Heiligabend (24.12.1990) anzusiedeln. Die Erzählzeit ist in den vier Teilen praktisch identisch [1.Teil: Vorgeburt der Ich-Erzählerin bis ca. 1985 Tod der Grossmutter; 2. Teil: ca. 1985 Umzug der Ich-Erzählerin mit Walzer aufs Land bis zur ersten Kinderadoption ca. 1989; 3. Teil: ca. 1961 ab Kindergarten des dritten Kindes bis 2.1.1990; 4. Teil: ca. 1988 bis Heiligabend 24.12.1990; Bemerkung am Schluss des Büchleins Vráž bei Beroun, 1988-1991]. Da die Erzählzeit (Erzählung) kürzer als die erzählte Zeit (Geschehen) ist, haben wir, die Erzählungen als Gesamtheit oder nur in ihren Teilen bzw. Fragmenten betrachtend, ein besonderes Erzähltempo. Es handelt sich dabei um ein summarisches bzw. zeitraffendes Erzählen. Die Figurendialoge (Szenen) werden aber wörtlich wiedergegeben und zeitgleich erzählt.
Diese Zeitraffung zeige ich anhand eines der kürzesten Abschnitte mit 51 Wörtern im zweiten Teil, in welchem besonders kurz erzählt und schnell gearbeitet wird. Je kürzer der Absatz, umso schneller sind die Aktionen.
„Za dva víkendy udělali tolik práce jako náš soused za šest týdnů. A ještě měli pořád dobrou náladu. Prokopali se několik metrů pod promovaným hydrologem stanovenou hladinu, aby byla zásoba vody co největší. Vykopali dokonce víc, než zněla naše objednávka. Šlo to neuvěřitelně dobře. Studna byla hotová. Byla hotová a suchá.“7
Nicht nur die Reihenfolge der Ereignisse wird zeitlich ungeordnet erzählt, sondern auch die Ordnung der Sprache wird durch den Witz (Frage und Antwort) und die Selbstironie der Ich-Erzählerin durchbrochen. Sie beginnt ihre vorexistentielle Erzählung direkt mit diesem Witz: „Ein Indianer hat drei Kinder. Das erste, ein Sohn, heißt Sonnenstrahl, das zweite, eine Tochter, Weiße Luna. Und wie heißt wohl das dritte? Geplatztes Gummi.“8 Der Leser versteht diese Problematik des „unerwünschten Seins des patriarchalen Systems“, diesen plötzlichen Positionswechsel des Sachverhaltes, Pointe genannt, und lacht.
Nach der Heldenfigur dieses Witzes hat Tereza Boučková ihr Büchlein Indianerlauf benannt:
„Pojmenovala jsem ji podle vtipu na začátku příběhu, podle toho, že jedním z hrdinů je Indián a nakonec i proto, že indiánský běh je kategorie přesunu z jednoho místa na druhé, kdy se chvíli jde a chvíli běží, a tak se urazí velká vzdálenost s relativně zachovanými silami.“9
Diese Indianer-Bezeichnung hat also in diesem Kontext nichts mit den Ureinwohnern Nordamerikas zu Zeiten Christophs Kolumbus (*1451-†1506) zu tun.
Eine Anachronie des Erzählens haben wir, denn die Ereignisse werden nicht immer in der chronologischen Reihenfolge erzählt. Es gibt Zeitsprünge in die Vergangenheit (Analepsen) und Zeitsprünge in die Zukunft (Prolepsen), beispielsweise der noch Ungeborenen oder „Alpha betrachtet dieses Foto häufig. Sie kann darauf ihre Mutter streicheln, die für immer von uns gegangen ist, und ihre Kinder, die sie nicht sehen darf. Für immer? Aber heute sind wir alle da. Und leben!“10 Auch Ellipsen, welche unwichtige und bedeutungslose Passagen auslassen oder graphische Lücken für neue Absätze entstehen lassen, beschleunigen das Tempo der Erzählung oder legen das Geschehen durch Leseranreden kurz still.
Die vier Teile haben ganz unterschiedliche Erzählweisen und komplizierte Zusammenhänge, aber sie lesen sich relativ einfach. Allegorien können im ersten Teil und im vierten Teil entweder auf der wörtlichen Ebene Handlungen erzählen oder im zweiten Teil und im dritten Teil Räume und Situationen deskriptiv beschreiben. Wir finden Elemente anderer Gattungen vor, z.B. philosophische Reflexionen im dritten Teil, ein Gleichnis im zweiten Teil, Anekdoten und Ausschnitte aus Autobiographien im ersten und vierten Teil.
Zu Beginn des ersten Teils finden wir ein singulatives Erzählen vor. Es wird uns einmal ein Witz und einmal ein Gedicht an die Mutter zum Internationalen Frauentag erzählt. Dies ist der Normalfall in den Erzählungen. Hingegen im dritten Teil haben wir ein Leitmotiv einer Alltagssituation, welches sich immer wieder mit geringen Variationen jeden Tag wiederholt.
Morgens steht sie auf, zieht den Morgenmantel an, weckt die Kinder, macht Frühstück, schickt die Kinder in den Kindergarten und in die Schule, zieht sich an, geht einkaufen, kocht Mittagessen, holt die Kinder von der Schule und aus dem Kindergarten ab, gibt ihnen Essen, spült das Geschirr, schickt die Kinder in den Park, saugt und wischt Staub, ruft die Kinder, gibt ihnen ein Brot [...], zieht sich aus, duscht, zieht ein Nachthemd an, kriecht ins Bett, schaut sich das Fohlen an, liest den Brief an Marie durch und stirbt.11
Die Erzählung fasst lange andauernde Geschehnisse zusammen (Zeitraffung). Diese kleinen und kurzen Abschnitte bzw. wiederholende Szenen der Ereignisse bilden jene Ähnlichkeiten des Alltags einer Frau ab. Um die Monotonie des Alltags hervorzuheben, werden Wortgruppen, Sätze, Gedanken und Wahrnehmungen wie eine Schallplatte mit einem Sprung wiederholt. Es wird x-mal erzählt, was x-mal passiert ist. Die Erzählweise ist ein anaphorisches Erzählen. Der Leser wird konsequent geführt. Das Motiv der Krankheit wird auch immer wieder wiederholt. Durch gehäufte Wortwiederholungen [glauben] entsteht so eine Klimax, die das Gefühl oder Spannung vermittelt, um einen Konflikt [Körper/Seele] zuspitzen zu lassen oder um ein Problem zu simulieren. Im zweiten Teil ist das Problem „ Babywunsch “ sehr stark und erreicht im vierten Teil seine Antiklimax und Befreiung.
Im dritten Teil wird dem Leser auf visueller Ebene das Zimmer auch mehrfach mit kleinen Abweichungen beschrieben. Das Zimmer wird durch die Wahrnehmungsperspektive der unmittelbar beteiligten nicht Marie (Alpha), mit deren Augen der Leser „ das große Zimmer, das breite Bett, das Bild mit dem Fohlen, die vibrierende Großstadt unter der offenen Balkontür… Marie, Marie meine Liebe! ...“12 sieht, dargestellt. Bei der Zimmerbeschreibung entstehen aber Pausen. Die Erzählung geht zwar langsam bzw. zeitdeckend im Erzähltempo weiter, aber das Geschehen steht still. Auch die Stadt Prag wird zum Schauplatz des Geschehens.
Tereza Boučková wählt die niedrige Seite des Decorums, welche private und körperliche Aspekte in den Vordergrund stellen, worüber man Witze macht. Dazu gehören: Ausscheidungsprozesse wie Blutabsonderungen [„Meine Hände waren blutüberströmt. Ich bemühte mich, das Blut zurückzuhalten“13 ], Rülpsen [„Paprsek [...], tak umí akorát krknout EMA MÁ MÍSU MASA a Alfa se strašně štve“14 ], Ekel [Worte wie „Verdammte Scheiße“], Schmiergelder, Sex und Betrug. Sie verlässt somit das Angemessene und das Erhabene, wie Souveränität und Ehre.
Das Bild des Fohlens gehört nicht nur zum Decorum des Zimmers, sondern hat zusätzlich eine sentimentale Bedeutung und erinnert Alpha15 an die glücklichen Tage ihrer Ehe. Alpha ist unglücklich und hat Liebeskummer. Sie sieht sich das Fohlen an, erinnert sich und wirft einen Blick auf die schönen Ehejahre – eine künstlich erzeugte Gedankenwelt des Glücks: Heirat 1952, Geschenk aus China 1954 – mit ihrem Ex-Mann zurück. Sie stirbt – schläft ein. Sich erinnern ist fiktiv und lügt Zeit. Sie fühlt sich in ihrem Körper leer. Es gibt dort keine Liebe.
[...]
1 Novellenwerk bestehend aus Indiánský běh, Žena zokolí týru und Krok, sun, krok …
2 Vgl. Gomez/Probst (1997), S. 44.
3 Alphalauf ist die Anspielung an den Titel „Indianerlauf“ und will den Lauf der Mutter ins Spital hervorheben.
4 Zügeln (schweizerisch) heisst umziehen, den Wohnort wechseln.
5 So „Geplatztes Gummi“ nennt sich die Ich-Erzählerin (Tereza Boučková) selbst zu Beginn des Buches. Sie verwendet weitere Pseudonyme für reale Personen, beispielsweise Indianer für ihren leiblichen Vater – Pavel Kohout, Alpha repräsentiert ihre eigene Mutter usw. Dies wird weiter hinten im Text behandelt.
6 Boučkovás Welt. Erstellt von Marie Lehky.
7 Boučková (1992), S. 72.
8 Boučková (1993), S. 7.
9 Boučkovás E-Mail-Antwort vom 15. Juni 2012 auf meine Frage. Tereza Boučková hat ihr Büchlein „Indianerlauf“ nach dem Witz am Anfang der Novelle benannt, erstens nach der Heldenfigur, weil der Held ein Indianer ist und zweitens, weil der Indianerlauf eine Kategorie des Bewegens darstellt – in der man sich von einem Ort zum anderen bewegt, wo man zuerst eine Weile geht und danach eine Weile läuft und vice versa, damit eine lange Strecke mit relativ erhaltenen Kräften zurückgelegt werden kann. Weitere tschechische Passagen könnt ihr euch mit dem Google Übersetzer übersetzen lassen.
10 Boučková (1993), S. 52.
11 Boučková (1993), S. 105f.
12 Ebd. S. 103.
13 Ebd. S. 73.
14 Boučková (1992), S. 31.
15 Ich nenne die Protagonistin hier Alpha, obwohl es um die „ nicht Marie “ geht. Erklärung folgt später in der Analyse.