In dieser Arbeit wird insbesondere auf das Urteil des EGMR vom 13. Februar 2020 (Az.: 8675/15 und 8697/15) eingegangen, mit welchem die Große Kammer des EGMR Beschwerden von zwei Afrikanern gegen Spanien zurückgewiesen hat. Ferner zeugt die Beteiligung zahlreicher Dritter - sowohl Regierungen als auch NGOs - an diesem Fall von einem großen öffentlichen Interesse.
Das Urteil wirft wichtige Fragen auf, vor allem hinsichtlich der von den Parteien im Asylverfahren zu beachtenden Pflichten. Welche Unsicherheiten ergeben sich aus dem Urteil? Werden durch eine solche Zurückschiebung Menschenrechte beeinträchtigt? Werden durch die Zulässigkeit von Push-Backs gewaltsame Rückschiebepraktiken gestärkt? Im Rahmen der Arbeit wird das Urteil analysiert, in den menschen- und europarechtlichen Kontext eingeordnet und auf seine Konsequenzen hin untersucht.
Gliederung
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
A. Einleitung
B. Prozessgeschichte
I. Angaben zum Urteil
II. Hintergrund des Falles und Sachverhalt
III. Urteil vom 03. Oktober 2017 des EGMR
1. Verletzung Art. 4 4. Prot. EMRK
2. Verletzung Art. 13 EMRK i.V.m. Art. 4 4. Prot. EMRK
3. Ergebnis der siebenköpfigen Kammer
IV. Urteil vom 13. Februar 2020 des EGMR
1. Streichung von Beschwerden, Art. 37 EMRK
2. Vorfragen zur Feststellung des Sachverhaltes
a) Vorläufiger Einspruch der sp. Regierung gegen den fehlenden Opferstatus
b) Vorläufiger Einspruch der sp. Regierung wegen Unzuständigkeit gem. Art. EMRK
c) Vorläufiger Einspruch der sp. Regierung bzgl. des angeblichen Verlusts des Opferstatus der Bf. und Antrag der Regierung, den Fall aus diesem Grund von der Liste zu streichen
d) Vorläufiger Einspruch der sp. Regierung gegen die „Nichtausschöpfung“ der innerstaatlichen Rechtsmittel
3. Verletzung von Art. 4 4. Prot. EMRK
a) Ansicht sp. Regierung
b) Ansicht Dunja Mijatovic
c) Ansicht Drittregierungen
d) Beurteilung Gerichtshof
aa) „Ausweisung“ i.S.v. Art. 4 4. Prot. EMRK
bb) „kollektive“ Ausweisung i.S.v. Art. 4 4. Prot. EMRK
cc) Verhalten als relevanter Faktor
(i) in Tatsache, dass es nur zwei Bf. gab
(ii) Das Verhalten der Bf
e) Keine Verletzung Art. 4 4. Prot. EMRK
4. Verletzung Art. 13 EMRK i.V.m. Art. 4 4. Prot. EMRK
C. Analyse
I. Bewertung und Kritik des Urteils vom 13. Februar 2020
1. Auffassung Richter Ales Pejchal
2. Auffassung Richterin Pauliine Koskelo
II. Anwendung Art. 4 4. Prot. und Art. 13 EMRK i.S. des EGMR
III. Verlauf der EGMR-Rechtsprechung zum Verbot der Kollektivausweisung
IV. Grundlegende Rechtsquellen
1. Europäische Menschenrechtskonvention
2. Charta der Grundrechte der Europäischen Union
3. Genfer Flüchtlingskonvention
4. Dublin-III-Verordnung
5. Mögliche Ungleichbehandlung der Bf
V. Mögliche Folgen und Konsequenzen für die Praxis
VI. Stellungnahme
D. Ergebnis
E. Ausblick
Erklärung zur eigenständigen Anfertigung
Abkürzungsverzeichnis
Abs Absatz
ACHPR Afrikanische Kommission der Menschenrechte und Rechte der Völker
AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union
Art Artikel
Az Aktenzeichen
Bf Beschwerdeführer
BVerfG Bundesverfassungsgericht
bzgl bezüglich
CEAR Comision Espanola de Ayuda al Refugiado
d.h das heißt
EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EMRK Europäische Menschenrechtskonvention
EU Europäische Union
EuGH Europäischer Gerichtshof
EUV Vertrag über die Europäische Union
gem gemäß
GFK Genfer Flüchtlingskonvention
GH Gerichtshof
GRCh Charta der Grundrechte der Europäischen Union
1.5. d im Sinne des
1.5. v im Sinne von
i.V.m in Verbindung mit
km Kilometer
NGO Non-Governmental Organization
Nr. Nummer
Prot Zusatzprotokoll
Rn Randnummer
S Satz
sp. Regierung spanische Regierung
UNHCR United Nations High Commissioner for Refugees
vgl Vergleich
z.B zum Beispiel
Literaturverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
A. Einleitung
Seit Abschluss des Vertrages über die Europäische Union wird die aus den vertraglichen Verknüpfungen der inzwischen 27 Mitgliedstaaten erwachsene Rechtsordnung Europäische Union genannt.1 Die Europäische Union bildet eine freiwillig geschaffene, einzigartige gemeinsame Rechtsordnung europäischer Völker.[2] Ein umfassender Schutz der Menschenrechte ist wohl eine der größten Errungenschaften der Moderne. Dieser Menschenrechtsschutz gilt weltweit und garantiert jedem Menschen seine Menschenwürde. Die Europäische Konvention zum Schutz für Menschenrechte und Grundfreiheiten[3] ist eine Institution, die diese Rechte schützen soll. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte[4] ist das Gericht, welches über die Einhaltung der in der EMRK garantierten Menschen- und Grundrechte wacht. Mit seinen Entscheidungen setzt der EGMR Leitlinien für das politische Handeln der Konventionsstaaten fest.[5]
Jedoch etablieren sich zunehmend grenzüberschreitende politische, wirtschaftliche und soziale Probleme.[6] Auch die neuen Herausforderungen durch Migrationsströme in die EU machen zwingend intensive Überlegungen über eine neue Ausrichtung gewisser Grundlagen der europäischen Integration erforderlich, denn der Massenzustrom von Migranten und Asylsuchenden, die internationalen Schutz beantragen wollen, ist in den letzten Jahren zu einem thematischen Schwerpunkt in ganz Europa geworden.[7] Daher ist die Bewältigung der „Flüchtlingskrise“ eines der zentralsten Themen, welches die Union insbesondere seit 2015 beschäftigt. Primär sind die Mitgliedstaaten der Mittelmeerregion belastet, da sie aufgrund ihrer geographischen Lage zuerst mit Geflüchteten aus Drittstaaten in Kontakt geraten.2
Ein aktuelles und äußerst umstrittenes Thema ist das Verbot der Kollektivausweisung, was für den Umgang mit Flüchtenden und Asylbewerbern immer mehr an Bedeutung gewann. Vor allem europäische Länder, die an den Außengrenzen der Europäischen Union als Tor zum übrigen Europa fungieren, stehen dabei unter einem gewissen Druck. Sind demnach Mitgliedstaaten mit einem großen Zustrom von Asylbewerbern und Flüchtlingen konfrontiert, darf bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen nicht auf eine Einzelfallprüfung verzichtet werden.3
In der vorliegenden Arbeit geht es um die Frage der menschenrechtlichen Zulässigkeit von Push-Backs. Als Push-Back, aus dem Englischen für „zurückschieben“4, werden staatliche Maßnahmen an den EU- Außengrenzen bezeichnet, bei denen „migrierende und flüchtende Menschen - meist unmittelbar nach Grenzübertritt - zurückgeschoben werden“5. Die sogenannten Push-Backs sind in Europa ein grundsätzlich polarisierender Themenkreis des Europarechts und werden häufig kritischen Analysen unterzogen.
In dieser Arbeit wird insbesondere auf das Urteil des EGMR vom 13. Februar 2020 (Az.: 8675/15 und 8697/15) eingegangen, mit welchem die Große Kammer des EGMR Beschwerden von zwei Afrikanern gegen Spanien zurückgewiesen hat. Ferner zeugt die Beteiligung zahlreicher Dritter - sowohl Regierungen als auch NGOs - an diesem Fall von einem großen öffentlichen Interesse.6
Das Urteil wirft wichtige Fragen auf, vor allem hinsichtlich der von den Parteien im Asylverfahren zu beachtenden Pflichten. 789Welche Unsicherheiten ergeben sich aus dem Urteil? Werden durch eine solche Zurückschiebung Menschenrechte beeinträchtigt? Werden durch die Zulässigkeit von Push-Backs gewaltsame Rückschiebepraktiken gestärkt? Im Rahmen der Arbeit wird das Urteil analysiert, in den menschen- und europarechtlichen Kontext eingeordnet und auf seine Konsequenzen hin untersucht.10
B. Prozessgeschichte
I. Angaben zum Urteil
Das im Folgenden analysierte Urteil „Prohibition of collective expulsion of aliens, Immediate and forcible return of aliens from a land border“ (Az.: 8675/15 und 8697/15) wurde am 13. Februar 2020 gefällt.1112Zu dem geschilderten Sachverhalt existiert eine erstinstanzliche Entscheidung, welche im Laufe der Arbeit in die Thematik eingearbeitet wird. Die erste Entscheidung wurde von einer siebenköpfigen Kammer des EGMR gefällt.13 Durch die eingelegten Rechtsmittel des Klägers folgte eine Entscheidung der 17-köpfigen Großen Kammer des EGMR.14
II. Hintergrund des Falles und Sachverhalt
Spanien verfügt in Nordafrika über zwei Exklaven, Ceuta an der Meerenge von Gibraltar und die 250 Kilometer weiter östlich gelegene, von marokkanischem Gebiet umgebene autonome Stadt Melilla. Die Grenze zwischen Melilla und Marokko ist eine Außengrenze des Schengen-Raums und bietet somit Zugang zur Europäischen Union.[1516] Mit Urteil vom 13.1516 Februar 2020 (Az.: 8675/15 und 8697/15) hat die Große Kammer des EGMR Beschwerden von zwei Afrikanern gegen Spanien zurückgewiesen. Der Fall entstand aus zwei Anträgen (Nr. 8675/15 und 8697/15) gegen das Königreich Spanien. Die Anträge wurden beim Gerichtshof am 12. Februar 2015 gem. Art. 34 EMRK von dem malischen Staatsangehörigen N.D., dem Antragsteller in Antrag Nr. 8675/15, und dem ivorischen Staatsangehörigen N.T., dem Antragsteller in Antrag Nr. 8697/15, eingereicht.17 Die Beschwerdeführer18 wurden von den Rechtsanwälten C. Gericke und G. Boye vertreten.19
Der erste Bf wurde 1986 geboren20 und verließ sein Dorf in Mali wegen eines bewaffneten Konflikts 2012. Er kam im März 2013 nach Marokko und lebte Berichten zufolge im Migrantenlager am Berg Gourougou nahe der Grenze zu Melilla. Er gab an, dass es dort mehrere Razzien der marokkanischen Sicherheitskräfte gegeben habe und dass er sich im Sommer 2014 auf der Flucht vor diesen das Bein gebrochen habe.21 Der zweite Bf wurde 1985 geboren22, kam Ende 2012 nach Marokko und verblieb ebenfalls im Migrantenlager am Berg Gourougou.23 Den Gerichtsunterlagen zufolge hatten sie am 13. August 2014 um 04:42 Uhr mit 600 weiteren Personen das Flüchtlingscamp am Berg Gourougou verlassen und versucht den äußeren Zaun zu erklimmen.
Der Grenzübergang zwischen Melilla und Marokko ist durch drei aufeinanderfolgende Zäune gesichert. Der innere Zaun hat eine Höhe von drei, die zwei äußeren Zäune eine Höhe von sechs Metern. Eine komplexe Videoüberwachungsanlage einschließlich Infrarotkameras ist zusätzlich installiert. Die Grenzanlage befindet sich auf spanischem Staatsgebiet, mit vier Landgrenzübergängen zwischen Marokko und Spanien, die entlang des Dreifach-Zauns liegen und wird ausschließlich von der Guardia Civil kontrolliert, einer „spanischen paramilitärisch ausgerichteten Polizeieinheit“24.25
Nach Angaben der spanischen Regierung[26] hinderte die marokkanische Polizei rund 500 Migranten daran, den Außenzaun zu erklimmen, dennoch erreichten 75 bis 80 Migranten die Spitze des inneren Zauns. Nur wenige schafften es auf spanischen Boden, wo sie auf Mitglieder der Guardia Civil trafen. Diese halfen ihnen nach unten zu klettern, bevor sie durch Tore zwischen den Zäunen auf marokkanisches Gebiet zurückgebracht wurden.[27]
Der erste Bf. gab an, er sei bis zum Nachmittag auf der Spitze des inneren Zauns geblieben. Der zweite Bf. sei beim Klettern auf den äußeren Zaun von einem Stein getroffen worden, habe aber später die Spitze des inneren Zauns erreicht, wo er acht Stunden geblieben sei. Nachdem beide gegen 15:00 Uhr heruntergeklettert seien, seien sie von Beamten der Guardia Civil festgenommen worden. Die Beamten hätten ihnen Handschellen angelegt, um sie nach Marokko zurück zu bringen und sie den marokkanischen Behörden zu übergeben.[28]
Die Bf. gaben weiter an, dass kein Identifizierungsverfahren stattgefunden habe und sie keine Gelegenheit gehabt hätten, ihre persönlichen Umstände zu erläutern oder sich von Anwälten oder Dolmetschern unterstützen zu lassen. Danach seien die Bf. zur Polizeistation in Nador gebracht worden, wo sie um medizinische Hilfe baten, ihr Antrag sei jedoch abgelehnt worden.[29] Später seien die Bf. zusammen mit anderen Migranten nach Fès gebracht und sich selbst überlassen worden. Journalisten und andere Zeugen lieferten Videomaterial, welches die Bf. dem Gericht vorlegten.[30]
Am 2. Dezember bzw. 23. Oktober 2014 gelang es dem ersten und dem zweiten Bf. nach erneuten Versuchen, über die Zäune zu klettern und Melilla zu betreten. Gegen sie wurden zwei Verfahren eingeleitet. Anschließend wurden den Bf. Ausweisungsbefehle ausgestellt.[31]
Am 26. Januar 2015 wurde ein Ausweisungsbeschluss für den ersten Bf. erlassen. Gegen diese Ausweisungsverfügung legte er eine Verwaltungsbeschwerde ein.
Weiter reichte der erste Bf. am 17. März 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz ein. Sein Antrag wurde am 23. März mit der Begründung abgelehnt, er sei nicht der Gefahr von Misshandlungen ausgesetzt. Ein weiterer Antrag auf Überprüfung, den der erste Bf. am 26. März 2015 einreichte, wurde noch am selben Tag abgelehnt. Daher wurde die Aussetzung des Verwaltungsausweisungsverfahren aufgehoben und der erste Bf. am 31. März 2015 nach Mali zurückgeschickt.[32]
Der Beschluss über die Ausweisung des zweiten Bf. wurde am 7. November 2014 erlassen und am 23. Februar 2015 nach Zurückweisung seiner Verwaltungsbeschwerde aufrechterhalten. Die Anordnung seiner Ausweisung wurde am 11. Juli 2015 rechtskräftig. Der zweite Bf. beantragte keinen internationalen Schutz.[33]
III. Urteil vom 03. Oktober 2017 des EGMR
1. Verletzung Art. 4 4. Prot. EMRK
Das erste Urteil wurde von der siebenköpfigen Kammer der dritten Sektion des EGMR am 03. Oktober 2017 verkündet.[34] Kern der Entscheidung war die Frage, ob und inwieweit eine Verletzung des Verbots der Kollektivausweisung, Art. 4 4. Prot. EMRK und Art. 4 4. Prot. EMRK i.V.m. Art. 13 EMRK vorlag.
Zunächst musste sich die Kammer mit dem Argument der Regierung befassen, die der Ansicht war, dass Art. 4 4. Prot. EMRK nicht auf den vorliegenden Fall anzuwenden sei, da es sich nicht um eine Ausweisung i.S.v. Art. 4 4. Prot. EMRK handele und, selbst wenn eine Ausweisung angenommen werde, diese nicht „kollektiv“ gewesen sei, weil durch die Bf. keine Personengruppe vorliege, die durch spezifische und gemeinsame Eigenschaften charakterisiert werde.[35]
Ferner war es laut Kammer zweifelsfrei, dass die Bf, gegen ihren Willen weggebracht und nach Marokko zurückgeschickt wurden, da sie sich unter der andauernden und ausschließlichen Kontrolle der Guardia Civil befanden. Überdies stellte die Kammer unter Berufung auf das „Hirsi- Jamaa“-Urteils fest, dass, wenn das Abfangen auf hoher See in den Geltungsbereich von Art. 4 4. Prot. EMRK falle, dies ebenfalls für die Zurückweisung der Einreise in das Staatsgebiet in Bezug auf Personen gelten müsse, die irregulär in Spanien ankommen.[36] Daher lag eindeutig eine Ausweisung i.S.v. Art. 4 4. Prot. EMRK vor.[37] Bei der Frage, ob die vorliegende Ausweisung „kollektiv“ war oder nicht, bezog sich die Kammer darüber hinaus auf das „Conka gegen Belgien“-Urteil im Jahr 2002.[38] Im Fall von N.D. und N.T. wurden Abschiebemaßnahmen zur Verhinderung und Zurückdrängung angewendet, welche jedoch ohne vorangehende administrative oder gerichtliche Entscheidung getroffen wurden.26
Die Bf. wurden keinem Identifizierungsverfahren von Seiten der spanischen Behörden unterzogen, weswegen aus Sicht der Kammer keinerlei Zweifel am kollektiven Charakter der kritisierten Ausweisungen bestanden. Somit wies die Abschiebung der Bf. im Ergebnis einen kollektiven Charakter auf, der Art. 4 4. Prot. EMRK wiedersprach. Mithin kam es zu einer Verletzung dieser Bestimmung.27
2. Verletzung Art. 13 EMRK i.V.m. Art. 4 4. Prot. EMRK
Weiter stellte die Kammer fest, ob eine Verletzung des Art. 13 EMRK i.V.m. Art. 4 4. Prot. EMRK vorlag. Nach der Rüge der Bf. wurde es ihnen unmöglich gemacht, „ihre Identität nachzuweisen, ihre individuellen Umstände geltend zu machen, vor den spanischen Behörden ihre unmittelbare Abschiebung nach Marokko mit einem Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung anzufechten und die Gefahr von Misshandlung in diesem Staat berücksichtigen zu lassen“28. Da die Rüge „komplexe rechtliche und tatsächliche Fragen aufwarf“29, wurde sie von der Kammer für zulässig erklärt. In der Sache stellte die Kammer eine Verletzung von Art. 4 4. Prot. EMRK fest30, weswegen die erhobene Rüge der Bf. vertretbar i.S.v. Art. 13 EMRK war. Ferner genügte es den Anforderungen des Art. 13 EMRK, dass N.D. und N.T. konkret am Zugang zu einem nationalen Verfahren gehindert wurden.31 Die Kammer befand, dass den Bf. bei Betrachtung des unmittelbaren Charakters ihrer „ de-facto - Ausweisung“32 Rechtsmittel entzogen wurden und sie demnach keine aufmerksame und genaue Prüfung ihres Antrags erhielten, da sie ihre Rüge unter Art. 4 4. Prot. EMRK keiner zuständigen Behörde vorlegen konnten. Aus diesem Grunde erfolgte nach Ansicht der Kammer auch eine Verletzung von Art. 13 EMRK i.V.m. Art. 4 4. Prot. EMRK.[46]
3. Ergebnis der siebenköpfigen Kammer
Im Ergebnis sprach die Kammer beiden Bf. mit dem Urteil vom 03. Oktober 2017 eine Entschädigung nach Art. 41 EMRK in Höhe von 5.000 Euro für immateriellen Schaden zu.[47]
IV. Urteil vom 13. Februar 2020 des EGMR
Am 14. Dezember 2017 beantragte die sp. Regierung gem. Art. 43 EMRK die Verweisung des Falles an die Große Kammer. Am 29. Januar 2018 gab das Gremium der Großen Kammer diesem Antrag statt.[48]
1. Streichung von Beschwerden, Art. 37 EMRK
Zunächst hielt es der GH für erforderlich zu prüfen, ob das Verfahren notwendig sei und ob die Prüfung des Antrags gem. der in Art. 37 EMRK festgelegten Kriterien fortgesetzt werden könne.[49] Grund dafür war ein Verweis der sp. Regierung bzgl. des Fehlens fester Adressen der Bf. und des Mangels an diesbezüglichen Informationen der Vertreter der Bf.[50] Das Fehlen solcher Kontaktinformationen wird gemeinhin als Hinweis aufgefasst, dass der Antragsteller den Antrag gem. § 37 Abs. 1 EMRK nicht mehr weiterverfolgen will.[51]
Der GH ging dennoch davon aus, dass eine Kommunikation vorhanden war, da die in der Akte enthaltenen Vollmachten unterzeichnet wurden und Fingerabdrücke trugen. Zudem wurde festgestellt, dass die sp.
Regierung im vorliegenden Fall nicht beantragte, dass der Fall aus diesem Grund von der Liste gestrichen werden sollte.[52] Selbst wenn die Antragsteller im Ergebnis nicht erstreben würden, den Antrag weiterzuverfolgen, wurde vom GH festgestellt, dass er gem. Art. 37 Abs. 2 EMRK seine Prüfung dessen ungeachtet fortführen könnte, „wenn die Achtung der Menschenrechte, wie sie in dieser Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind, dies erfordert“[53].
Der GH bemerkte zusätzlich, dass der vorliegende Fall hinsichtlich der Anforderungen von Art. 4 4. Prot. EMRK und der Auslegung des Geltungsbereichs wichtige Fragen in Bezug auf Migranten aufwarf, die auf unbefugte Weise unter Ausnutzung ihrer großen Zahl versuchten, in einen Vertragsstaat einzureisen.[54]
Mithin war der GH der Ansicht, dass es durch die besonderen Umstände erforderlich war, die Prüfung des Antrags fortzusetzen, da die Achtung der Menschenrechte, wie sie in dieser Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind, dies gem. Art. 37 Abs. 2 EMRK erfordert.[55]
2. Vorfragen zur Feststellung des Sachverhaltes
Eingangs bestanden im vorliegenden Fall mehrere „preliminary objections“ der sp. Regierung, sogenannte „Vorläufige Einsprüche des Antragsgegners“[56].
a) Vorläufiger Einspruch der sp. Regierung gegen den fehlenden Opferstatus
Zunächst war fraglich, ob der GH von der Wahrhaftigkeit der Aussagen der Antragsteller bezüglich ihrer Beteiligung an der Stürmung der Zäune am 13. August 2014 überzeugt war, denn nach Ansicht der sp. Regierung hätten die Bf. nicht nachgewiesen, dass sie an der Erstürmung der Zäune beteiligt waren, obwohl die Beweislast bei den Bf. gelegen habe. Angesichts der vor Einreiseversuch erlittenen Verletzungen und Brüche hätte N.D. nicht über drei Zäune klettern können. N.T., welcher laut eigener Aussage angeblich unter Knieschmerzen litt, hatte ausgehend vom vorgelegten Videomaterial anscheinend Probleme mit der Ferse sowie einen gebrochenen Arm. Demzufolge focht die sp. Regierung das Urteil der Kammer an und argumentierte unter Berufung auf Art. 34 EMRK, dass die Anträge wegen des fehlenden Opferstatus für unzulässig erklärt werden sollten.33
Nach Feststellung des GH wurden die individuellen Umstände der Bf. und ihre Teilnahme an der Erstürmung der Zäune an der Landgrenze zwischen Spanien und Marokko am 13. August 2014, die zudem durch Videomaterial untermauert wurden, kohärent dargestellt.34 Mithin war der GH der Ansicht, dass die Bf. Beweise für ihre Beteiligung an der Erstürmung der Grenzzäune in Melilla vorgelegt hatten, die von der sp. Regierung nicht überzeugend widerlegt werden konnten. Daher wurde der Einwand der sp. Regierung wegen des fehlenden Opferstatus zurückgewiesen.35
b) Vorläufiger Einspruch der sp. Regierung wegen Unzuständigkeit gem. Art. 1 EMRK
Weiterhin bestritt die sp. Regierung, dass Spanien für die Ereignisse im Grenzgebiet zwischen dem Königreich Marokko und dem Königreich Spanien verantwortlich sei. Sie bestätigten zwar, dass die Zäune auf spanischem Gebiet errichtet wurden, jedoch stellten die Zäune eine „operative Grenze“ dar, die die unbefugte Einreise von Ausländern verhindern solle. Die Zuständigkeit Spaniens trete sodann erst in Kraft, wenn die Migranten alle drei Zäune und die Polizeigrenze passieren. Nach Aussage der sp. Regierung sei Spanien somit erst danach durch die Verpflichtung aus dem Übereinkommen zur Identifizierung der betroffenen Personen und durch die für Ausweisungsverfahren geltenden Verfahrensgarantien gebunden.[60] Indem die Bf. laut sp. Regierung nicht von sich aus vom inneren Zaun heruntergeklettert, sondern von den Beamten der Guardia Civil festgenommen und zurück nach Marokko eskortiert worden waren, hätten sie die Polizeigrenze noch nicht überschritten und seien somit nicht in die volle Zuständigkeit Spaniens gelangt.[61]
Demnach war fraglich, ob der spanische Staat unter Berufung auf außergewöhnliche Umstände den Umfang seiner Gerichtsbarkeit ändern oder verringern kann, indem er eine Ausnahme von der Gerichtsbarkeit geltend machte, die für den Teil seines Hoheitsgebiets gilt, in dem die fraglichen Ereignisse stattgefunden hatten. Normalweise wird davon ausgegangen, dass die Gerichtsbarkeit eines Staates in seinem gesamten Hoheitsgebiet gilt.[62] Vorliegend schloss die Rechtsprechung des GH territoriale Ausschlüsse aus.[63] Dies wurde dadurch bekräftigt, dass der Begriff der „Zuständigkeit“ i.S.v. Art. 1 EMRK so zu verstehen sei, „dass er die Bedeutung des Begriffs im Völkerrecht wiederspiegelt“36. Danach berechtige das Vorhandensein eines Zauns einen Staat nicht dazu, seine territoriale Zuständigkeit, die an der die Grenze bildenden Linie beginnt, einseitig auszuschließen, zu ändern oder zu beschränken. Die Konvention könne nicht selektiv durch eine künstliche Einschränkung des Umfangs der territorialen Zuständigkeit eines Staates auf lediglich Teile seines Hoheitsgebiets beschränkt werden.37 Mithin fielen die Ereignisse in die Zuständigkeit Spaniens i.S.v. Art. 1 EMRK. Sodann wurde der Einspruch Spaniens hinsichtlich der Unzuständigkeit vom Gericht abgewiesen.38
c) Vorläufiger Einspruch der sp. Regierung bzgl. des angeblichen Verlusts des Opferstatus der Bf. und Antrag der Regierung, den Fall aus diesem Grund von der Liste zu streichen
Grundsätzlich steht das Individualbeschwerderecht nur dem „Opfer“ einer behaupteten Konventionsverletzung zu.39 Demnach muss der Bf. „Opfer“ sein, er muss behaupten, selbst in seinem Konventionsrecht verletzt zu sein.40 Nach Ansicht der sp. Regierung hatten beide Bf. den Opferstatus aufgegeben, als es ihnen Ende 2014 gelang, nach Spanien einzureisen, ohne die ihnen zur Verfügung stehenden Verfahren voll auszuschöpfen. Dementsprechend sollten die Anträge nach Ansicht der Regierung aus der Liste der Fälle nach Art. 37 Nr. 1 b und c EMRK gestrichen werden.41 In einem Fall von mutmaßlicher Ausweisung, wie dem vorliegenden, konnte der GH Ereignisse, die nach einem gesonderten Grenzübertritt stattgefunden haben, nicht berücksichtigen. Folglich wurde das Ersuchen der sp. Regierung abgelehnt.42
d) Vorläufiger Einspruch der sp. Regierung gegen die „Nichtausschöpfung“ der innerstaatlichen Rechtsmittel
Darüber hinaus stehe es nach Ansicht der sp. Regierung jedem Ausländer offen, der nach Spanien einreisen möchte, Asyl oder internationalen Schutz im Allgemeinen zu beantragen, einen solchen Antrag an der offiziellen Grenzübergangsstelle Beni Enzar, bei der spanischen Botschaft in Rabat, dem spanischen Konsulat in Nador oder einer spanischen Botschaft oder einem spanischen Konsulat in einem anderen Land einzureichen.43 Insbesondere der erste Bf. hätte ein spezielles Arbeitsvisum gem. dem Rahmenabkommen über die Zusammenarbeit im Bereich der Einwanderung zwischen Spanien und Mali vom 23. Januar 2007 beantragen können. Weiter hätten die Bf. in dem Verfahren nach ihrer eventuellen Einreise nach Spanien im Jahr 2015 nicht nachgewiesen, dass Risiken bestanden, denen sie aufgrund ihrer Abschiebung nach Marokko oder in ihr Herkunftsland ausgesetzt wären. Dies jedoch bestritten die Bf., indem sie betonten, dass es für Personen aus Afrika südlich der Sahara44 schlicht unmöglich gewesen sei, Zugang zu den meisten von der Regierung genannten Orten zu erhalten.45 Nach Ansicht der Bf. bestand die einzige Möglichkeit nach Spanien einzureisen darin, die Zäune zu überwinden oder die Grenze mit Hilfe von Schmugglern irregulär zu passieren.46
Der GH wies den Einspruch gegen die „Nichtausschöpfung“ zurück47, da die Angelegenheiten nicht Gegenstand des vorliegenden Falles waren.48
[...]
1 Bieber/Kotzur, in: Die EU, §1, Rn. 1.
2 Parashu, in: EuR 324 (324).
3 Grabenwarter/Pabel, in: EMRK, § 21, Rn. 75.
4 https://de.pons.com/übersetzung/englisch-deutsch/push+back abgerufen am 21.02.2020 um 08:52:36 Uhr.
5 https://www.ecchr.eu/glossar/push-back/ abgerufen am 21.02.2020 um 08:56:23 Uhr.
6 https://www.ecchr.eu/glossar/push-back/ abgerufen am 21.02.2020 um 08:56:23 Uhr.
7 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 78.
8 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 78.
9 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 78.
10 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 78.
11 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 78.
12 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 78.
13EGMR, Urteil v. 03.10.2017 - 8675/15, 8697/15.
14EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15.
15https://www.lexas.de/afrika/melilla/index.aspx abgerufen am 18.02.2020 um 16:59:27.
16EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 15.
17 EGMR-Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 1.
18 Im Folgenden Bf.
19 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 2.
20 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 21.
21 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 22.
22 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 21.
23 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 23.
24 https://de.pons.com/übersetzung/spanisch-deutsch/guardia+civil abgerufen am 26.02.2020 um 8:18:53.
25 https://www.ecchr.eu/fileadmin/Fallbeschreibungen/Fallbeschreibung_Melilla_EG MR_DE_Jan2020.pdf abgerufen am 18.02.2020 um 11:46:42.
26 Kieber, in: NLMR 2017 475 (477), Rn. 107.
27 Kieber, in: NLMR 2017 475 (478), Rn. 108.
28 Kieber, in: NLMR 2017 475 (478), Rn. 109.
29 Kieber, in: NLMR 2017 475 (478), Rn. 113.
30 Kieber, in: NLMR 2017 475 (478), Rn. 117.
31 Kieber, in: NLMR 2017 475 (478), Rn. 120.
32 Kieber, in: NLMR 2017 475 (478), Rn. 121.
33 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 80.
34 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 86.
35 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 88.
36 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 109.
37 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 110.
38 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 111.
39 Peukert, in: EMRK-Kommentar, S. 467, Rn. 22.
40 Meyer-Ladewig, in: EMRK, Art. 34, Rn. 14.
41 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 112.
42 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 114.
43 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 115.
44 Auch: Personen aus Subsahara-Afrika; http://www.bmz.de/de/laender_regionen/subsahara/index.html abgerufen am 02.03.2020 um 09:36:17.
45 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 116.
46 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 117.
47 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 122.
48 EGMR, Urteil v. 13.02.2020 - 8675/15, 8697/15, Rn. 121.
- Quote paper
- Isabelle Tri (Author), 2020, Zur menschenrechtlichen Zulässigkeit von Push-Backs, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/1328342