[...] Das Thema „Direkte Demokratie“ beschäftigt Politiker und Wissenschaftler bereits seit langer
Zeit. Die Anfänge liegen schon in der Antike, genauer in der athenischen Demokratie im 5.
und 6. Jahrhundert vor Christus. Hier wurden alle wichtigen Entscheidungen von der
Volksversammlung aller voll berechtigten Bürger getroffen. In der Folgezeit setzten sich
Monarchien und der Absolutismus in Europa durch. Erst im 18. Jahrhundert entflammte eine
erneute Diskussion darüber, ob Souveränität repräsentierbar ist. Zu nennen sind hier vor allem
zwei verschiedene Ansichten: Einerseits die der Federalists, für die eine Herrschaft des
Volkes undenkbar war. Andererseits die des Jean-Jacques Rousseau, für den Souveränität
unübertragbar und unveräußerlich war. Allerdings konnte sich Rousseaus Ansatz nicht
durchsetzen, da er unverkennbare Schwächen hatte.
In der Bundesrepublik Deutschland sieht das Grundgesetz keine direktdemokratischen
Entscheidungsverfahren vor. Einzig in den Artikeln 29 und 146 werden dem Volk direkte
Einflussmöglichkeiten eingeräumt, wenn eine neue Verfassung in Kraft treten
beziehungsweise das Bundesgebiet neu gegliedert werden soll.
Das politische System der Bundesrepublik Deutschland hat sich seit 1949 als äußerst stabil
erwiesen. Bewusst wurden keine direktdemokratischen Elemente in die Verfassung
aufgenommen. Zu sehr waren das Scheitern der Weimarer Republik und dessen Folgen im
Bewusstsein der Menschen verankert. Heute allerdings besteht unter Wissenschaftlern der
Konsens, dass die Weimarer Republik nicht an Volksentscheiden oder anderen plebiszitären
Mitteln gescheitert ist. Deutlich wird die Angst, die mit direkter Demokratie 1949 verbunden
war, in folgenden Worten des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss: „Das Volksbegehren,
die Volksinitiative, in den übersehbaren Dingen mit einer staatsbürgerlichen Tradition
wohltätig, ist in der Zeit der Vermassung und Entwurzelung, in der großräumigen Demokratie
die Prämie für jeden Demagogen und die dauernde Erschütterung des mühsamen Ansehens,
worum sich die Gesetzgebungskörper, die vom Volk gewählt sind, noch werden bemühen
müssen, um es zu gewinnen.“ Erst in den sechziger Jahren entstanden erste Bewegungen,
beispielsweise Studentenbewegungen, die sich für die Einführung von direktdemokratischen Elementen einsetzten. Mit der Wende kam es schließlich in allen deutschen Bundesländern
zur Ausbildung und Verankerung solcher in den Verfassungen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Volksinitiative und Referendum – zur Theorie direkter Demokratie
2.1. Grundlagen
2.2. Das Quorum – notweniges Übel oder unnötiges Hindernis?
3. Direkte Demokratie im internationalen Vergleich
3.1. Direkte Demokratie in der Schweiz
3.2. Direkte Demokratie in Österreich
3.3. Fazit
4. Direkte Demokratie in den deutschen Bundesländern
4.1. Regelungen im Überblick
4.2. Die Praxis im Überblick
4.3. Direkte Demokratie in Sachsen
5. Volksentscheid ins Grundgesetz?
5.1. Was kann direkte Demokratie leisten und was nicht?
5.2. Die Systemverträglichkeit der direkten Demokratie mit dem Grundgesetz
5.3. Ein Beispiel: Der Gesetzentwurf der rot-grünen Bundesregierung vom 13.03.2002
6. Abschlussbetrachtung
7. Literaturverzeichnis
8. Anhang
Tabelle 1: Übersicht über Quoren und Fristen in den deutschen Bundesländern
1. Einleitung
Das Thema „Direkte Demokratie“ beschäftigt Politiker und Wissenschaftler bereits seit langer Zeit. Die Anfänge liegen schon in der Antike, genauer in der athenischen Demokratie im 5. und 6. Jahrhundert vor Christus. Hier wurden alle wichtigen Entscheidungen von der Volksversammlung aller voll berechtigten Bürger getroffen. In der Folgezeit setzten sich Monarchien und der Absolutismus in Europa durch. Erst im 18. Jahrhundert entflammte eine erneute Diskussion darüber, ob Souveränität repräsentierbar ist. Zu nennen sind hier vor allem zwei verschiedene Ansichten: Einerseits die der Federalists, für die eine Herrschaft des Volkes undenkbar war. Andererseits die des Jean-Jacques Rousseau, für den Souveränität unübertragbar und unveräußerlich war. Allerdings konnte sich Rousseaus Ansatz nicht durchsetzen, da er unverkennbare Schwächen hatte.[1]
In der Bundesrepublik Deutschland sieht das Grundgesetz keine direktdemokratischen Entscheidungsverfahren vor. Einzig in den Artikeln 29 und 146 werden dem Volk direkte Einflussmöglichkeiten eingeräumt, wenn eine neue Verfassung in Kraft treten beziehungsweise das Bundesgebiet neu gegliedert werden soll.[2]
Das politische System der Bundesrepublik Deutschland hat sich seit 1949 als äußerst stabil erwiesen. Bewusst wurden keine direktdemokratischen Elemente in die Verfassung aufgenommen. Zu sehr waren das Scheitern der Weimarer Republik und dessen Folgen im Bewusstsein der Menschen verankert. Heute allerdings besteht unter Wissenschaftlern der Konsens, dass die Weimarer Republik nicht an Volksentscheiden oder anderen plebiszitären Mitteln gescheitert ist. Deutlich wird die Angst, die mit direkter Demokratie 1949 verbunden war, in folgenden Worten des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss: „Das Volksbegehren, die Volksinitiative, in den übersehbaren Dingen mit einer staatsbürgerlichen Tradition wohltätig, ist in der Zeit der Vermassung und Entwurzelung, in der großräumigen Demokratie die Prämie für jeden Demagogen und die dauernde Erschütterung des mühsamen Ansehens, worum sich die Gesetzgebungskörper, die vom Volk gewählt sind, noch werden bemühen müssen, um es zu gewinnen.“[3] Erst in den sechziger Jahren entstanden erste Bewegungen, beispielsweise Studentenbewegungen, die sich für die Einführung von direktdemokratischen
Elementen einsetzten. Mit der Wende kam es schließlich in allen deutschen Bundesländern zur Ausbildung und Verankerung solcher in den Verfassungen. Der Bund geriet aber nicht nur von dieser Seite unter Druck. Auch von europäischer Seite werden die Forderungen nach mehr Beteiligungsmöglichkeiten für das Volk lauter.
In der Großen Koalition dürfte die Kompromissfindung in dieser Hinsicht schwierig werden. Zwar wurde im Koalitionsvertrag vereinbart, dass die Einführung direktdemokratischer Elemente auf Bundesebene geprüft wird,[4] in der Realität aber wird eine solche wohl an den Positionen der Parteien scheitern. Während die SPD für eine Einführung plebiszitärer Elemente ist, vertritt die Union genau die Gegenseite. Allerdings gibt es auch in der Union neue Entwicklungen. So zeigt sich die CSU direktdemokratischen Elementen gegenüber offener, was hauptsächlich damit zusammenhängen dürfte, dass sie diese als dominierende Partei in Bayern auch nicht zu fürchten braucht.[5]
Die Aktualität des Themas „direkte Demokratie“ hat mich veranlasst, dieses für mein Referat und die anschließende Hausarbeit zu wählen. Dabei soll vor allem die Frage im Mittelpunkt stehen, welche Chancen und Verbesserungsmöglichkeiten sich mit der Einführung plebiszitärer Elemente auf Bundesebene für das politische System der Bundesrepublik Deutschland ergeben würden. Auf der anderen Seite muss aber auch über Nachteile und Gefahren nachgedacht werden. Es stellt sich die Frage, auf welche Weise ein System direkter Demokratie für das gesamtdeutsche Gebiet ausgestaltet werden müsste.
Die Literatur zum Thema ist sehr vielfältig. Auf der einen Seite gibt es eine große Anzahl an Einführungswerken. Als erstes wäre hier ein von Peter Massing herausgegebener Sammelband mit dem Titel „Direkte Demokratie“[6] zu nennen. Darin sind Artikel zu allen wichtigen, das Thema betreffenden Teilbereichen enthalten. Von den politischen und wissenschaftlichen Kontroversen bis hin zu einer Überblicksdarstellung direkter Demokratie auf europäischer Ebene bietet dieser Band eine gute Übersicht. Ein spezielleres Einführungswerk zum Thema „Direkte Demokratie in den deutschen Ländern“[7] wurde von Andreas Kost herausgegeben. Darin finden sich Artikel zu jedem Bundesland, in denen die Verfahren und deren Anwendung beschrieben werden. Wenn man sich mit direkter Demokratie auf Kommunalebene befassen möchte, so ist ein in der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen erhältlicher Band, der ebenfalls von Andreas Kost in Zusammenarbeit mit Hans- Georg Wehling herausgegeben wurde, sehr hilfreich. Er trägt den Titel „Kommunalpolitik in den deutschen Ländern“[8]. Hier findet man ähnlich wie im vorher genannten Band die Kommunalpolitik der einzelnen Länder in Aufsätzen beschrieben, die jeweils einen Abschnitt enthalten, der sich mit direktdemokratischen Einflussmöglichkeiten beschäftigt. Die Aktualität der Diskussion zeigt sich aber vor allem in der Zeitschriftenliteratur. An dieser Stelle sollen nur zwei Artikel exemplarisch genannt werden. Zum einen ein Artikel von Otmar Jung, der den Titel „Volksentscheid ins Grundgesetz?“[9] trägt. Zum anderen der Artikel „ Volksentscheid – Schweizer Marotte oder Frischzellenkur für die Demokratie?“[10] von Paul Tiefenbach. Beide beschäftigen sich mit dem Für und Wider direkter Demokratie auf Bundesebene auf Grundlage der Auseinandersetzung mit einem Gesetzesvorschlag der rot- grünen Regierungskoalition im Jahr 2002. Das Spektrum der Artikel in den Fachzeitschriften reicht von solchen praktischen Auseinanderstetzungen über Untersuchungen der Systemverträglichkeit direktdemokratischer Elemente in Deutschland bis hin zu konkreten Lösungsvorschlägen für das oft diskutierte Quorenproblem, welches in Kapitel 2.3 näher beleuchtet wird.
Die vorliegende Arbeit möchte dieses breite Spektrum der wissenschaftlichen Diskussion aufnehmen und einen zusammenfassenden Überblick bieten. Sie ist dazu in vier größere Abschnitte untergliedert. Im ersten Teil steht die theoretische Betrachtung plebiszitärer Elemente im Mittelpunkt, wodurch zunächst eine Verständnisgrundlage für die folgenden Kapitel geschaffen werden soll. Im zweiten Abschnitt folgt eine internationale Betrachtung an konkreten Beispielen innerhalb und außerhalb Europas. Hierbei muss natürlich auf die Schweiz eingegangen werden. Als dritter Aspekt schließt sich eine kritische Auseinandersetzung mit direkter Demokratie in den deutschen Bundesländern an, wobei hier besonders der Schwerpunkt auf Sachsen gelegt werden soll. Darüber hinaus soll aber auch das Problem zu hoher Quoren im gesamtdeutschen Vergleich und deren Auswirkung auf die Praxis direktdemokratischer Verfahren betrachtet werden. Abschließend werden anhand von Gesetzesentwürfen und der einschlägigen Literatur Chancen und Gefahren direkter Demokratie auf Bundesebene analysiert .
2. Volksinitiative und Referendum – zur Theorie direkter Demokratie
2.1. Grundlagen
„Direkte Demokratie... [ist] die unmittelbare Herrschaft des Volkes“[11] Direkte Demokratie meint zunächst jede Form unmittelbarer Einwirkung durch das Volk auf eine bestimmte Entscheidung. Unterschieden werden muss hier zwischen Sach- und Personalentscheidungen. Ein in Deutschland verbreitetes Beispiel für eine Personalentscheidung ist die Direktwahl des Bürgermeisters. Als Sachvoten hingegen bezeichnet man Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide über bestimmte Sachfragen.[12]
Will man das Thema direkte Demokratie theoretisch betrachten, so kommt man um die Betrachtung eines wichtigen Theoretikers nicht umhin: Jean-Jacques Rousseau. Für ihn stand fest, dass „die Souveränität, da sie nichts anderes ist als die Ausübung des Gemeinwillens, niemals veräußert werden kann und daß der Souverän, der nichts anderes ist als ein Gesamtwesen, nur durch sich selbst vertreten werden kann ...“[13]. Seine These der Identität von Regierenden und Regierten kann noch heute als Grundlage für eine Diskussion über das Thema plebiszitäre Demokratie genutzt werden. Allerdings ist diese These ein rein theoretisches Konstrukt und in der Praxis nie umgesetzt worden. Desweiteren ist in den heutigen großflächigen Staaten eine solche Form der Regierung schon aus organisatorischen Gründen nicht umsetzbar. Noch heute wird aber häufig davon ausgegangen, dass zwischen Freiheit und Repräsentation ein Gegensatz besteht[14], eine Ansicht, die von „radikalen“ Anhängern direkter Demokratie wohl am stärksten vertreten wird. De facto aber haben sich repräsentative Systeme in den westlichen Demokratien als sehr beständig und leistungsfähig erwiesen. Selbst das Schweizer System, dass eine Referendumsdemokratie darstellt und als das Musterbeispiel für die Umsetzung direktdemokratischer Elemente gilt, „kommt ohne eine gehörige Beimengung repräsentativer Elemente keineswegs aus.“[15] In der heutigen komplexen Politik sind diese schlicht nicht mehr wegzudenken. Eine Umsetzung des Konzeptes von Rousseau ist nicht möglich, wohl aber eine Anreicherung repräsentativer Demokratien durch plebiszitäre Elemente. Nicht nur, dass den Bürgern dadurch neue Wege der direkten Einflussnahme ermöglicht werden, es entsteht so auch gleichzeitig ein neues Kontrollinstrument im politischen Prozess. An dieser Stelle stellt sich nun die Frage, welche Arten von plebiszitären Elementen in der Theorie und Praxis vorhanden sind.
Der Volksentscheid kann zunächst folgendermaßen differenziert werden. Erstens gibt es das obligatorische Referendum, bei dem dieses obligatorisch von der Verfassung vorgeschrieben ist. Zweitens gibt es die Möglichkeit für die Regierung, einen Volksentscheid zu initiieren. Dies wird in der Fachsprache als Plebiszit bezeichnet. Drittens existiert auch die Möglichkeit, einen Entscheid durch eine Gruppe von Bürgern herbeizuführen, das sogenannte Volksbegehren oder fakultatives Referendum.[16] Dieses stellt das wohl stärkste Mittel direkter Demokratie dar, da das Volk hier selbst den Gesetzgebungsprozess in Gang setzen kann und somit Politik „von unten“ betreibt.
Um die Unterscheidung zu konkretisieren kann man hier einem vierstufigen Differenzierungsmodell folgen. Die erste Stufe bildet dabei die Frage, ob die Ergebnisse von Volksabstimmungen rechtlich verbindend sind. Konkret ist diesbezüglich zu unterscheiden, ob diese Ergebnisse vom Gesetzgeber umgesetzt werden müssen oder lediglich konsultativen Charakter haben, wie etwa eine einfache Volksbefragung. In der zweiten Stufe wird danach gefragt, wer die Berechtigung besitzt, einen Volksentscheid auszulösen. Die drei Varianten sind im vorherigen Absatz aufgeführt. An dritter Stelle folgt nun die Frage nach den Gegenständen von Initiativen und Referenden. Zum einen ist es möglich, ein bereits beschlossenes Gesetz zur Abstimmung zu stellen. Dieses Verfahren wird Zustimmungs-referendum genannt, wenn es von der Verfassung vorgeschrieben ist oder von der Regierung initiiert wird. In der Schweiz existiert die Möglichkeit für das Volk, ein solches Verfahren auszulösen. Dieses nennt man Vetoinitiative. Zum anderen besteht die Möglichkeit, den Entscheidungsgegenstand im plebiszitären Verfahren selbst festzulegen. Dies wird als Entscheidungsreferendum oder positive Initiative bezeichnet. In dieser Stufe stellt sich gleichzeitig die Frage nach einer inhaltlichen Trennung der Entscheidungsgegenstände. Hierbei gibt es auf der einen Seite Abstimmungen über Personen oder Körperschaften. In den USA existiert zum Beispiel der sogenannte „recall“, die Amtsenthebung durch einen Volksentscheid. Andererseits ist auch eine Parlamentsauflösung durch einen solchen denkbar. Auf der anderen Seite existieren die Sachplebiszite, die grob in drei Kategorien zu unterteilen sind: Territorialentscheide, Verfassungsänderungen und einfache Gesetze. Die vierte Stufe befasst sich schließlich mit der konkreteren Ausgestaltung der direktdemokratischen Verfahren. Dieser Aspekt ist von enormer Wichtigkeit, da hier ein entscheidender Grundstein für die Erfolgsaussichten von Initiativen gelegt wird. So muss zum Beispiel nach Beschränkungen bei den Abstimmungsgegenständen, bei Beteiligungs- und Zustimmungsquoren, sowie bei Fristen und anderen Bestimmungen gefragt werden.[17]
2.2. Das Quorum – notwendiges Übel oder unnötiges Hindernis?
Nach diesem kurzen Überblick über vorhandene Verfahrensmöglichkeiten soll nun ein weiterer, für die Durchführung von direktdemokratischen Verfahren immanent wichtiger Fakt behandelt werden, das Quorum. Grundsätzlich zu unterscheiden gilt es hier zwischen Beteiligungs- und Zustimmungsquoren. Ein Beteiligungsquorum schreibt vor, wie viel Prozent aller Stimmberechtigten an einer Abstimmung mindestens teilnehmen müssen, damit dieser rechtskräftig ist. Ein Zustimmungsquorum gibt entsprechend vor, wie hoch die Zustimmung sein muss. Ein Beteiligungsquorum von 50 Prozent würde also bedeuten, dass mindestens die Hälfte der Stimmberechtigten an der Abstimmung teilnehmen muss, ein Zustimmungsquorum würde analog bedeuten, dass mindestens die Hälfte aller Stimmberechtigten zustimmen muss.[18] An diesem Zahlenbeispiel zeigt sich die große Bedeutung der Höhe und Art der Quoren. Bereits ein Beteiligungsquorum von 50 Prozent scheint in einer Abstimmung nahezu unüberwindbar. Vergleicht man dies mit der Beteiligung bei Wahlen, so wird es noch deutlicher. Dazu kommt bei Plebisziten noch die Tatsache, dass sich häufig nicht alle Bevölkerungsgruppen unmittelbar mit dem Abstimmungsgegenstand identifizieren können beziehungsweise von diesem direkt berührt werden. Noch deutlicher wird die Bedeutung von Quoren, wenn man sich das Beispiel eines 50 prozentigen Zustimmungsquorums vor Augen hält. Dies setzt voraus, dass die Beteiligung bei über 50 Prozent liegen muss, es sei denn alle Abstimmenden wären einverstanden. In der Weimarer Republik scheiterten beide zustande gekommenen Volksabstimmungen an solch einem hohen Zustimmungsquorum.[19] Im Gegensatz zu den deutschen Landesverfassungen, auf deren Regelungen später genauer eingegangen wird, existieren solche in der Schweiz und den amerikanischen Bundesstaaten nicht.[20] Welche Argumente sprechen nun aber für beziehungsweise gegen Quoren? Dafür sprechen hauptsächlich zwei Argumente: Zum einen der Anspruch eines Volksentscheids, dem in erster Linie die Bedeutung zukommt, den Willen der Mehrheit der Bevölkerung wieder zu spiegeln. Einem Volksentscheid, dem nur eine Minderheit zugestimmt hat, wollen die Anhänger von Quoren keinesfalls kollektive Verbindlichkeit zugestehen. Daran anschließend auch das zweite Argument: Ohne Quoren bestünde die Gefahr, dass gut organisierte und finanziell potente Minderheiten Partikularinteressen durchsetzen.[21]
Gegen Quoren spricht vor allem, dass sie faktisch mehr Erfolg verhindern, als dies aufgrund ihrer gewünschten Leistungen nötig ist. Bei einem Beteiligungsquorum kann gar der Fall auftreten, dass allein eine Erhöhung der Anzahl der Nein-Stimmen den Erfolg des Volksentscheids gebracht hätte – eine politische Absurdität. Desweiteren ermöglichen Quoren auch den politischen Entscheidungsträgern Abstimmungen bewusst zu manipulieren, beispielsweise durch die Festlegung eines ungünstigen Termins.[22] Insgesamt sichern Quoren laut den Gegnern weder die erwünschte Beteiligung noch die hinreichende Mehrheit – vielmehr bewirken sie Passivität durch einfaches Zu-Hause-Bleiben.[23]
Deutlich wird an dieser Stelle das Dilemma der Quoren. Auf der einen Seite bestünde ohne Quoren die Gefahr, dass eine Mehrheit ihre Interessen durchsetzt, ohne dass diese in genügendem Maße dem Willen der Gesamtbevölkerung entsprechen. Andererseits verhindern bestehende Quoren oft in nicht adäquater Weise den Erfolg eines Volksentscheids. Es stellt sich nun die Frage, auf welche Weise man denn die Gefahren ausschalten kann ohne durch überhöhte Forderungen Volksentscheide von vornherein zum Scheitern zu verurteilen?
Thorsten Hüller bringt hierzu einen sehr durchdachten und praktikablen Vorschlag, das sogenannte anti-proportionale Quorum. Hierzu schlägt er vor, dass die Zielgröße der Ab- und Zustimmenden nicht von vornherein festgelegt wird, sondern vom Maß an Zustimmung abhängt. Im Einzelnen bedeutet dies folgendes: Je höher die prozentuale Zustimmung, desto niedriger das Beteiligungsquorum.[24] Er benennt des Weiteren auch konkrete Zahlenbeispiele, bei denen er vorschlägt, sich an den Wahlbeteiligungen der jeweiligen Ebene zu orientieren, auf der die Volksentscheide stattfinden. Für Entscheide auf Bundesebene würde dies seiner Ansicht nach folgendes bedeuten: Der Höchstwert würde ungefähr zwischen 60 und 70 Prozent Beteiligung liegen und der niedrigste etwa bei 20 Prozent. Was bedeutet dies nun konkret in einer Abstimmung? Sollten alle Abstimmenden mit Ja stimmen, müssten sich nur 20 Prozent der Stimmberechtigten beteiligen. Wäre der Anteil von Ja- und Nein-Stimmen annähernd gleich, müsste nicht nur eine absolute Mehrheit zustande kommen, sondern gleichzeitig auch eine Mindestbeteiligung von 60 Prozent erreicht werden.[25] Was könnte nun ein solches Verfahren leisten? Zunächst werden die Grenzen der starren Quoren aufgebrochen. Der Anreiz sich an der Abstimmung zu beteiligen steigt, denn auch Nein-Stimmen beeinflussen durch eine Veränderung der Beteiligung, und somit in diesem System auch des nötigen Zustimmungsquorums, das Ergebnis beziehungsweise die Erfolgsaussichten. Das im vorigen Abschnitt angesprochene Problem der Passivität scheint lösbar. Auch Absurditäten wie das Scheitern eines Antrages trotz hoher Beteiligung und Zustimmung einer Mehrheit an einem zu hohen Zustimmungsquorum würden der Vergangenheit angehören. Natürlich wird es auch hier wieder Einwände geben. Einige werden das Fehlen fester Prozentsätze beklagen. Die glühenden Verfechter direkter Demokratie und damit Gegner von Quoren werden ein solches Quorum wohl höchstens als leichte Verbesserung ansehen, denn ihr Ziel dürfte die Abschaffung jeglicher Quoren in direktdemokratischen Verfahren sein. Dies hat auch Thorsten Hüller erkannt und erklärt abschließend: „Selbstverständlich löst dieser Vorschlag nicht alle Probleme direkter Demokratie.“[26]
[...]
[1] Vgl. SPETH, Rudolf: Jean-Jacques Rousseau, in: MASSING, Peter/ BREIT, Gotthard (Hrsg.): Demokratie-Theorien: Von der Antike bis zur Gegenwart. Schwalbach/Ts. 2002. S. 118-124. Hier S. 123.
[2] Vgl. BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG (Hrsg.): Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Bonn 2006. Hier S. 23f. und S. 90.
[3] HARTLEB, Florian/ JESSE, Eckhard: Direkte Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland: Positionen und Kontroversen, in: MASSING, Peter u.a. (Hrsg.): Direkte Demokratie. Schwalbach/ Ts. 2005. S. 9-23. Hier S. 10.
[4] Vgl. Gemeinsam für Deutschland. Mit Mut und Menschlichkeit. Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD. Hier S. 128. URL: http://koalitionsvertrag.spd.de/servlet/PB/show/1645854/111105_Koalitionsvertrag.pdf. Zugriff am 28.05.08.
[5] Vgl. HARTLEB/ JESSE: Direkte Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. S. 12f.
[6] MASSING, Peter u.a. (Hrsg.): Direkte Demokratie. Schwalbach/ Ts. 2005.
[7] KOST, Andreas (Hrsg.): Direkte Demokratie in den deutschen Ländern. Eine Einführung. Wiesbaden 2005.
[8] KOST, Andreas/ WEHLING, Hans-Georg: Kommunalpolitik in den deutschen Ländern. Eine Einführung. Wiesbaden 2003.
[9] JUNG, Ottmar: Volksentscheid ins Grundgesetz? Die politische Auseinandersetzung um ein rot-grünes Reformprojekt 1998-2002, in: Zeitschrift für Politik. H. 3. Jg. 49 (2002). S.26 –289.
[10] TIEFENBACH, Paul: Volksentscheid – Schweizer Marotte oder Frischzellenkur für die Demokratie?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik. H. 3. Jg. 47(2002). S. 315-324.
[11] NOHLEN, Dieter/SCHULTZE, Rainer-Olaf (Hrsg.): Lexikon der Politikwissenschaft: Theorien, Methoden, Begriffe. Band 1. München 2004. Hier S. 153.
[12] Vgl. KOST, Andreas: Direkte Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland – eine Einführung, in: KOST, Andreas (Hrsg.): Direkte Demokratie in den deutschen Ländern. Eine Einführung. Wiesbaden 2005. S. 7-13. Hier S. 8.
[13] ROUSSEAU, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Hrsg. Von Hans BROCKARD. Stuttgart 1991. S. 27.
[14] Vgl. OBERREUTER, Heinrich: Direkte Demokratie und die repräsentative Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Politik. H. 3. Jg. 49 (2002). S. 290-305. Hier S. 290.
[15] Ebda. S. 291.
[16] Vgl. HARTLEB/ JESSE: Direkte Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. S. 14.
[17] Zum vierstufigen Differenzierungsmodell vgl. DECKER, Frank: Die Systemverträglichkeit der direkten Demokratie: Dargestellt an der Diskussion um die Einführung von plebiszitären Elementen in das Grundgesetz, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft. H. 4. Jg. 15 (2005). S. 1103-1147. Hier S. 1114ff.
[18] Vgl. HÜLLER, Thorsten: Herrschaft des Quorums? Ein Vorschlag zur Lösung eines Problems direkter Demokratie, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen. H. 4. Jg. 37 (2006). S. 823-833. Hier S. 829.
[19] Vgl. HARTLEB/ JESSE: Direkte Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. S. 15.
[20] Vgl. HÜLLER: Herrschaft des Quorums? S. 829.
[21] Vgl. HÜLLER: Herrschaft des Quorums? S. 829.
[22] Vgl. Ebda. S. 830.
[23] Vgl. JUNG, Ottmar: Direkte Demokratie als Herausforderung der Repräsentativen Demokratie: Eine Auseinandersetzung mit Werner j. Patzelt, in: German Studies Review. No. 2. Vol. 25 (2002). S.285-304. Hier S. 296.
[24] Vgl. HÜLLER: Herrschaft des Quorums? S. 831.
[25] Vgl. HÜLLER: Herrschaft des Quorums? S. 832.
[26] Ebda.
- Arbeit zitieren
- Nico Mehlhorn (Autor:in), 2008, Volksentscheid und Referendum, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/132251